Wie lebt es sich im Schatten eines Giganten, eines menschenabweisenden Monolithen, der nach Lust und Laune viele von denen tötet, die mit ihm spielen, der über die Häupter der Menschen ragt und ihnen so zeigt, wie klein und unbedeutend sie sind? Die Eiger-Nordwand, eine 1.800 Meter hohe steingewordene Verheißung für diejenigen, die todessehnsüchtig nach der größten Leistung ihres Lebens streben, ein Witwenmacher, ein Archetyp für die Hybris des Menschen: Viele Geschichten hat diese Route geschrieben, und mehr als 70 davon endeten mit dem Tod der Protagonisten. Die aus dem Kanton Bern stammenden AARA haben nun nach dem Studium gotischer Horrorliteratur den Blick gehoben und setzen dem Berg vor ihrer Nase nun ein musikalisches Denkmal.
Für „Eiger“ erfinden sich AARA keineswegs neu, sondern stülpen dem neuen Konzept ihren Signature-Sound über, stilistisch eher subtil angepasst, das wird schon am Intro deutlich: „Die das wilde Wetter fängt“ startet mit einem atmosphärischen Intro von Jonny Warren (MODERN RITES), eben wie es sich im Zuge der „Melmoth“-Trilogie bewährte, und fährt sich nach anfänglicher Raserei vor einem letzten Finale komplett runter, bevor es episch und sehr melodiös endet. Auch „Senkrechte Welten“ atmet den Größenwahn des Heldentums mit seinen ausufernden Harmonien, erschöpft sich, tritt zurück von der Raserei, wie die bittere Einsicht, irgendwo am Ende der sogenannten Mordwand nicht mehr weiterzukommen – das Ziel in greifbarer Nähe, doch unerreichbar, bis der Fall in die Tiefe einem letzten Rausch gleichkommt.
„Eiger“ bietet mehr Dynamik in Komposition, Performance und Produktion: AARA legen Wert auf ein ausgewogenes Klangbild.
Ebenso solche Bilder erzeugen AARA mit „Eiger“ eine knappe Stunde lang, auch ausgehend von Michael Handts unglaublich tollem, realistischen Artwork. Somit ist das sechste Album der Band auch ihr bisher längstes, und dank des neuerlichen Fokus auf Dynamik, erschöpft es sich auch kaum. Mit dem vermutlich besten Stück des Albums „Felsensang“ kreieren AARA Drama, Stolz und Trauer, und bleiben trotz vieler verschiedener Abzweigungen nachvollziehbar. Die Emotionalität der Musik ist hier mit am stärksten spürbar, doch wird in „Der Wahnsinn dort im Abgrund“ wieder spürbar, was bei AARA seit jeher am meisten unter die Haut geht: Raserei, überzogen mit zwingenden Melodien und intensiven Vocals. Ausgerechnet diese Direktheit wirkt im letzten Drittel des Albums („Zurück zur roten Fluh“, „Grausig ist der Blick“) manchmal etwas erzwungen, weshalb die Band hier stellenweise droht, ihr Publikum zu verlieren. Doch vielleicht ist es auch der Höhenrausch, den das Album in dieser gegen Ende zu verdeutlichen versucht.
Verglichen mit der schroffen, psychedelischen Welt von PAYSAGE D’HIVERs „Die Berge“ und UNGFELLs roher Unberechenbarkeit in „De Ghörnt“, wählen AARA einen prosaischen Ansatz: „Eiger“ bietet musikalisches Storytelling auf hohem Niveau, etwas das die Band spätestens seit „En Ergô Einai“ perfekt beherrscht. Doch die acht Songs von „Eiger“ könnten auch einem ganz anderen Konzept dienen, die Verbindung zur Bergwelt muss man bewusst suchen, aller Windsamples zum Trotz. Das Vereinnahmen des Konzepts in Musik schaffen PAYSAGE D’HIVER allein schon mit Vocals, die wie Felsenstürze klingen, und genau solche Details sind es, die AARA gebraucht hätten. Dass AARAs Sängerin Fluss nicht von Chören oder ähnlichen Stilmitteln unterstützt wird, lässt die Gesangsseite von „Eiger“ im direkten Vergleich etwas blass wirken. Immerhin: Bergs vielschichtige Kompositionen haben sich dahingehend geändert, als dass die akustischen Gitarren einen wunderbaren Kontrast zur furiosen Seite der Musik ergeben und gleichen hier einiges aus.
Eine eher prosaische Verbindung zur Bergwelt: AARA begreifen sich auf „Eiger“ als Storyteller und erzeugen nur wenige Klänge, die die Bergwelt im inneren Auge entstehen lassen.
Vielleicht gibt es keine Gelegenheit, sich grundsätzlich neu zu definieren, bei dem Tempo, das AARA nach wie vor an den Tag legen, vielleicht ist es auch nicht nötig. Selbst wenn dieses Mal mehr als anderthalb Jahre Zeit vergangen ist, die Sturm-und-Drang-Zeit der Band ist noch nicht vorüber. Ja, „Eiger“ ist ein dynamischeres Album, verglichen mit den vorherigen Arbeiten von AARA – das liegt zum Teil an Markus Stocks Mix, der weniger brachial und etwas rauer ist, was gerade beim Drumsound ein großer Vorteil ist und vor allem die Toms haben einen tollen Hall. Aber auch die Songs dürfen mehr atmen und drängen nicht nur rasend in eine Richtung, wie es gerade bei „Triade II: Hemera“ an die Grenze zur Erschöpfung ausgereizt wurde.
Dass das Songwriting zwischendurch nicht immer mitreißen kann und die simple, intensive Raserei nicht immer mit den vorherigen Alben mithält, sortiert „Eiger“ hinter „Triade III: Nyx“ und „En Ergô Einai“ ein, aller Verbesserungen zum Trotz. Doch das ist Jammern auf hohem Niveau: AARA präsentieren sich auch 2024 in sehr guter Verfassung und machen einen deutlichen Unterschied zum Rest einer Szene, der Maskerade wichtiger als Inhalt ist. Somit ist es sicherlich nicht die Ehrfurcht, im Schatten eines solchen Giganten zu leben, der AARA davon abhält in Stereotype abzugleiten, eher ist es ein Quell der Inspiration vor der eigenen Haustüre. Da kann man nur sagen: Mission geglückt – wieder einmal.
Wertung: 6 von 8 Gipfelkreuze
VÖ: 6. Dezember 2024
Spielzeit: 55:27
Line-Up:
Berg – Guitars, Bass, Samples
Fluss – Vocals, Lyrics
J. – Drums
Label: Debemur Morti Productions
AARA „Eiger“ Tracklist:
1. Die das wilde Wetter fängt
2. Senkrechte Welten (Official Audio bei YouTube)
3. Felsensang (Offical Audio bei YouTube)
4. Todesbiwak
5. Der Wahnsinn dort im Abgrund
6. Zurück zur roten Fluh
7. Grausig ist der Blick
8. Alptraum
Mehr im Netz:
https://aara.bandcamp.com
https://www.facebook.com/profile.php?id=100051054499947
https://www.instagram.com/aara_art/