Jaresrückblick 2024 Grafik

Jahresrückblick 2024 von Mirko Wenig

Der Marathonläufer unter den Rezensenten: Kurz halten kommt für Mirko auch bei seinem Jahresrückblick nicht infrage.

Huh, was für ein Jahr! Neuer Job, ich schreibe immer noch hauptberuflich als Journalist über Versicherungen und Finanzen, nun für den Branchenführer (VersicherungsJournal). Viel gereist, in Barcelona ließ mich die LUFTHANSA festhängen, wegen eines Streikes, den es am Zielflughafen gar nicht gab – und ein Rechtsstreit, nachdem mir die Fluglinie die hohen Mehrkosten nicht ersetzen wollte. Kein Date, keine Liebe – dabei lief es in den letzten Jahren eigentlich ganz gut. Mehr als 50 Konzerte besucht, so viel für Vinyl ausgegeben wie nie zuvor – und mich oft darüber geärgert, wie oft superteure Platten in viel zu engen Innenhüllen geliefert werden, sodass sie schon beim Auspacken verschmutzt und verfärbt sind (ich fordere eine EU-Verordnung für gefütterte Inlays!). Zu viele Zigaretten geraucht. Oft aufgewühlt gewesen. Und fassungslos beobachtet, wie rechtsextreme Narrative immer mehr in die bürgerliche Mitte rücken. Nun wundere ich mich, welche Alben ich zu den besten des Jahres 2024 gekürt habe. Ja, es ist auch ein bisschen Metal dabei – den ich immer noch vor allem komplex und/oder wild und räudig mag, mit wenigen Ausnahmen (Ja, ich liebe AOR und Glam). Fuck Wacken-Event-Metal! Ich will auf die Fresse. Here we go again:

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Die Jahrgangsbeste: BETH GIBBONS: Lives Outgrown

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Keine Superlative! Die Musik von BETH GIBBONS als ‚überlebensgroß‘ zu bezeichnen, wäre falsch, denn sie ist keine Musikerin der großen, ausgestellten Gesten. Und doch haben die Alben, an denen sie mitwirkte, für viele Menschen genau diesen Stellenwert: Sie sind Überlebensmittel – Platten, die in Lebenskrisen und wichtigen Momenten begleiten, die den Schmerz tragen und zugleich Trost spenden. Wenn Kunst und Kultur das sind, was den Menschen ausmacht, dann wird sie nirgendwo so greifbar und menschlich wie hier.

Fast zehn Jahre arbeitete die bald 60-jährige PORTISHEAD-Sängerin an ‚Lives Outgrown‘, ihrem ersten ‚richtigen‘ Soloalbum, nachdem ihre letzte Veröffentlichung schon lange zurückliegt. Auf die Frage, warum sie gerade jetzt mit dem Album zurückkehrt, antwortete sie lakonisch: ‚People started dying.‘ Es ist folglich ein Album über Verluste und Abschiede – aber nicht nur. Es geht auch um Themen wie Liebe und Mutterschaft. Trotz aller Schwermut ist es ein Album, das das Leben feiert.

Und was für ein Album das ist! Akustisch, ja, doch das könnte täuschen. Denn trotz der emotionalen Wucht – verstärkt durch ihre sanfte, rauchige Stimme, die sich wie ein sanfter Kuss anfühlt – ist es auch ein Album für Audiophile. Gemeinsam mit dem ehemaligen Talk-Talk-Schlagzeuger Lee Harris und Produzent James Ford hat Gibbons einen einzigartigen Klangkosmos erschaffen, teilweise mit selbst gebauten Instrumenten.

Hier wird mit Löffeln geklopft und auf Erbsendosen geschlagen, hier treffen opulente, aber dezente Streicher und Bläser auf Mundharmonika, Flöte, Klarinette und Harmonium. Celli und andere Instrumente fließen über Akustikgitarren und Bässe, die mal zart gezupft sind, dann wieder sich hölzern winden. Doch nie ist das ein Selbstzweck, nie ein misslungenes Experiment – vielmehr dient es immer dazu, Panoramen emotionaler Tiefe zu entfalten, zu berühren und musikalische Bilder von großer emotionaler Kraft zu schaffen.

Und ja: Das ist eine sehr lebendige Platte. Auch wenn die Backgroundchöre manchmal aufsteigen wie Gespenster aus einem Nebel, wenn die Instrumente scharren, knarren und kratzen, wenn die Streicher manchmal sich erheben, als wäre man Teil eines 50er-Jahre-Breitwandfilms: da sind auch dissonante Momente. Nicht aggressiv dazwischen grätschend, sondern harmonische Spannungen erzeugend: unterschwellig, subtil, doch manchmal auch beunruhigend. Ein Kinderchor in „Floating On A Moment“, wie ein fernes Echo, singt “We are all going nowhere“. Leicht nervöse, ungerade Takte in „Reaching Out“. Drückende Bläser wie aus dem Balkan-Folk, arabeske Harmonien. Alles hier ist enorm verdichtet und vielschichtig, und es ist zuweilen unfassbar. Unfassbar gut und gnadenlos menschlich.

Das allerbeste Metal-Album: BLOOD INCANTATION: Absolut Elsewhere

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Was bleibt noch zu diesem Album zu schreiben? Ich habe es bereits ausführlich für VAMPSTER rezensiert, und alles ist gesagt. Ihr findet es in jedem Poll und auf jeder Bestenliste des Jahres – auch jenseits des Metalgenres. Der Anteil derjenigen, die es nicht als Instant-Klassiker werten, liegt bei vielleicht 0,0001 Prozent.

Und die Lobeshymnen sind verdient. „Absolute Elsewhere“ ist Aufbruch und Rückbesinnung zugleich. BLOOD INCANTATION haben ihr Raumschiff schneller auf dem Mars landen lassen als Elon Musk, und das Überraschende: Sie flogen mit einem Chevrolet Camaro und einer Dodge Viper – nicht mit einer Rakete.

Ihre Zutaten? So etabliert wie eine Blechdose. Death Metal der frühen 90er, Prog und Krautrock der 70er. Es ist die Art, wie sie Bewährtes zusammenführen, die einen neuen Sound und Ansatz entstehen lässt. Es ist auch ihr Enthusiasmus, ihre Liebe zu allerlei Obskurem, auch die liebenswerte Nerdigkeit des barttragenden Quartetts.

Es ist die Präzision, mit der die Blastbeats über einen hereinbrechen. Es sind die erinnerungswürdigen Riffs, geschult an Genregrößen wie DEATH und PESTILENCE. Es ist vor allem auch die dunkle, bedrohliche Atmosphäre, die diese Platte auszeichnet.

Es ist die Art, wie die brachiale Raserei mit Momenten ungebrochener Schönheit überblendet wird – diese transzendenten Momente, in denen sich Raum und Zeit auflösen, das Zerfließende und Pulsierende, das Raum greift und in weichen Farben oszilliert. Ekstase und Rausch – und wie sie diese Momente sich zu eigen machen und in die Logik des Death Metal überführen. Sie brauchen keine satanischen Rituale und Splattertexte, um den Hörer in fieberhafte Alpträume zu schicken. Die Frage „Was ist der Mensch und wo ist sein Platz im Universum?“ ist bedrohlich genug – vielleicht sogar weit bedrohlicher.

Es ist das Selbstbewusstsein, mit dem sie einfach mal für einen Monat das legendäre Hansa Studio in Berlin aufsuchen, um dort eine Death-Metal-Platte aufzunehmen – das Studio, in dem auch schon DAVID BOWIE und DEPECHE MODE wirkten. Es sind die komplexen, präzise durchdachten Strukturen, die einer Partitur gleichen – ohne das Spontane auszusparen. Es ist die Freude am Erzählen, dieses futuristische Science-Fiction-Element, das dem Genre „Cosmic Death Metal“ seit jeher innewohnt. Es sind Mellotron, Orgel und Keyboards, die sich immer wieder stimmig ins Gesamtbild einfügen.

Es ist die Dynamik der Songs – die Abfolge von lauten und leisen Momenten, harmonischen und disharmonischen, von cineastischen, metaphysischen und kulturübergreifenden Elementen wie arabischen Skalen und Gongs. Es ist die Souveränität, mit der sie ihre komplexen Motive und verschiedenen musikalischen Erzählstränge zusammenführen. Es ist, als würden Ingmar Bergman und Quentin Tarantino gemeinsam einen Film drehen – mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle.

Bestes Heatwave-Album: SACRED SKIN: Born in Fire

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Gibt es die Genrebezeichnung „Heatwave“ schon, als Alternative zu „Coldwave“? Ich möchte diesen Begriff hiermit ins Spiel bringen. Wo europäische Darkpop-Acts oft mit unterkühlten, minimalistischen Synthesizern klirrend kalte Klänge erzeugen, setzen ihnen SACRED SKIN den glühend-roten Nachthimmel von Los Angeles entgegen.

In der kalifornischen Küstenmetropole ist die 2021 gegründete Band um Brian DaMert und Brian Tarney angesiedelt. Ihre Mischung aus Post-Punk, New Wave und Synthpop fühlt sich an wie eine Cabriofahrt entlang der Küste, vorbei an blinkenden Lichtern, während Wassersportler auf den Wellen reiten und Mädchen ihren Paloma schlürfen. Die fiebrig-warme Luft brennt auf der Haut, das Hemd weit geöffnet, die Lederjacke darüber eigentlich zu warm. Es ist der Sound der Verheißung, geboren aus dem Rotlicht verborgener Clubs und dem nächtlichen Sog eines vom Partyvolk bevölkerten Boulevards.

Ob diese Musik originell ist und sie sich als Erneuerer des GOTH-Genres empfehlen, darüber kann man herrlich streiten. Die Musik entsteht zum Großteil an Synthesizern. Das Equipment ist analog und vintage, wobei sie eher Synths und Modulatoren aus der Mitte der 80er verwenden (EMU Emulator II), die einen bombastischen, warmen und detailreichen Klang erlauben. Genau diese Detailtreue und das Gespür für feine Nuancen heben die Band hervor. Es mag sich um eine 80er-Retro-Platte handeln, doch sie trägt eine eigene Handschrift.

Obwohl die Songs von Synthesizern dominiert werden, besitzen viele einen rockigen, treibenden Charakter. Das liegt auch an einem weiteren Aspekt der Musik: der Gitarre. Sie kommt oft zum Einsatz, und ich lege mich fest: Das Gitarrenspiel ist hier wichtiger als bei Goth-Metal-Bands wie CEMETERY SKYLINE. Wo diese mit ihren Riffs einfach ein hartes Rhythmusfundament legen, kommen die Gitarren bei SACRED SKIN mit melodischem Feingespür daher. Sie sind melodietragendes Element, und einfache, aber feine Soli reichern die Melodien an. Im Grunde müsste man jede Goth-Metal-Band verpflichten, dieses Album anzuhören, damit sie ihre Gitarrensounds weniger belanglos gestalten.

Und dann wären da die Kompositionen. Diese könnten beim ersten Hören ein wenig unscheinbar wirken. Aber hat man sich erst einmal reingehört, dann merkt man, welche Panoramen hier auf große Leinwand geworfen werden. Mit einem einfachen Trick: Die Kalifornier orientieren sich stilistisch an Bands wie SIMPLE MINDS, DURAN DURAN, ULTRAVOX und den frühen ALPHAVILLE – an den großflächigen, epischen Pop-Entwürfen, die mit dickem Pinsel aufgetragen werden. Wir hatten das Thema bereits bei BLOOD INCANTATION, auch wenn diese natürlich auf ganz anderen Wegen unterwegs sind: oft entsteht Neues durch die kluge Variation von Altbewährtem.

Songs wie „Waiting“, das großartige „Runaway“ (die Gitarre!) und das funkig groovende „Call It Off“ sind schwüle Sommerträume, rhythmisch treibend mit moduliertem Bass – ideal für exaltiertes Tanzen in schummerigen Clubs, aber auch im Winter ein Genuss. Wallende Synthies bewegen sich elegant durch den Raum, begleitet von einer leicht monotonen, aber angenehm warmen und sinnlichen Singstimme. Dazu brodelnde Spannung, Großstadt-Romantik und viel Sehnsucht. Dass dieses Album auch mein vokuhilatragendes AOR-Herz umarmt und in einer „Triangle Amoureux“ für sich beansprucht, brauche ich nicht extra zu betonen. Das hier ist eine Hitzewelle, Baby! Ich liebe dieses Album.

Bestes Herzland-Album: WESLEY DEAN: Music From Crazy Hearts

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Angesichts der neuen Präsidentschaft von Donald Trump und eines wildgewordenen Elon Musk hilft es wenig, sich in Antiamerikanismus zu stürzen. Klar, mein kultureller Geschmack ist stark von amerikanischen Einflüssen geprägt – von Musik und Filmen. Vielleicht habe ich mehr von Eddie Murphy in Beverly Hills Cop gelernt als von vielen meiner Lehrer. Daher sollte man in jenen Ecken der USA schauen, die noch das Herz bewahren – in die rauen Hinterhöfe, die bunte Vielfalt der Metropolen, in die Musik, in die zergerbten Gesichter der Menschen. Aber Moment mal! Die amerikanischste Platte des Jahres kommt von WESLEY DEAN, einem Australier, der mittlerweile in den USA lebt. Ein überraschender Twist.

WESLEY DEAN ist ein Mann mit langen Haaren und einem wallenden roten Bart, der gerne einen Cowboyhut trägt und ein leicht zerlebtes Gesicht hat. In einem Film wäre er die perfekte Besetzung für einen Redneck oder Outlaw aus den Südstaaten. 2008 gewann er die Staffel von „Australien Idol“, versuchte sich damals an gefälligem Indie-Rock, wobei seine frühen Alben eher wenig herausstechen. Heute lebt er in Nashville, was bereits auf einen starken Country-Einschlag in seiner Musik hindeutet. Letzten Sommer packte Dean seine Familie in ein Wohnmobil, begleitet von einem Regisseur und einer Kamerafrau, reiste über 5.000 Meilen von Nashville nach L.A. und spielte zahlreiche spontane Shows. Ergebnis ist ein abendfüllender Dokumentarfilm mit dem Titel „Crazy Hearts: The Documentary“.

Auf das jüngste Album Music From Crazy Hearts bin ich eher zufällig gestoßen – die klassische Geschichte von einem unbekannten Song in einer Playlist. Sofort war ich geflasht. DEAN gräbt tief im American Songbook, findet Gospel, Country, Blues und klassischen Heartland-Rock à la BRUCE SPRINGSTEEN oder JOHN MELLENCAMP. Es ist ein Album mit viel Herz und Seele, aufgenommen mit einer Vielzahl von Musikern im berühmten RCA Studio A in Nashville, wo unzählige Countrystars ihre Klassiker eingespielt haben, auch ELVIS PRESLEY. Ein großer, holzvertäfelter Saal, ausgestattet mit Vintage-Equipment, und die Musiker spielen live im selben Raum.

Schon der erste Song „Mercy“ ist einer der allerbesten des Jahres. Eine Boom-Tschak-Gitarre wie bei JOHNNY CASH setzt ein, darüber schwelgerische Streicher, Deans tiefe und raspelige Stimme – und ein Gospelchor (The McCrary Sisters). Es ist ein bittersüßer Spiritual, der dich im richtigen Moment zu packen weiß: in der überfüllten Bahn, auf einem verschneiten Feldweg. Ich habe es ausprobiert: Du strahlst innerlich, die Chöre streicheln jede Wunde und jede Stirnfalte. Das ist groß! Ein Hauch Erlösung liegt in der Luft.

Es folgt „Burn this House“, ein Song, der sowohl Seele als auch Wut und Zweifel in sich trägt. Ein stampfender Country-Rocker mit Mundharmonika, der an TOM PETTY auf Country erinnert. „Dies ist für die klinisch Verrückten, die Träumer und Liebenden, die vor dem Schmerz fliehen, für die Leugner und Überlebenden und die Helden ohne Umhänge, für eine ganze Generation, die nach Veränderung schreit“, singt Dean und ruft im Refrain zu einem flammenden Inferno auf: „Lasst uns das Haus niederbrennen“.

„Blood Brothers“ ist eine melancholische Ballade mit gezupfter Gitarre – eine leicht nostalgische Erinnerung an einen Jugendfreund. Wenn man dem Album etwas vorwerfen kann, dann vielleicht, dass es ein paar zu viele ruhige Momente gibt. Dennoch eine schöne Nummer, DEAN zeigt sein Talent fürs Geschichtenerzählen: „Sie waren nur Kinder, die den Fußball herumkickten,/
sie tauschten schmutzige Zeitschriften mit klebrigen Seiten./ Es gab nichts mehr zu tun in ihrer Stadt,/ als sich in Maschinen und an verbotenen Orten zu verstecken.“ Sie waren Blutsbrüder – doch jetzt ist das Band zerschnitten, und sie haben seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt.

„Als sie älter wurden, wurde die Wahrheit klar:
Dass die Probleme der Erwachsenen die Jungen töten,
und das Blut versiegt,
und das Blut versiegt,
und das Blut versiegt.“

Dass er auch anders kann, zeigt DEAN mit „Gunslinger“. Es ist eine vor Kraft strotzende Hardrock-Hymne, tief in Staub getaucht, mit einem Slide-artigen Riff und sensationell gesungen. Hier sehen und hören wir wieder, was vielen heutigen Acts, die unter dem Banner „Hard Rock“ unterwegs sind, fehlt: der Schmutz, der Blues, die Überzeugungskraft, die relevanten Themen. Ein Song über Waffengewalt, „Ein toter Mann geht, bevor sein Leben beginnt/ Seit sein Daddy ihm beigebracht hat, wie man mit einer Waffe schießt/ Jetzt reitet er ohne Sattel ins Ungewisse“ – der junge Mensch, der sich derart aufmacht, wird nach einer Gewalttat am selben Strick gehängt wie sein Vater. Ein tödlicher Kreislauf aus Gewalt und Vergeltung.

Der Titelsong ist erneut eine Ballade mit weiblichem Background-Gesang, „Tennessee Road“ erneut ein Spiritual: diesmal etwas flotter und weniger erhaben als der Opener. In „Doorways“ gibt DEAN den Crooner über sanften Streichern, White Soul trifft Yacht Rock, eine elegante Engtanznummer mit groovigem Flair. Der Musiker bewegt sich durch die Genres, wie er sich mit dem Wohnwagen durch die USA bewegt hat: Memphis, New Orleans, Austin, El Paso. Aus jeder Stadt nimmt er ein Stück Musiktradition mit.

Und dann gibt es da noch „Southern Man“, vielleicht DIE Southern-Rock-Hymne des Jahres. Er sei nur ein gewöhnlicher Mann, singt DEAN, ein Mann des Volkes, aber es gibt Dinge, die er nicht verstehe: noch immer brennen die Kruzifixe, noch immer Gewalt, er stehe auf Land, das der indigenen Bevölkerung gestohlen wurde. Ein kraftvolles Statement – auch gegen den Extremismus amerikanischer Prägung. Bedauerlich ist, dass es dieses Album in physischer Form nur als teuren US-Import gibt.

Bestes Countryrock-Album: SARAH SHOOK & THE DISARMERS: Revelations

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Bleiben wir gleich mal im Genre: Diese Platte gehört hier unbedingt rein. Stellt Euch einfach mal vor, TAYLOR SWIFT hätte eine große, tätowierte, queere Schwester, die irgendwo in einer Kleinstadt in North Carolina lebt und nicht mit dem Privatjet, sondern mit dem Kleinbus um die Welt reist. Country ist für sie auch eine Frage der Haltung, sie mischt ihn lieber mit Punk und schroffem Indie als mit poppigen Melodien. Sie singt und grummelt mit tiefer Stimme, immer ein bisschen neben der Spur, streut gerne mal ein paar Schimpfwörter ein, die Alben sind kein kalkuliertes Großprojekt, sondern klingen wie locker aus der Hüfte gestolpert. Ihr leicht genervter Gesichtsausdruck sieht immer ein wenig aus, als würde sie dir mit ihrer Gitarre eine überbraten wollen, aber Ihr liebt sie, weil sie bei aller schlechten Laune immer die besten Sprüche auf der Lippe und das größte Herz hat. Würde Mildred Hayes aus „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ eine Country-Band gründen, es klänge genau so.

Voilà, herzlich willkommen im Universum von SARAH SHOOK! Im Grunde ist mit meiner Einführung schon alles gesagt. Seit die 39-Jährige mit ihrem Debüt „Sidelong“ von 2015 holprig und laut röhrend aus der Garage gefahren kam, haben die Slacker und Outsider, die Nerds und versponnenen Visionäre, die Liebenden und Verlorenen, die Backpacker und Heupuppenbauer und Herumtreiber ein neues Idol – und eigentlich sollte ich hier die weibliche und genderneutrale Form berücksichtigen, denn SHOOK ist ein Idol vor allem auch für Frauen und die queere Community.

Sie kaut auf den Silben wie auf einem Kaugummi, mit einer tiefen und sonoren Stimme, die manchmal ein bisschen müde klingt, dann wieder angriffslustig und herausfordernd, dann wieder umarmend: keine andere Sängerin kann in einem Song so schön bitter und leicht verächtlich lachen, als sei sie von einem doofen Spruch überrascht worden oder habe eine plötzliche, leicht schmerzhafte Einsicht gehabt. Wenn es eine Kunst ist, einen Ton genau NICHT zu treffen, dann hat sie diesen Gesangsstil perfektioniert (NEIL YOUNG lässt grüßen!).

„Revelations“ ist ihre bisher reifste Platte. Sie kombiniert den punkig-rauen Sound der Anfangstage mit ausgefeilten Arrangements. Ihre Begleitband, die Disharmers, setzt dabei auf viel Slide- und Pedal-Steel-Gitarre, flotte Rhythmen und einen nostalgisch verquarzten Basssound. Es ist auch die Haltung einer Band wie DINOSAUR JR., der da im Klang mitschwingt: dieses Widerborstige, Ungeschliffene, Indiehafte.

Der eröffnende Titelsong ist ein angenehm melancholischer Indierocker, der vom Unterwegssein und Touren mit begrenzten finanziellen Mitteln erzählt – und von zahllosen Nebenjobs. „Hey Baby, ich komme kaum über den Tag,/ Breche mir den Rücken für ein kümmerliches Gehalt/ Es gibt kein Entrinnen:/ Ich habe genug davon, mir selbst im Weg zu stehen“, singt sie. SHOOK ist eine großartige Geschichtenerzählerin, die oft mit einfachen Worten auskommt – dabei mischen sich in ihre Erzählungen oft nicht nur ein Hauch von Bitterkeit, sondern auch Humor und Sarkasmus.

„You Don’t Get to Tell Me“ ist ein herrlich verknarztes, sich schroff windendes Stück Country Rock, das sich anfühlt wie ein Schritt auf eine knarzende Treppe. Die Sängerin dehnt die Silben rotzig-nonchalant. Er ist adressiert an jene, die stets glauben, besser über dich Bescheid zu wissen als du selbst. „Du musst mir nicht erklären, wie ich mich fühle/ Ich bin den ganzen Weg hierher allein gegangen“, singt SHOOK. „Ich habe mein Leben auf der Schneide eines Messers gebaut/ Als niemand daran glaubte, dass ich es könnte/ Ich bin in der Lage und bereit, einen Stuhl an den Tisch zu ziehen/ Und wir brauchen keinen Gott, um uns gegenseitig Gutes zu tun.

Den Country Punk packt die Frau mit dem markanten Pony im flott vorwärtsstolpernden „Motherfucker!“ aus – eine dieser charmant-aggressiven „Ich brate dir eine über!“-Nummern, die sie wie keine zweite beherrscht. Hier ist auch wieder dieses herrlich dreckige und verbitterte Lachen zu hören, während die Pedal Steel über schnellen Rhythmen heult und jault.

Verletzlichkeit und Toughheit liegen bei SHOOK oft dicht beieinander: Der Song ist an einen älteren Mann adressiert, der sich ihr als Freund andiente, wobei Grausamkeiten angedeutet werden. „Ich habe es satt, dich zu Tode zu hassen/ Du nimmst es dir unverschämt, Blutsauger,/ Du wirst kriegen, was du verdienst/ Motherfucker/ Motherfucker/ Motherfucker!“ Aber im rauen Klima von North Carolina wird man auch selbst zur Täterin, und Shook lässt keinen Zweifel daran, wo sie landen wird: „Wenn ich sterbe und die Hölle aufreiße/ Wird das ein Anblick sein, den man gesehen haben muss/ Und ich werde gerne für immer brennen,/ wenn du sechs Kreise tiefer bist als ich.

Nach der flott aus den Boxen krachenden Heuboden-Tanznummer „Dogbane“, in der SHOOK die abgelutschte Floskel „Lebe jeden Tag, als ob es dein letzter wäre“ angenehm verdreht („Die ganze Scheiße bringt uns dazu, zu leben, als würden wir alle endlich sterben“), zeigt das anschließende „Nightingale“, dass sie auch romantisch-schöne Rockballaden beherrscht, mit tingelnden Gitarren und großem Refrain. Das selbstbestimmte Schicksal trifft auf stimmungsvolle Naturbeobachtung:

Draußen unter dieser samtigen Weite
Gespiegelt auf einem ruhigen schwarzen Meer
Diese Glocke, die ich mit meinen eigenen Händen gebaut habe
Wird meine Totenglocke sein.
Den Schleier zurückziehen
Stille im Tal
Zum Siegen bestimmt
Nachtigall

„Backsliders“ hat einen Refrain, auf den DOLLY PARTON stolz wäre, ganz klassisch im Country verwurzelt ist und Zeugnis einer schwierigen, queeren Liebe. „Jane Doe“ ist der abgehangenste Song des Jahres. SARAH SHOOK ist vieles: wilde Freundin, Seelentrösterin, Ringpartnerin, Milieubeobachterin, tätowierte Country-Erneuerin, Punkerin, queere Botschafterin. Und sie hätte ebenso viel Beachtung verdient wie ZACH BRYAN, der mit einem ähnlichen Konzept zum Superstar aufstieg und große Arenen füllt: Fraglich ist allerdings, ob sie das überhaupt will (siehe Absatz 1).

Bestes Hip Hop/ Postrock-Panoptikum: 070 SHAKE: Petrichor

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Jedes Jahr ist es für mich Ehrensache, Euch das beste Album im Bereich Hip-Hop/Rap vorzustellen – und nein, ich mache das nicht, um Euch zu ärgern. Ich mache es, weil ich überzeugt bin, dass Ihr diese Alben hören solltet. Ein Trap-Rapper wie DENZEL CURRY (die Beats, Baby! Die Beats!) ist der Quintessenz von Metal näher als jede beliebige 80s-Metal-Epigonenband. In Sachen Härte, Attitüde und Ideenreichtum sticht er sie mühelos aus. Es ist so, und ich dulde hier keine Widerrede – da bin ich auch mal ein kleiner Richard David Precht.

Danielle Balbuena macht es mir einfach, denn was die 27-Jährige alias 070 Shake mit ihrem jüngsten Album Petrichor abliefert, ist sowieso kaum noch unter „Hip-Hop“ zu fassen. Es ist ein funkelnder Rohdiamant, stilistisch kaum greifbar – ein musikalisches Abenteuer, für das jede Schublade zu klein ist. Progressive Pop, Post-Rock-Indietronic, vielleicht auch Grunge (ja, der Sound ist mitunter verhallt und knarzig), Soul, Gospel, Pop und RnB – und mit Sicherheit eine der aufregendsten Platten, die dieses Portal in diesem Jahr besprochen hat (Sorry, liebe Kollegen, da spricht der Überzeugungstäter in mir.)

Ihre Musik zeichnet sich seit jeher durch eine große emotionale Tiefe aus – durch die Art, wie sie biographische Erzählungen in abstrakte Klanggemälde fasst. Themen wie innere Konflikte und Selbstfindung prägen ihre Songs, während sie mit ihrer tiefen Stimme mühelos zwischen Sprechgesang und Melodie wechselt.

„Petrichor“ bezeichnet den Geruch der Erde nach dem Regen. Das Cover zeigt ein Ohr und ein Auge, ausgebleicht wie ein altes Foto. Thematisch geht es im weitesten Sinne um Erinnerung und Selbstvergewisserung, um die sich wandelnden Nuancen einer Emotion, um Standortbestimmung. Und immer um Liebe – auch die Liebe zu sich selbst.

Das Album eröffnet mit einem hingetupften Piano, darüber ihre Stimme, zunächst schüchtern und leicht resigniert: „Es tut mir leid wegen der Nachrichten,/ Ich bin aus der Liebe gefallen,/ Verliere nicht deine Kontrolle“, singt sie. Der Song wird bestimmter, die elektronischen Rhythmen erinnern an ein verfremdetes Schlagzeug, eine quäkige Gitarre kommt hinzu, gesampelte Kinderstimmen. „Wir sollten nach Sin City fahren,/ Ich rede nicht von Las Vegas,/ Baby, du solltest mit mir kommen,/ Es ist mir egal, wie sehr wir uns verirren.“ Auf dem Gaspedal des Wagens „dem Wasser nachjagen, dem Mondlicht nachjagen“ – die verblassende Liebe mündet in einen Aufbruch.

„Elephant“ ist einer der eingängigeren Songs der Platte, legt tanzbare Synthie-Pop-Beats der Sorte DEPECHE MODE unter eine Gitarre, die zwischen Western und Postpunk pendelt, inklusive kurzem Gitarrensolo. Der Text spiegelt eine toxische Beziehung wider: „2 Uhr nachmittags, ich denke nach, kann’s einfach nicht vergessen,/ Gestern Nacht wurde es ruppig, wir müssen darüber sprechen./ Ich kann dein Elefant sein, ich vergesse nichts,/ Bin ich wieder in deinem Bann – Hölle oder Himmelsgeschenk?

Die Produktion ist ziemlich breitwandig – Streicher und Chöre sind oft zu hören, dazu eine Vielfalt an Sounds und Effekten: In „Pieces of You“ wird eine Stimme zum Rhythmusinstrument verfremdet, im flehenden Prechorus erklingt ein Piano, bis im Refrain schwelgerische, sich auftürmende Streicher übernehmen. „Du bist mein Spiegelbild,/ Wie könnte ich dich zerbrechen?/ Was würde ich tun/ mit all diesen Stücken von dir in meiner Hand?“, singt Balbuena, bei der oft in der Schwebe bleibt, ob sie einen geliebten Menschen anspricht – oder die Rede an sich selbst adressiert.

Der Platte wird in manchen Rezensionen vorgeworfen, dass sie zu viel will: zu viel Pomp, zu viele Chöre und klitschige Synthesizer, zu viele Ideen auf engem Raum – und auch zu viel Gefühl und Überwältigung. Es ist eine Platte, die polarisiert. Es gibt begeisterte Fürsprecher, die „Petrichor“ mit „The Wall“ von PINK FLOYD vergleichen – und Verrisse wie den im britischen Guardian, der nur zwei von fünf Punkten vergab. Die Nerdfibel Pitchfork machte allen Ernstes zu viel Stadionrock auf dem Album aus, auch wegen der wiederkehrenden Gitarrensoli.

Es sollte klar sein, auf welcher Seite ich stehe, in mir wühlt dieses Panoptikum aufgebrochener Emotionen sehr. Da pulst „Lungs“ mit harten, klaustrophobischen Industrial-Beats über einer gespenstig entfremdeten Stimme und Neo-Soul-Momenten. Da eröffnet das wunderschöne „Into Your Garden“ mit einem virtuosen Piano, Arpeggio, eine Seelenstreichler-Melodie. „Ich falle in dein Herz, Babe/ Es gibt nichts, was die Schwerkraft tun könnte/ Wir werden wie Wellen brechen/ Es wird mich zurück zu dir ziehen“. Melodrama bietet Balbuena öfter als manch Softie-Barde, aber in der gebrochenen, aberwitzigen Version. Und wo bitte konnte man zuletzt Courtney Love, die frühere HOLE-Sängerin und Ex-Gattin von Kurt Cobain, in einer sehnsuchtsvollen, fast niederschmetternden Rock-Ballade hören? Richtig, in „Song to the Siren“. Ich habe Grunge nicht umsonst als Referenz genannt.

„What’s Wrong With Me“ legt eine gebrochene, von Selbstzweifeln durchzogene Sprechstimme über fiebrige Synthie-Rhythmen, im Refrain erklingt wieder ein Rockriff, das keine Stadionrock-Band besser hinbekommen hätte. „Never Let Us Fade“ packt Gospelchöre aus, ein Kammerorchester – und ist fast eine klassische Neosoul-Nummer, auch eine Popballade. Alles aufzuzählen, was hier auf dem Album passiert, bringt jeden Rezensenten an seine Grenzen. Auf einem Konzertfoto ist Balbuena in einem BLACK FLAG-Shirt zu sehen: und können Musikerinnen mit BLACK FLAG-Shirt irren?

Bestes Kuttenträger-Album: SABÏRE: Jätt

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Was ist das bitte für ein Album? Mit „The Doorway“ reißt ein bedrohliches und unheilvolles Intro wortwörtlich das Tor zur Hölle auf. Was dann passiert? Ein roher, unkontrollierter Sog packt einen bei den Haaren (sofern man noch welche hat) und zerrt einen mit, gnadenlos, bis man am Boden liegt, überzogen mit einer dicken Schicht aus Blut und Staub, aus Hall und Reverb – ein dröhnendes Inferno. Aber genau das ist der beste Underground-Stoff, den der Metal in diesem Jahr aus den Kellergewölben und Katakomben hervorgekratzt hat.

70 gnadenlos lange Minuten dauert das Debüt der kanadisch-australischen Kauze um Scarlett Monastyrski. Und obwohl die Songs fast immer straight forward sind, roh und voller punkiger Rotzigkeit, ist keine verdammte Sekunde zu viel. Okay, mit einer Ausnahme: Die Ballade „The Shadow in My Heart“ ist katastrophal gesungen und grandios gescheitert. Aber selbst das passt ganz wunderbar ins Gesamtkonzept. Sie nennen ihren Sound „Acid Metal“: Weil er wie Säure auf der Haut brennt.

Ansonsten ist das hier der Real Deal. Die rohe Energie des New Wave of Heavy Metal? Check! Die Catchyness des L.A.-Metal? Check. Schwarze Braukunst aus dem Hexenkessel? Check. Hinzu tue man einen Hauch Melancholie, eine große Portion Punk, etwas Sadomaso-Verspieltheit und dröhnenden Lo-Fi-Sound. Fertig ist die beste Heavy-Metal-Platte des Jahres.

Egal, ob die Australokanadier einem giftige Speedgranaten ins Gesicht peitschen („Pure fucking Hell!“, „Rip. Rip, KILL!!!“ – kein Witz, mit drei Ausrufezeichen), ob sie im Hair Metal der 80er graben und supercatchy Refrains mit Schmackes abfeuern („Ice Cold Lust“) oder ob sie einen Glam-Song à la SLADE kredenzen („Toxic Man“) – das hier hat, Jawoll, Stil und Sexappeal. Das funktioniert mit Kutte, Lederkluft und Federboa.

Wenn man einen Soundtrack für hedonistische Nächte bräuchte, Songs für großstädtische Exzesse und wilde Hinterzimmerferkeleien: Das hier wäre die richtige Wahl. Und natürlich ist das retro, viel 80s-Vibe: es hat aber nichts, wirklich gar nichts Abgestandenes oder Gestriges an sich. Es klingt nicht nach abgestandenem Bier im Festzelt, sondern eher nach Fetischclub in der Metropole. Es flimmert und funkelt wie die Leuchtreklamen in einer postapokalyptischen Stadt.

Die Gitarren riffraffen und schroffeln simple, aber unschlagbar effiziente Knallerriffs, die Stimme ist schrill, angriffslustig und voller Attitüde, und das Schlagzeug so: Rumms, Bumms, Schepper. Hier wird nichts unnötig glattgebügelt. Keine weichgespülten und pathetisch aufgeblasenen Fernsehgarten-Metal-Momente. Das klingt schroff, ungehobelt und hat genau das richtige Maß an seltsamer Kauzigkeit, das Metal braucht, um noch gefährlich und rebellisch zu klingen – falls das überhaupt noch möglich ist. Danke, dass es so etwas noch gibt. Und wer das nicht versteht, geht eben zu ALL FOR METAL oder POWERWOLF.

Bestes räudiges Street-Thrash-Melo-Album: KRYPTOS: Decimator

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Sind wir gerade beim „Real Deal“ und Ausrufezeichen? Geilo! Die Indier KRYPTOS haben ihren Stil, den sie auch bereits seit 24 Jahren zocken, auf dem jüngsten Werk „Decimator“ verfeinert und bieten nun Serenaden, Études und Kontrapunkttechnik von höchster Eleganz und Präzision. Quatsch, ich scherze! Natürlich gibt es auch hier wieder straighte Songs zu hören, die mit einer grenzenlos räudigen Attitüde, aber feinster Gitarrenarbeit direkt in das Stahlherz eines jeden True Metallers treffen.

Es wäre ein Fehler, KRYPTOS als eine weitere Oldschool-Thrash-Band abzutun. Denn das sind sie definitiv nicht. Zum einen sind da die Gitarren, die absolute Edelkost servieren – Dubai-Schokolade mit Platinbelag, wenn man so will. Eine Mischung aus doppelläufigen Maiden-Harmonien, US-Metal und sogar SCORPIONS-Anklängen (hört euch nur „Turn up the Heat“ an!). Diese treffen auf schnörkellose, treibende Songs mit Gangshouts und einer unwiderstehlichen Straßenattitüde.

Und dann ist da noch die Stimme von Sänger Ganesh Krishnaswamy: Er bellt, keift und spuckt am Limit, mit Charisma und einer gehörigen Portion Bosheit. Ganz ehrlich: Ich verstehe nicht, weshalb manche Rezensenten diesen Gesang als Schwachpunkt der Band abtun. Eine Mischung aus Schmier, Paul Baloff und Cronos – DESTRUCTION trifft auf EXODUS und VENOM. Mich holt das komplett ab. Giftig und kraftvoll verleiht seine Stimme den Songs eine pechschwarze Grundierung, die KRYPTOS sogar in die Nähe von Blackened-Thrash-Bands wie MIDNIGHT oder TOXIC HOLOCAUST rückt. Ich wiederhole es immer wieder gerne: Wenn Metal nicht auch einen Hauch Gefährlichkeit bietet und Reibungsfläche, dann sitzen wir ganz schnell unter einem Sonnenschirm im ZDF Fernsehgarten.

Die Texte sparen natürlich kein Klischee aus: Sie schreien geradezu danach, fast jede Zeile mit mehreren Ausrufezeichen zu versehen. „Bedrohliche Macht!!! Donnernder Stahl!!! Sicherer Tod!!! KEINE GNADE!!! Ein tödlicher Schlag!!!“ Herrje! Und es geht so weiter: „Zerschmetternder Tod!!! Durchbohrt den Himmel!!! Vernichte!!! Atomarer Opfergang!!!“ Ogottogott!

Das ist Musik, die förmlich danach verlangt, in kleinen, unbehaglichen Clubs gespielt zu werden, während die Menge völlig ausrastet – Stage Diving, Bier über die Köpfe und eine donnernde, übersteuerte Anlage. Das ist Metal, der sich dem Erlebnistourismus à la „Wacken-Kreuzfahrt“ ein Stück weit verweigert (Ja, ich weiß: Sie haben 2017 auf Wacken gespielt). Eine rohe, aber geschliffene Produktion erledigt den Rest.

Tracks wie das supereingängige „Fall to the Spectre’s Gaze“ mit seiner flotten Strophe und den herrlich knarzenden Gitarren, das mit einem sensationellen Riff ausgestattete „Pathfinder“ oder der straßenraue Stampfer „Turn up the Heat“ sind wieder allerfeinster, ungeschliffener Stahl in der Schnittmenge von Thrash und klassischem Metal. Dreh diese Musik im Cabrio auf oder brettere nietenbehangen mit dem BMX die Allee entlang – die Reifen setzen den Asphalt in Brand, und es sprühen Funken.

Bestes Postpunk-Album: DESPERATE JOURNALIST: No Hero

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Bereits seit fünf Alben liefern die Londoner DESPERATE JOURNALIST Musik von konstant hoher Qualität ab, allein der große Durchbruch bleibt ihnen bisher verwehrt. Da wäre Jo Bevans Stimme – ihr Konzertfoto hängt bei mir an der Zimmerwand – die sich zwischen Sinéad O’Connor, Björk und Dolores O’Riordan bewegt. Eine Stimme, die viel Verletzlichkeit transportiert, aber auch einen großen Batzen Sehnsucht und enttäuschte Wut.

Rob Hardys melodische Gitarre, versehen mit viel Hall und einem klaren, schimmernden Klang, sowie Caroline „Caz“ Helberts nervöses Schlagzeugspiel unterstreichen die Verwurzelung der Musik in den 80ern – allerdings mit einer eigenen Note und einem deutlichen Alternative-Einschlag.

Sie haben Hits geschrieben, die so richtig keine wurden, jubilierende Sehnsuchtshymnen wie „Hollow“ oder „Personality Girlfriend“ im Überwältigungsformat. Auch das jüngste Album „No Hero“ ist wieder voller hymnischer Momente, zugleich erweitert die Band ihr Klangsprektrum. Schon der Einstieg „Adah“ catcht mit verspielt-melodischen Gitarrenharmonien, die Stimme klagend und seufzend, dann wieder herausfordernd, mal zittrig, dann wieder rauflustig unterdrückt, alles getränkt in fast beiläufig große Melodien.

„No Hero“ ist ein flotter Tanztrack, die Intensität bleibt dennoch hoch, Bevan singt beinahe ikonische Zeilen. „Zerschlagen und blutig wie Christus/ Die Drachenfährte und die Darmsaite/ Schlafend auf einem Filmset, oh/ Du beißt die Zähne zusammen und setzt deinen Einsatz/ Auf einen Himmel, der nichts weiß/ Von dem Gewicht deines Sarges “. Ein perfekter Waverock-Song, so hymnisch wie „Entre dos tierras“ der HEROES DEL SILENCIO.

„Afraid“ ist ein leicht klaustrophobisch taumelnder Midtempo-Song, gleichzeitig ein Liebeslied zweier Verlorener, der Rhythmus in einem nervös verschobenen 5/4-Takt. „Ich liebe dich und ich habe genug von allem/ Ich liebe dich, du bist der Einzige, der dem Donner zuhört/ Dem Donner, Donner, Donner, Donner/ Wir haben keine Angst, hässlich zu sein/ So hässlich“, singt Bevan. Es sollte ein Song sein, der schwindelerregende Freude vermittelt, erzählt die Sängerin: Hässlichkeit wird zu einem ermutigenden Statement.

Mit „Comfort“ schafft die Band einen perfekten Synthie-Pop-Moment, die Keyboards dominieren hier den Sound, der Rhythmus ist tanzbar. „Silent“ zelebriert Postrock-Momente in der Echokammer, der Klang zerfließt in Störgeräuschen und einem nervös schlingernden Bass. Das Solo schafft fast einen PINK FLOYD-Moment, mehr angedeutet als voll ausgelebt.

„Underwater“ zieht in die Tiefe, nervöse Trip-Hop-Rhythmen, der Text kündet von Liebe, Angst und Verletzungen. „Ich war ein Wrack, als du mich trafst/ Ein Kuss auf den Kopf, sie kommen, um mich zu holen/ Ich hätte weniger tun sollen, weniger intensiv/ Ein Schlag in die Brust, eine Kindheitserinnerung/ Ein Mann, der unter Wasser atmen kann“. Die Intensität bleibt auch in den experimentelleren Momenten ungebrochen hoch.

„Unsympathetic“ bettet einen leicht mystisch anmutenden Chorus im ENYA-Stil über einen nervös umherspringenden THE CURE-Bass, „You Say You’re Lonely“ ist eine elegant groovende Ballade, die auch im Radio laufen könnte. Was DESPERATE JOURNALIST hier abliefern, ist ein nahezu perfektes Album, das funkelt, schäumt und ganz viele Emotionen in sich trägt.

Bestes pinkes Album: SCENE QUEEN: Hot Singles In Your Area

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SCENE QUEEN ist die Endgegnerin für jeden „truen“ Metalfan, dessen Zeitrechnung nur bis ins Jahr 1989 reicht. Sie kuschelt sich in riesige Teddybären. Sie lutscht an roten Kirschlollies. Sie trägt Blingbling-Kette. Sie sitzt auf einem Schaukelpferd. Und alles, was sie tut und macht, ist in Pink getaucht. Der BH? Pink! Der Cowboyhut? Pink! Die kniehohen, hochhackigen Stiefel? Pink! Eye Gloss? Pink! Und nun ratet mal, wer extra einen Tag Urlaub genommen hat und nach Berlin gefahren ist, um sie live zu sehen und nach einem pinken T-Shirt Ausschau zu halten. Könnte das etwa ich gewesen sein?

„Hot Singles In Your Area“ heißt das Debüt von Hannah Rose Collins, wie SCENE QUEEN mit bürgerlichem Namen heißt. Ihre Musik bezeichnet die Frau aus dem Hotspot Los Angeles, durchaus offensiv und selbstironisch, als „Bimbocore“. Doch hinter dem pinken Overload steckt eine klare Haltung: radikale Weiblichkeit in einem Genre, das nach wie vor von maskuliner Dominanz geprägt ist. Im Interview mit Metal Hammer UK erzählt sie, wie sie von männlichen Bands nach der Show hinter die Bühne gebeten wurde – weil die Musiker dachten, sie wäre ein Groupie.

Und so sind die Texte durchaus konfrontativ, zumeist auch sehr explizit: sexuell aufgeladen, ja, aber nach ihren eigenen Regeln. SCENE QUEEN dreht die Geschlechterrollen einfach um: „All diese Jungs in Bands/ lassen einfach ihre Eier ab/ Krasses Set, du bist der Beste/ Bro, kann ich fühlen, wie du anspannst?/ Ich mag dein Equipment, wer ist dein Techniker?/ Bro, ich bin so gut im Bett (mein Schwanz ist groß)“, singt sie in „Mutual Masturbation“, während sie provokant in die männliche Rolle schlüpft.

Und auch die Musik hat ordentlich Punch. Zwar sind die Songs alle supereingängig – um nicht zu sagen: superhittig –, gern auch mit Bubblegum-Refrains, aber sie rappt, singt, schreit, schimpft, stöhnt, deklamiert und flirtet über harten Nu-Metal-Gitarren und wuchtigen Rhythmen. Immer wieder sind fiebrig-nervöse Elektrobeats eingebunden, sie reichen von 90s-Dance über Trap bis hin zu harsch knarzendem Industrial. Überhaupt ist die Musik extrem überdreht, zappelig und oft auch sprunghaft – es fiept, wummst und rollbasst am laufenden Band, bleibt dabei aber fast durchweg tanzbar.

SCENE QUEEN zeigt Wortwitz und Autorität. Ihre Texte sind von Rapperinnen wie MEGAN THEE STALLION und RICO NASTY inspiriert und spielen selbstbewusst mit Textklischees aus dem Gangster-Rap und mit Rockismen. Dabei greift sie zum Beispiel misogyne Motive männlicher Rapper auf und wendet sie gegen sich selbst. Wenn sie von „Bitches“ und „Pussies“ rappt, adressiert sie dies auch an männliche Vertreter der Schöpfung. „Gib der Bitch ’nen Ständer/ Wär‘ ich ein Mann, würd‘ ich die Welt vögeln“, singt sie in „Girls Gone Wild“, nur um später zu fragen: „Haben Männer überhaupt eine Seele?“ Dass das oft im Verführungsmodus präsentiert wird (sie schildert eine Art Verhörsituation, in der sie einen Mann zum willenlosen Gespielen macht), macht die Sache noch unbehaglicher.

So sind Songs wie „18+“, das flott peitschende „Finger“ (ja, es geht darum, das weibliche Geschlecht zu bearbeiten), „Milf“ oder „Girls Gone Wild“ amtliche, zappelige, eingängige und sich sehr körperlich anfühlende Bratmetal-Tracks, die – mein Gott! – ordentlich die Eier zeigen. Und dabei richtig Spaß machen. Wie singt sie? „Half my idols are fucking losers!“ Gemeint sind die männlichen. „Da liegt etwas in der Luft, ich muss es loswerden/ Wenn du es versuchen willst, dann sei mein Gast/ Es ist ein komplettes Menü, du wirst gleich bedient/ Mit meiner Faust in deinem Gesicht und deinem Hintern auf dem Bordstein“. Und die Welt ist pink.

Bestes Schmerzprog-Album: MOTHER OF MILLIONS: Magna Mater

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Die große Progmetal-Überraschung kommt in diesem Jahr aus der quicklebendigen griechischen Metalszene. MOTHER OF MILLIONS aus Athen sind auch bereits seit 16 Jahren am Start, mit „Magna Mater“ legen sie, wenn ich richtig informiert bin, ihr viertes Album vor.

Und was ist das für ein erhabener Brocken! Eine flehende und hohe Gesangsstimme legt sich über Gitarren, die so schwer und träge wie ein Ozeandampfer wirken. Die Songs sind durchweg getragen und elegisch, fast feierlich in ihrer Atmosphäre.

MOTHER OF MILLIONS gehören zu jener Sorte Prog-Bands, die den Schwerpunkt nicht auf technische Finesse und virtuose Spielereien legen, sondern ihr Innerstes kübelweise nach außen kehren. Sie graben in den Untiefen der Seele nach der existenziellen Verzweiflung des Menschseins. Emotional verlangen sie dem Hörer wirklich alles ab – von tiefem Leid bis hin zu kathartischen Momenten. Dabei schwingt eine erhabene, fast spirituelle Tiefe mit. Als Referenzen können Bands wie PAIN OF SALVATION, TOOL oder LEPROUS dienen, die eine ähnlich brutale Intensität zeigen.

Über allem thront der Titelsong, die allmächtige Mutter: eine fünfminütige Tour de Force, die mit geröllartigen Gitarrenlawinen über einen hereinbricht, während die Stimme am Zerbersten ist und sanfter Frauengesang als Gegengewicht dient. „Wirst du mir helfen, wirst du mir helfen, Mutter der Menschheit?/ Segne mein Herz und meine Seele mit Vorsehung,/ Erleuchte meine endlose Nacht./ Mutter, ich zähle die Tage voll Leid“, fleht Sänger George Prokopiou eindringlich, unterbrochen von choralartigen Passagen. Es heißt, dass die Band mehrere Schicksalsschläge durchleben musste. „Mutter, hast du die Tage gezählt, seit ich verging?/ Du riefst meinen Namen, möge er die Götter der Zeit betören./ Du bedecktest meine Augen, spürtest die kalten Siegel des Seins./ Du überschrittest die Grenze, möge sie die Götter des Todes täuschen.“ Trauer, Angst, Tod, aber zugleich auch flehendes Aufbegehren gegen das Unvermeidliche – ein intensives Erlebnis!

„Liminal“ faltet Keyboardharmonien auf, die an eine Spieluhr erinnern: jene Klänge, die ein Kind zart in den Schlaf wiegen. Sanft und fragil kann auch Prokopiou singen, mal im hohen Falsett, mal fast flüsternd. Doch dann weitet sich seine Stimme und greift Raum, schafft fast beschwörende Momente, manchmal ahnt man ein unterdrücktes Weinen. „Du hast gesagt, wir überdauern für immer/ Tanze durch die Asche,/ Verstreue deinen letzten Wunsch!“. Der Song wandelt sich zu einer schweren, doomigen Hymne, die stellenweise fast an die musikalischen Prog-Altäre von SAVIOUR MACHINE erinnert.

Gitarrist Kostas Konstantinidis streut ungerade Takte und doomig-schwere Akkorde ein, die das drückende, teils grollende Fundament der Songs bilden. Das Schlagzeug ist stark hallend und wuchtig, ganz im Einklang mit dem modernen Prog-Sound: schwer und verspielt zugleich. Schlagzeuger George Boukaouris übernimmt auch die Keyboards, die auf diesem Album viel Raum einnehmen, ebenso wie die mehrstimmigen Gesänge, die sparsam, aber gekonnt eingesetzt werden. Gitarrensoli fehlen hingegen fast vollständig.

Im lateinisch betitelten Song „Irae“ (Bezug nehmend auf die Zornesstrafe Gottes?) wird der Mensch selbst zum Sediment, vom Meer hinweggespült. Der Song beginnt zunächst tastend, wie man in kaltes Wasser tritt, um die Temperatur zu prüfen, dann folgt wieder, über tribalartigen Rhythmen und schwer flimmernden Postrock-Tremolie, dieser Pathos und die fast erdrückende Feierlichkeit. „Wenn ich meinen Weg weben würde,/ Würde ich ihn besticken/ Wenn ich meinen Weg weben würde,/ Würde ich ihn weit machen/ Zeit!/ Lasse mich segeln/ Zu anderen, besseren, kurzen Leben“. Gegen Ende wird ein- und dieselbe Gesangsmelodie fast tranceartig wiederholt, der Song endet abrupt – bis im folgenden „Space“ die Melodie von „Liminal“ wieder aufgenommen wird. Der Refrain, fast tröstlich: „Du hattest alles“, in Andeutung eines Abschieds und Neuanfangs.

Bestes Postrock-Album: MIDAS FALL: Cold Waves Divide US

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Ob diese Band noch einmal den Durchbruch schafft? Es ist ein Jammer, wenn man sich anschaut, wie selten MIDAS FALL gestreamt werden: auf Spotify ist die Zahl der Hörer im niedrigen vierstelligen Bereich. Aber wer Robert Smith von THE CURE als seinen Edelfan bezeichnen darf, hat vielleicht ohnehin alles erreicht.

MIDAS FALL sind eine Band, die einen nicht kalt lassen kann – und die gerade deshalb polarisiert. Da ist eine Fragilität im Sound, eine berstende Verletzlichkeit, eine alles niederringende Schwermut, manchmal pathetisch, wenn auch funkelnd schön. Musik mit der Intensität einer Therapiesitzung. Es gibt nicht viele Bands, die so traurig klingen und gleichzeitig so kathartisch wirken. Musik, die dich anfässt, die dich durchrüttelt, ja: vielleicht auch angreift, Wunden sichtbar macht. MIDAS FALL sind Melodram, sie sind die große Geste in der Stille: Sie sind wie diese traurigen Filme ohne Happy End, diese bittersüßen Romanzen, bei denen sich am Ende alle mit zitternden Beinen aus dem Kinosessel erheben und heulend in den Armen liegen.

Vielleicht ist es diese Verletzlichkeit, die dazu führt, dass die Band große Hörerschichten nicht erreicht. Und die natürlich dennoch eine ganz eigene Qualität hat. Auf mittlerweile fünf Alben haben sich die Schotten um Frontfrau Elisabeth Heaton ihren eigenen Klangkosmos geschaffen, haben Streicherarrangements und Piano hinzugetan, fast überirdische, schwebende Klänge, ja sogar zu den Grundpfeilern ihres Sounds gemacht. Elektronische Patterns, Fragilität. Es ist auch Ambient in ihrem Sound, Neoklassik, Folk, Dreampop – manches erinnert an Filmmusik. Und wo sie den Blick in weite Landschaften öffnen, wenden sie ihn zugleich nach innen. Der Raum wird aufgebrochen, mit lang nachhallenden Gitarrensequenzen und einer fast kosmischen Atmosphäre, nur um das Innenleben nach außen zu kehren, Einsamkeiten, Enttäuschungen und emotionale Verletzungen zu verhandeln.

Und da ist diese Stimme. Ätherisch schön, mit leichtem Beben, mit viel Melancholie. Elisabeth Heaton ist keine Sängerin, die nur ätherisch haucht, sie kann glockenklar und kraftvoll singen, sie kann ihre Stimme heben und vibrieren lassen, auch in der Mittellage. Sie kann fordernd singen, sie beherrscht auch die hohen Stimmlagen. Aber diese Traurigkeit, die ist fast immer da, diese hohe, hart zupackende Emotionalität. Als würde man an einem Ballon hängend über Städte und Landschaften schweben und auf die Erde hinunterblicken, im Bauch dieses Kitzeln durch das Spiel des Windes.

Und da ist diese Sogwirkung, die aus den Mitteln des Postrock resultiert. Ein verspielter Schlagzeugrhythmus, die Gitarren zwischen kristallinem Klirren und schwerem Groove: Gitarristin Rowan Burn macht von Halleffekten viel Gebrauch. Das Arpeggio ist ein häufig eingesetztes Mittel, es gibt den Gitarren diesen schwebenden, manchmal tänzelnden Klang. Oft arbeitet sie mit Delays, lässt einzelne Töne nachklingen, um dann wieder dieses hypnotische Dröhnen und Sirren auszupacken, das einen wie eine Schlingpflanze in den Sound hineinzieht.

Die “kalten Wellen” im Albumtitel sind vielleicht kein Zufall: Auch das Gitarrenspiel erinnert manchmal an das Spiel der Wellen, die Töne wirbeln auf und ab, oft nicht gleichmäßig, sondern mit unruhiger Dynamik. Und dieses Glitzern und Funkeln auf der Oberfläche, wenn sich das Licht in den Wellen bricht, oder wenn sich, wie hier, nervöse Momente über ruhige, dunkle Flächen legen, zuweilen betörend schön. Ein Album, das Zeit braucht, das gefühlt werden will – Aber das könnt Ihr alles in meiner umfangreichen Rezension nachlesen.

Bestes (Post)-Black-Metal-Album: ONE WITH THE RIVERBED: Succumb

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Als ich im November die Ausgabe des Legacy-Magazins durchblätterte, musste ich lachen. Auf der einen Seite waren die Nürnberger TOTAL HATE, die klassischen Black Metal im Stil der frühen 90er spielen: mit typischem Corpsepainting, böse aus dem Wald heraus schauend, und – sorry – irgendwie superalbern aussehend. Auf der anderen Seite ein Interview mit ONE WITH THE RIVERBED: ebenfalls eine Black-Metal-Band, ebenfalls böse aus dem Wald heraus schauend. Doch sie sehen aus wie nerdige College-Studenten, die irgendwas mit Raketenwissenschaft oder Physik studieren, tätowiert und kurzhaarig, zwei der Musiker sogar in kurzen Hosen.

Musikalisch gecatcht haben mich letztere, nicht die Traditionalisten. Schon ihr Auftreten macht klar, dass sie eher Black Metal der neueren Schule spielen, mit allerlei Post-Einflüssen. Viele Infos sind nicht zu finden über den Fünfer aus Michigan, mit „Succumb“ legen sie ihr zweites Album vor.

Und dieses Album ist ein phänomenaler Hassbrocken, der mit wuchtigem und klarem Breitwand-Sound daherkommt (was die Pandaface-Oldschooler schon als Verrat werten). Die Gitarren türmen sich mal melodisch auf wie zu besten EMPEROR-Zeiten, dann wieder tingeln sie mit Postrock- und Shoegaze-Sounds lebendig und quirlig durch die Songs, ein andermal biegen sie in Richtung Melodeath skandinavischer Prägung ab.

Die Musik steckt voller Tempoverschiebungen und dissonanter Kabinettstückchen (und wieder brüllen die Oldschooler „Verrat!“). Eine angenehm giftige Kreischstimme wechselt sich mit gutturalem Grunzgesang ab: Auf dieser Platte passiert sehr viel. Mit dem melancholischen „Adaption“ haben sie sogar so etwas wie eine Black-Metal-Halbballade im Programm, die auf mittlerer Strecke ordentlich Fahrt aufnimmt. Hier klingt der Gesang fast verzweifelt. Und Atmosphäre? Die hat das Album reichlich: Es ist, als würde sich die Waldlandschaft Michigans in dieser Musik widerspiegeln, in kräftigen Farben – flammendes Rot, leuchtendes Orange, sattes Gelb. Ahorn, Eichen, Buchen, und viele stille Seen.

Oft ist die Musik in rasend schnellem Tempo gehalten, aber ein Song wie „Burden“ rollt über den Hörer hinweg wie Geröll oder eine Schlammlawine, mit tiefen, aus den dunklen Ecken der Seele hervorbrechenden Riffs. Und dann die melodischen Zwischenspiele: Sie erinnern ein wenig an frühe OPETH, mit halbverzerrten oder akustischen Gitarren. Auch Melancholie ist spürbar, doch es wäre falsch, dieses Album dem Genre Depressive Black Metal zuzuordnen. Dafür ist es zu giftig, zu aggressiv – und auch zu wandelbar. Oder welche DBM-Band kommt schon mit schweren Death-Metal-Riffs um die Ecke? Eben.

Es gibt Momente, in denen der Gesang fast schon an Screamo erinnert und so auf Hardcore-Wurzeln verweist. All das wird enorm stimmungsvoll in Szene gesetzt, auch wenn es kein leicht zugängliches Album ist: Es braucht Zeit, es wächst. Der letzte Song trägt den Titel „Sunlight“ und verbindet Death/Doom mit akustischen Momenten und verschrobenen Rhythmen. Auch hier schreien die Oldschooler wieder „Verrat!“, weil es ihnen viel zu technisch ist und kein Wintermond beschworen wird. Schön!

Bestes Empowerment-Bluespop-Album: AMYTHYST KIAH: Still+Bright

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AMYTHYST KIAH gehört zu jener Generation afroamerikanischer Musikerinnen, die die US-amerikanische (und kanadische) Folkszene in den letzten Jahren erobert haben. Gemeinsam mit Rhiannon Giddens, Leyla McCalla und Allison Russell nahm sie das Album „Songs of Our Native Daughters“ auf – ein Werk, das eindrucksvoll daran erinnert, wie tief Rock, Folk und Blues in der afroamerikanischen Musiktradition verwurzelt sind, auch wenn das oft vergessen wird.

Ihr zweites Soloalbum „Still + Bright“ wurde in den USA heiß erwartet – nicht überraschend, nachdem sie 2020 für einen Grammy nominiert war und der Rolling Stone ihr Debüt zu einem der besten Alben 2021 wählte. Amythyst Kiahs kraftvolle, emotional aufgeladene Stimme, die zwischen Alt und Mezzosopran schwebt, ist ihr Markenzeichen. Ihre politischen Texte und ihr rauer Sound führen gelegentlich zu Vergleichen mit Tracy Chapman – doch Kiahs Musik ist rockiger und breiter aufgestellt.

Die Produktion ist auffällig glatt und geschliffen, was die Stimme stark in den Vordergrund rückt. Produziert hat Butch Walker, der bereits mit so verschiedenen Künstlern wie WEEZER, TAYLOR SWIFT und GREEN DAY zusammengearbeitet hat. Dahinter steckt eine bewusste Entscheidung: Die Musikerin aus Tennessee entdeckt auf ihrem neuen Album die Welt des Pop. Keine Sorge, die Instrumente sind analog in Szene gesetzt und behalten ihren urtümlichen Sound. Hier geht es um Pop als Idee: Melodien, die im Kopf bleiben, und Songs mit Ohrwurmgefahr.

Still + Bright“ enthält zwölf durchweg liebevoll inszenierte Ohrwürmer, die sich für Radioairplay empfehlen. Und dort, wo KIAH Missstände und persönliche Konflikte anspricht, durchaus auch mal dunkel, gibt es einen starken Gegenpol: Hoffnung und Spiritualität. Es ist eine Platte, die von den tiefen spirituellen und erlösenden Aspekten des Gospel geprägt ist, auch wenn diese nur angedeutet werden: Hier geht es nicht um christlichen Glauben, denn KIAH schafft sich eine eigene Religion.

Als ich ein Kind war, wollte ich Gott spielen und die Welt zerstören. Die Vorstadtlächeln sind nur eine Täuschung“, singt Kiah im Eröffnungstrack – ein lässiger Rocksong mit einem infektiösen Refrain. Duettpartnerin ist die Singer/Songwriterin S.G. Goodman. „Ich möchte jedes Kreuz verbrennen, hinter dem du dich versteckst. Aber das haben wir schon gesehen. Also werde ich jedes Chakra öffnen und all meine Schutzzauber setzen.

In Interviews berichtet die Musikerin, dass sie als Kind oft unsicher war, Bedrohung empfand und mit Selbstzweifeln kämpfte – Ausweg fand sie in der Musik. Das Gitarrespielen brachte sie sich auf einer alten Fender selbst bei. Dass sie auch eine virtuose Banjo-Spielerin ist, ist mehrfach auf der Platte zu hören.

Doch das hier ist auch ein Album über Selbstermächtigung. „Empire of Love“ ist ein sanfter Blues-Song, der mit einem klassischen Rockriff und Arpeggio-Piano die Selbstliebe feiert. „Ich will keine Theokratie/ Und keine Idol-Ideologie. Ich schwöre meiner Seele Treue,/ Ich folge ihr, wohin sie gehen muss./ Ich bin eine Pilgerin der Liebe“, singt Kiah.

Mit dem hypnotisierenden „I Will Not Go Down“ biegt die Musikerin in Richtung Bluegrass ab. Die Melodie reiht sich auf wie an einem Rosenkranz, der Rhythmus ist stampfend. Begleitet wird sie von dem Bluegrass-Gitarristen Billy Strings, der eine atemberaubende Fingerfertigkeit zeigt: Im hohen Tempo fliegen seine Hände über das Griffbrett. Auch hier stehen Glaube und Selbstermächtigung im Mittelpunkt: „Ich bin die Hexe in der Angst / Hier ist jeder Zauber gebrochen / Wenn ich ganz allein gelassen werde / Werde ich das Biest allein töten / Ich werde nicht untergehen / Ich werde nicht untergehen, untergehen, untergehen.

Im sehnsuchtsvoll-flotten „Silk And Petals“ hören wir Butch Walker als Duettpartner singen – ein Song über die Hoffnung auf Liebe, der erneut auch Selbstliebe thematisiert: „Ich fühle mein Selbst nicht / Steckt ein Geist in mir oder nur ein Liebeslied? / Ich warte jeden Tag auf dich / Die Tür steht offen, wenn du nach Hause kommst“. Banjo und Schlagzeug treiben den Song voran.

Eine völlig andere Klangwelt präsentiert das folgende „Die Slowly Without Complaint“. Auch das ist ein Duett, Avi Kaplan von den Pentatonix ist zu hören, die Stimmung ist düster. Kaplan’s tiefe, resonante Stimme harmoniert perfekt mit dem knarzenden Countryfunk des Songs. Rhythmus und Choral erinnern an einen Working Song, vor dem Auge tun sich Bilder harter Feldarbeit auf, die Stimmung ist bedrohlich: Es ist ein Titel mit Schwielen an den Händen.

Und dann gibt es da noch „Dead Stars“: ein melancholischer Walzer, der von einer plötzlichen Begegnung im Zug und einer enttäuschten Liebe erzählt. Im Mittelteil pfeift KIAH die Melodie, traurig klagt dazu eine Violine. „Wir waren zwei Sterne, die einfach ausbrannten“, singt KIAH im schönen Refrain, der klingt, als könnte er ein amerikanisches Volkslied werden. Groß!

Bestes supercatchy Postmetal-Album: THY CATAFALQUE: XII: A gyönyörű álmok ezután jönnek

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Bereits über zwölf Alben hinweg arbeitet der Ungar Tamás Kátai an seiner eigenen Version des Avantgarde-Metal: ein Sound, der so kunterbunt und vielfältig an Einflüssen ist, dass der Begriff „aberwitzig“ fast verniedlichend wirkt. Auch das vorliegende Werk, sein bisher rundestes, ist dabei keine Ausnahme. Was kommt da alles zusammen: Black Metal, Prog, osteuropäische Folklore, Rummelmusik, Alternative, elektronische Klänge – und dann noch eine Oboe, Violine, Cello oder dezent Angejazztes. Klingt anstrengend? Ist es nicht. Denn was der Ungar mit zahlreichen Gastmusikern in Szene setzt – allein 26 zusätzliche Personen sind im aktuellen Bootleg aufgeführt – ist großes Entertainment.

Das liegt vor allem an Kátais feinem Gespür für eingängige, supercatchy Songs und prägnante Riffs. Weiter in den Superlativen: An 19 verschiedenen Orten hat der Weltenbummler sein Album geschrieben und aufgenommen – darunter Thessaloniki, Madrid, Los Angeles, Bogotá, São Paulo und natürlich in seiner Heimatstadt Makó. Diese kleine Stadt, deren Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert reichen, ist ein Zentrum ungarischer und jüdischer Kultur, wo sich die Geschichte vieler Jahrhunderte spiegelt. Bekannt ist sie für ihren Zwiebelanbau im warmen Klima – und wie die Schichten einer Zwiebel offenbart auch dieses Album eine Vielfalt an kulturellen Einflüssen und Epochen.

Bereits der Einstieg mit „Piros Kocsi, Fekete Éj“ (Rotes Kutschrad, Schwarze Nacht) zieht in den Bann: Ein verspieltes Gitarrenriff pendelt zwischen Folk und Gothic Metal, erinnert ein wenig an PRIMORDIAL, bevor hochmelodische Frauenchöre einsetzen. Männlicher Klargesang übernimmt, auch er kann überzeugen: der Refrain ist supereingängig, die Produktion klar und wuchtig. Folk-Metal-Hit? Na aber hallo!

Der mehrstimmige Frauengesang zieht sich wie ein roter Faden durchs Album. Kitschig? Fehlanzeige. Das liegt auch daran, dass Kátai die ungarische und slawische Folklore genau kennt. Tief verwurzelt in der Musik der Türken, Slawen und Roma, geprägt von rhythmischen Wechseln, modalen Tonarten und der typischen Pentatonik, spiegeln die Melodien die melancholische Härte des Lebens wider – aber auch die überschäumende Freude, die man auf Festen erlebt. Die Chöre singen kunstvoll und präzise, wie es in der ungarischen und slawischen Folklore tradiert ist – oft mündlich überliefert, von Generation zu Generation weitergegeben, und dabei stets eng mit Tanz und Ritualen verbunden.

Dass Kátai es auch anders kann, beweist er mit dem brachialen „Mindenevö“ (Allesfresser): ein massiver Black-Metal-Track, der einen der besten Breakdown-Momente des Jahres liefert und trotzdem verspielte Keyboards einbaut. Besonders phänomenal ist der Übergang – nach einem sakralen Choral und einem kurzen proggigen Zwischenspiel übernehmen die Gitarren wieder in berserkender Zerstörungswut. Allein dieser Song bietet mehr Ideen als andere Bands auf einem ganzen Album und bleibt dennoch strukturiert. In dieselbe Richtung geht das pechschwarze „Vasgyár“ (Eisenwerk), wo die Gitarren zwischen Thrash und Melodeath rasen. Beide Songs glänzen durch kraftvolles, tiefes Gekeife von Gastshouter Bálint Bokodi, das perfekt passt.

Doch das Album wird nicht schwächer – im Gegenteil. Mit jedem Song entfalten sich neue Facetten. ‚Világnak Világa‘ kombiniert harschen Black Metal mit einem völlig eingängigen Chorus, verspielten Keyboardpassagen und virtuosen Soli. „Nyárfa, Nyírfa“ hingegen präsentiert sich als hochmelodischer Folkrock mit einer melancholischen Schlagseite und -festhalten!- Saxophonsolo. Und dann gibt es noch „Vakond“ (Maulwurf), ein fast unverschämt fröhliches Instrumentalstück, das Folk mit wabernden Synthies, arabischen und griechischen Saiteninstrumenten (Oud, Bouzouki) und pfeifenartigen Tönen verbindet und einfach nur Spaß macht. Im Mittelteil des Albums nimmt der Folk eine immer größere Rolle ein, was der Melodik und Catchyness zugute kommt.

Das siebeneinhalbminütige Epos „Ködkiraly“ beginnt mit atmosphärischen Synths und einer betörenden, melancholischen Frauenstimme. Fast tranceartig entfaltet der Song zunächst eine fast feierliche herbstliche Stimmung. „November, November/ Die Dunkelheit des menschlichen Weges/ Unter einem sinkenden Mond/ Atmen rostende Geheimnisse“, singt die Gastsängerin Ivett Dudás, das Cello wird von der Londoner Virtuosin Jo Quail gespielt. Doch auch dieser Song kippt zur Mitte hin, schwere Gitarren sind zu hören, ein Männerchor. „Angst ist ein Zahnschmelz, aber sie tut nicht weh/ Über den Bäumen, unter dem Hügel/ Gehst du umher, König des Nebels, und du wirst mich finden“. Die Melancholie gleitet in eine düstere, bedrohliche Atmosphäre.

Aber die größten Hits hat sich Kátai für den Schluss aufgespart. Was bitte ist „A Gyönyörü Álmok Ezután Jönnek“ (Die Wunderschönen Träume Kommen Danach) für ein perfekter Alternative-Metal-Brecher? Eine elf von zehn auf der Ohrwurm-Skala. Der sollte jede Tanzfläche in Metaldiskotheken zwischen Buxtehude und Tüßling – sofern es diese noch gibt – in einen Dampkessel verwandeln. Im dazugehörigen Musikvideo sehen wir ihn joggen: das passt perfekt.

Wer jetzt denkt, ob der vielen Einflüsse wirke das alles zerstückelt und ergebe keinen Sinn: mitnichten. Kátai ist ein Bandleader, Chorleiter und Orchesterdirigent, der das alles meisterhaft zusammenhält. Ich höre das Album oft im Homeoffice, weil die Melodien eine leicht euphorische Stimmung erzeugen und sich fluffig ins Ohr schmiegen.

Bestes Darkpop-Album: KITE: VII

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Ein Album in der Jahreswertung, das doch eigentlich eine kleine Enttäuschung ist? Yo. Seit das schwedische Duo um Sänger Nicklas Stenemo und Keyboarder Christian Berg mit ihrer ersten EP 2008 um die Ecke kamen, sind sie das größte Versprechen, dass der Synthie Pop der düsteren Prägung zu bieten hat. Ihre Songs haben sie bisher stets im EP-Format veröffentlicht, alle streng durchnummeriert: und im Grunde ist auch ihr erster Longplayer „VII“ eine Sammlung von Songs, die sie zuvor bereits auf Streaming-Plattformen und als Vinyl veröffentlicht haben.

Die große Stärke des Duos sind ihre Liveauftritte. Diese, obwohl oft von knapper Spielzeit, sind ein Rausch aus fieberhaften Beats und schweißtreibenden Synthies voller rauer Energie, sie entfalten einen unglaublichen Sog, verwandeln Clubs und Festivals in einen schwitzenden Tanztempel: und sind regelmäßig ausverkauft. Da klingen sie auch eine ganze Ecke ruppiger und kantiger als im Studio, wo sie diese Energie noch nicht derart bündeln konnten. Und doch gibt es wenige Bands, die den Synthie-Sound der 80er so überzeugend in die Echtzeit transportieren.

Das liegt auch am androgynen, hohen und zuweilen gewöhnungsbedürftigen Gesang Stenemos. Seine Stimme klingt, als hätte sich David Bowie in einer dystopischen Zukunft neu erfunden, mit einer rauen, kratzigen Intensität, die sich nicht scheut, brüchig zu sein, manchmal sogar leicht krähend: aber stets von hoher Intensität. Oft bewegt er sich in hohen Stimmlagen, auch mal im Falsett, er singt Melodien von oft überzeugender Schlichtheit, die wenige Muster variieren, wiederkehrende Motive mantraartig umkreisen, so hineinziehen in das Rhythmus- und Klanggebäude, das oft aus einem Gerüst aus nervös fiebrigen Synthies besteht, zuweilen pulsierende und ungerade Rhythmen, mal hingetupft, mal hart schraubend. Die Synthies schwirren und pulsieren wie ein überreiztes Nervensystem kurz vor dem nächsten Impuls.

Und dann ist da eine zeitgemäße Note, die verhindert, dass die Band bloß als Epigonen der 80er abgestempelt werden kann. Zwar klingen vor allem OMD deutlich durch – man höre ‚Demons & Shame‘ – doch auch der Einfluss von Bands und Projekten wie THE KNIFE ist unverkennbar. Diese avantgardistischen Sounddesigns mit ihrer Mischung aus Techno, Indie und dem schwer Greifbaren fügen eine zeitgemäße Komplexität hinzu, die den Songs Charakter verleiht.

Doch ach, Oweh und Jammer: vor allem der Mittelteil funktioniert auf „VII“ nicht immer. Da haben sich zu viele ruhige und pathetische Momente eingeschlichen („Tranås/Stenslanda“), bei denen die Keyboards auch mal richtig schwülstig klingen können. Das schwächt auch ruhigere Nummern, die für sich stehend eigentlich starke Momente haben (das beinahe flehend-orchestrale „Glassy Eyes“ und das phantastisch komponierte „Hopelessly Unholy“). Spötter könnten behaupten: Es bleibt eben eine EP-Band.

Doch es gibt natürlich auch Begeisterndes. Das im Midtempo melancholisch pumpende „Changing“, das hypnotisiernd pulsierende „Don’t take the light away“ oder das hymnische „Bowie 95“ sind Songs, die den Status Quo des Synthie-Pop definieren und funktionieren. „Panic Music“ kommt der Liveenergie der Band schon sehr nahe, schraubt und groovt mit jener rauen Energie, die diese Band oft auszeichnet. Und im hypnotisch fließenden „Losing“ ist ANNA VON HAUSWOLFF zu Gast. Spätestens live werde ich dann wieder restlos überzeugt sein – und den Merchstand leerkaufen.

Bestes High-Energy-Indierock-Album: THE VIRGINMARYS: The House Beyond The Fires

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Ja, wir brauchen sie: diese Rockplatten, die vor Energie bersten, explodieren wie eine Supernova und mit tanzbaren, nervösen Rhythmen selbst notorische Eckensteher und Schreibtischlampen auf den Tanzflur zwingen. Platten voller Euphorie und Songs mit dem „Bam! Boom! Bang!“-Effekt. Im letzten Jahr haben MID CITY (große Empfehlung!) ein solches Album abgeliefert. In diesem Jahr waren FONTAINES D.C. und die nur leicht enttäuschenden KINGS OF LEON Anwärter auf den Thron. Doch dann kam das Unerwartete. Erinnert Ihr Euch an den Running Gag in französischen Komödien, in dem wild fahrende Nonnen in einem Citroën 2CV („Ente“) auf der Überholspur rasen, hupen und alle abhängen? Genau so ist es: Diese Band auf der Überholspur, die sich noch fix die Genrewertung krallt, sind die gar nicht so frommen Jungfrauen von THE VIRGINMARYS.

Seit 2006 sind die Jungs aus einer Kleinstadt bei Manchester unterwegs – nach dem Ausstieg ihres Bassisten sind nur noch Sänger und Gitarrist Ally Dickaty sowie Schlagzeuger Danny Dolan am Start. Mit „House Beyond The Fires“ präsentieren sie nun ihr viertes Album. Und es ist fast ein Wunder, dass ausgerechnet das Magazin, das solchen Sound eigentlich am ehesten würdigen sollte (Visions!), der Platte nur fünf von zwölf Punkten verpasst hat. Denn was die Jungs hier abliefern, ist mehr als nur eine kraftvolle Sammlung aus Hits. Es ist eine dieser Platten, bei der der Schweiß aus jeder Pore dringt, die permanent am Anschlag ist, fast schon karthatisch wirkt und die Wände rhythmisch pulsieren lässt. Eine Platte voll Wut und punkiger Wucht – vergleichbar mit einem entfremdeten, einsamen Menschen, der durch eine belebte Einkaufsstraße läuft, plötzlich laut losschreit und zu tanzen beginnt, um sich sichtbar zu machen. Es klingt wie eine Platte, die unbedingt gemacht werden musste.

Sie spielen einen Sound, der in den Nullerjahren seinen Ursprung fand: Garage Rock trifft auf Punk, rauen Blues und Stadionsingalongs – große Refrains, die bei mir tatsächlich zünden. Und wie! Nicht zufällig sehen wir auf dem Cover eine Frau, die eine brennende Fackel in der Hand hält. Die Stimme ist rau und kräftig, mit echtem Rockstar-Appeal, das Schlagzeug treibt unaufhörlich voran, die Gitarren sind wild, verzerrt und herrlich laut abgemischt. Das ganze Album ist verdammt laut, mit viel Distortion, fast immer am Anschlag. Doch was es von den üblichen Verdächtigen abhebt (ja, die KINGS OF LEON in ihren Anfangstagen, QUEENS OF THE STONE AGE, THE BLACK KEYS – wer kennt noch THE WILDHEARTS?), ist die schäumende Wut, mit der Frustration und Enttäuschung hier förmlich herausgerotzt werden. Und die eben dazu beiträgt, dass man dieses Album ebenfalls laut hören muss, dass man Angst und Wut herausschwitzt – und am Ende der Platte ein breites Grinsen im Gesicht hat.

Denn die Texte sind schon zynisch und zuweilen resigniert. „Greif nach den Sternen,/ Spring vom Dach,/ Verbinde meinen Körper,/ Spuck einen Zahn aus./ Weisheit bleibt der Fremde/ In einer vergeudeten Jugend./ Behalte Ruhm und Geld,/ Alles, was ich will, ist die Wahrheit“, singt und spukt Dickaty in „When The Lights Go Down“. Was ist die Wahrheit? Die Lichter gehen aus, das System treibt die Menschen in die Verzweiflung, „Demokratie ist ein Wort, das aus dem Mund eines Mörders geschossen kommt“, singt er in einem anderen Song. Man kann die Texte auch kritisch sehen, manches streift das Floskelhafte und ist sehr einfach, sie sind nicht ihre Stärke. Aber mit welcher Euphorie und mit welchem Enthusiasmus das in tolle Songs gepackt wird, auch mit einer gewissen Working-Class-Attitüde, wirkt wie ein Gegenprogramm.

So sind Songs wie „There Ain’t No Future“, „When The Lights Go Down“ oder „You’re A Killer“ nervös zappelnde Indierock-Hymnen mit Mitsing-Refrains, die überfallartig über dich hinwegrollen, ohne ihre Catchyness zu verlieren: voller Sludge und Fuzz, aber mit dezenten Verweisen auf Classic Rock und Blues. Behende und mit einem treibenden Midtempo-Groove kommt „Northwest Coast“ daher, während das fast flehende, traurige „Where Are You Now?“ verzweifelt die Frage in die Welt schreit. Und mit dem ruhigeren „Urban Seagull“ gibt es einen der schönsten Songs des Jahres. Die gesamte Platte eine Explosion: Besser und überzeugender wurde man in diesem Jahr vielleicht nicht bespukt und angeschrien.

Dass da in Großbritanniens Indie-Szene wieder einiges brodelt, zeigen auch andere Beispiele. Checkt die tollen neuen Platten von CORELLA, BRIGITTE CALLS ME BABY und THE LAST DINNER PARTY!

Bestes Classic/Folk-Album: LINA: Fado Camões

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Ein Fado-Album? Aber sicher! Wo sonst findet man mehr Melancholie und Tiefe? Wo treten Liebe und Tod so oft in Dialog? Wo schwingt in jeder Melodie so viel Sehnsucht mit, und wo wird Virtuosität so in den Dienst der Emotion gestellt? Fado gilt als die Seele Portugals – und das ist nicht ganz falsch. Doch in ihm verschmelzen auch viele andere Einflüsse: lateinamerikanische Rhythmen (Portugal war eine Seefahrernation!), afrikanische und orientalische Klänge. Und ja, liebe Metalfans: Fado ist pure Gitarrenmusik. Ohne die Saiten wäre er nicht denkbar.

Die in Deutschland geborene Portugiesin Lina hat sich auf ihrem neuesten Album den Gedichten von Luís Vaz de Camões gewidmet – dem legendären Nationaldichter Portugals, in seiner Bedeutung mit Shakespeare vergleichbar. Camões’ Leben liest sich wie ein Abenteuerroman: Aufgewachsen bei Dominikanern und Jesuiten, zog er als Soldat zur See und brachte sich in Schlachten schwere Verletzungen bei, erlitt auch Schiffbruch. Zwar ist sein Geburtsdatum nicht eindeutig belegt, aber 2024 hätte er vermutlich seinen 500. Geburtstag gefeiert. In seinen Gedichten finden sich das Meer als zentrales Motiv, aber auch Liebe, Sehnsucht, die Vergänglichkeit des Lebens und der ewige Drang nach dem Unbekannten – das Reisen. Ein mystischer, universeller Dichter.

Als Fado-Sängerin greift sich LINA weniger bekannte Texte von Camões heraus: die intimeren und wehmütigeren, ganz dem Spirit dieser kunstvollen Volksmusik entsprechend. Ihre Stimme ist vergleichsweise hell und klar, auch wenn ihr das typische Timbre zu eigen ist: dieses Federn der Stimme in den langen Tönen, dieses Gleiten zwischen den Tonarten, diese enorme Klangfülle. Sie sieht sich eigentlich nicht als Erneuerin der Fado-Tradition. Was nicht ganz stimmt, denn auch wenn es ein „klassisches“ Fado-Album ist, so ist es auch ein zeitgemäßes. Doch diese Elemente werden sehr behutsam integriert: Hier mal eine elektrische Gitarre, dort elektronische Rhythmen, kaum als solche wahrnehmbar. Für diese ist unter anderem Pianist John Bagott verantwortlich, bekannt für seine Zusammenarbeit mit PORTISHEAD und MASSIVE ATTACK. Manchmal ahmen die Rhythmen Handclaps nach, manchmal sind sie ein sehr dezentes, basstiefes Hallen.

Hier zeigt sich eine Parallele zum Album von BETH GIBBONS. Auch „Fado Camões“ ist ein akustisches Wunder, durchdrungen von Tiefe und Weite. Produzent Justin Adams, der bereits mit ROBERT PLANT und den Desert-Bluesern TINAWIREN gearbeitet hat, lässt der Stimme den Raum, den sie braucht. Wie eine sanfte Meeresbrise füllt sie den Raum, vibriert in der Luft, schwebt und zittert, greift manchmal mit Nachdruck zu. Die übrigen Instrumente sind behutsam und doch prägnant inszeniert. Besonders die portugiesische Gitarre von Pedro Viana strahlt in klarem, metallischem Glanz. Ihr heller Klang tritt in einen Dialog mit der Stimme und spiegelt dabei jenes leichte Beben, das den Gesang durchzieht. Virtuos gespielt, schimmern auch in den schnellen Arpeggios die Melancholie und die Schwere des Fado durch – denn bei aller Lebendigkeit bleibt die Wehmut immer gegenwärtig.

„Desamor“ eröffnet mit einem Piano, das in hohen, glitzernden Tönen in die Stille schneidet. Es verstummt, um der Stimme Raum zu lassen, und kehrt dann mit einem tieferen, getragenen Spiel zurück – bis schließlich das typische Melodram des Fado einsetzt: das Raumgreifende, das den Klang ausdehnt, nur um dann wieder in sich zu gehen. Fado lebt von der Feinheit der Nuancen und Klangfarben. Die Musik lässt Pausen und Stille zu, wechselt zwischen leisen, zarten Momenten und kraftvollen, ausdrucksstarken Höhepunkten. Die Silben hallen nach, werden gedehnt oder manchmal fast verschluckt – jedes Wort hat seine Bedeutung, und jedes wird mit Bedacht gesungen.

In „Quando Vos Veria“ bekommt die portugiesische Gitarre mehr Raum, begleitet von einem sanften, pulsierenden Rhythmus. Im zweiten Teil des Songs kommt sogar eine elektrische Gitarre zum Einsatz. Arabische Harmonien und Rhythmen prägen „O Que Temo E O Que Desejo“ – ein Duett mit dem spanischen Sänger Rodrigo Cuevas, der die Folklore Asturiens einbringt. Hier zeigt die Portugiesin, wie sie den Fado behutsam öffnet und neue Einflüsse integriert, ohne dessen Charakter zu gefährden. Die Wehmut des Fado erhält in diesem Stück eine lebendigere Form (Auch im Fado gibt es Subgattungen, die sich nach Rhythmik, Metrik und Thema unterscheiden: das flottere „Desencontro“ wird zum Beispiel dem Fado Corrido zugerechnet, eine dynamische Form, die oft in Bars gespielt wird und Alltagsthemen verhandelt. Ich gebe zu, hier bin ich kein Experte).

Die zwölf Songs auf diesem Album stammen entweder aus der Tradition des Fado oder wurden von LINA und der Liedermacherin Amélia Muge neu komponiert. Auch wenn die Grundstimmung dem Fado treu bleibt, zeigt sich ein offenerer Ansatz: hypnotische Beats in „Se De Saudade Morrerei Ou Não“. Mehrfach das Fender Rhodes-Piano, das mit seinem gläsernen und warmen Klang eine Brücke zu Jazz und Psychedelic schlägt. Moog-Synthesizer sorgen für zusätzliche Farbnuancen. In „Amor É Um Fogo Que Arde Sem Se Ver“ klingt die Violine tief und schwer, mit wenigen Tönen, die sich unter der elegischen Stimme entfalten. Alles Zeitgemäße bleibt so dezent, dass man es beim Hören fast übersehen könnte – über allem schwebt die ausdrucksstarke Stimme, die sich federnd entfaltet und nachwirkt.

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