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MIDAS FALL: Cold Waves Divide Us

Die progressiven Fragilitäts- und Überwältigungs-Rocker MIDAS FALL um Frontfrau Elisabeth Heaton liefern auch auf ihrem fünften Album Momente großer emotionaler Intensität. Ein Sog aus ätherisch-schönem Gesang, flirrenden Rhythmen und wallenden Gitarren, der einen tief ins Unterbewusstsein zieht – dorthin, wo die eigenen Monster, Ängste und Träume lauern.

Es bedurfte eines ganz bestimmten Momentes, um mich für MIDAS FALL einzunehmen. Ich war in die ostdeutsche Provinz gereist, in eine dünn besiedelte Region, in der sich alternative Wohnprojekte auf Bauernhöfen niedergelassen haben, um zwischen großen Gärten und Scheunentoren ihr eigenes Leben aufzubauen. Eine Ruhe, wie man sie sonst an keinem Ort noch findet, endlose Felder, Seen und Wälder, Wolfsgebiet. Der Grund, natürlich, eine Frau, die mich trotz einer vorherigen Romanze abblitzen ließ: Sie hatte in der Zwischenzeit einen neuen Mann kennengelernt. Und da lief ich dann durch kleine, endlos sich erstreckende Orte, mich komplett verloren fühlend, ein sonniger Herbsttag, vorbei an Apfelplantagen und Gestüten, vorbei an gepflegten Bauernhäusern und Windrädern, und ich flennte und flennte. Ich blickte in die Augen einer gutmütigen, aber doof schauenden Kuh, die genüsslich wiederkäute – und ich flennte. Im Ohr hatte ich, wieder und wieder, „Evaporate“ von MIDAS FALL. Es gab keinen besseren Sound, um sich in dieser absurd idyllischen Kulisse abgrundtief traurig zu fühlen. By the way: Wusstet Ihr, dass Kühe mehr Milch geben, wenn sie mit klassischer Musik beschallt werden? Kühe sind ja keineswegs Banausen. Anderes Thema.

MIDAS FALL sind eine Band, die einen nicht kalt lassen kann – und die gerade deshalb polarisiert. Da ist eine Fragilität im Sound, eine berstende Verletzlichkeit, eine alles niederringende Schwermut, manchmal pathetisch, wenn auch funkelnd schön. Musik mit der Intensität einer Therapiesitzung. Es gibt nicht viele Bands, die so traurig klingen und gleichzeitig so kathartisch wirken: PORTISHEAD vielleicht, LOREENA MCKENNITT, KATATONIA. Musik, die dich anfässt, die dich durchrüttelt, ja: vielleicht auch angreift, Wunden sichtbar macht. MIDAS FALL sind Melodram, sie sind die große Geste in der Stille: Sie sind wie diese traurigen Filme ohne Happy End, diese bittersüßen Romanzen, bei denen sich am Ende alle mit zitternden Beinen aus dem Kinosessel erheben und heulend in den Armen liegen. Na gut, vielleicht nicht alle: Mein Bruder ließ einmal das Wort „weinerlich“ fallen, als die Musik bei mir lief. Vielleicht sind Kühe keine Banausen, aber mein Bruder ist schon einer.

MIDAS FALL: den Blick weiten ins Innere

Seit MIDAS FALL 2008 mit ihrem Debüt auf der Bildfläche erschienen sind, haben sie sich einen Ruf als Geheimtipp erspielt, oder besser gesagt: ermalt. Denn durchaus könnte man bei ihrer Musik an ein impressionistisches Gemälde denken. Das Zerfließen und die unscharfen Linien haben sie vom Post Rock übernommen, diese mäandernden, sich auftürmenden Gitarren, mit viel Reverb und Echoeffekten versehen. Auch die progressiven Songstrukturen sind an Post Rock geschult, an Bands wie MOGWAI oder EXPLOSIONS IN THE SKY.

Doch MIDAS FALL bleiben da nicht stehen. Auf mittlerweile fünf Alben haben sich die Schotten um Frontfrau Elisabeth Heaton ihren eigenen Klangkosmos geschaffen, haben Streicherarrangements und Piano hinzugetan, fast überirdische, schwebende Klänge, ja sogar zu den Grundpfeilern ihres Sounds gemacht. Elektronische Patterns, Fragilität. Es ist auch Ambient in ihrem Sound, Neoklassik, Folk, Dreampop – manches erinnert an Filmmusik. Und wo sie den Blick in weite Landschaften öffnen, wenden sie ihn zugleich nach innen. Der Raum wird aufgebrochen, mit lang nachhallenden Gitarrensequenzen und einer fast kosmischen Atmosphäre, nur um das Innenleben nach außen zu kehren, Einsamkeiten, Enttäuschungen und emotionale Verletzungen zu verhandeln.

Und da ist diese Stimme. Ätherisch schön, mit leichtem Beben, mit viel Melancholie. Elisabeth Heaton ist keine Sängerin, die nur ätherisch haucht, sie kann glockenklar und kraftvoll singen, sie kann ihre Stimme heben und vibrieren lassen, auch in der Mittellage. Sie kann fordernd singen, sie beherrscht auch die hohen Stimmlagen. Aber diese Traurigkeit, die ist fast immer da, diese hohe, hart zupackende Emotionalität. Zuweilen entrückt, doch gleichzeitig geerdet. Als würde man an einem Ballon hängend über Städte und Landschaften schweben und auf die Erde hinunterblicken, im Bauch dieses Kitzeln durch das Spiel des Windes. Man muss diesen Gesang mögen, ja, man muss sich darauf einlassen können. Das zuweilen Flehende in ihrer Stimme, das Zerbrechliche, was aber nicht die einzigen Facetten sind: die unterdrückte Wut, wenn sie lauter wird, Erhabenheit. Heaton benutzt ihre Stimme manchmal wie einen Resonanzkörper, lässt sie ähnlich anschwellen und abebben wie die Gitarren, als eigenständiges Instrument.

Cold Waves Divides Us klingt wieder heavier als der Vorgänger

All diese Elemente waren auch schon auf den früheren Alben vorhanden, in unterschiedlichen Portionen. Doch wo der Vorgänger „Evaporate“ von 2018 die rockigen Momente zurücknahm und stärker auf die Streicher setzte, zugunsten einer fast wellenartig fließenden, kammermusikartigen Traum-Atmosphäre, sind nun die eruptiven Momente wieder ausgeprägter, die schroffen Gitarren, die plötzlichen Ausbrüche. “Wir haben die atmosphärischen Streicher und 80er-Jahre-Synthies von Evaporate beibehalten, wollten aber schwerere, vielschichtige Elemente hinzufügen, um mehr das zu repräsentieren, wie wir live klingen“, sagt Heaton laut Promozettel der Plattenfirma.

Da tastet sich im Opener „In the Morning We’ll Be Someone Else“ langsam ein verwaschenes Piano in den Song hinein, tastend zunächst auch Heatons Gesang, ein nervös schreitender Rhythmus kommt hinzu, schwere und doomige Gitarren. Die Melodie besteht aus einem einfachen Muster (gern verzichten MIDAS FALL auch mal auf den Refrain), das mit wenigen Variationen wiederholt wird. Heaton singt von den Erlebnissen einer verstörenden Nacht („Du hältst den Schlüssel, um mich auszusperren“), doch der Gesang wird intensiver, bis nach circa drei Minuten ein Insektenschwarm an flirrenden Gitarren hereinbricht. Ja, es ist die Klaviatur des Post Rock, die hier bedient wird, Schicht um Schicht wird angereichert wie bei einem Ölgemälde, die Farben dick aufgetragen auf einer sehr großen Leinwand. Es ist ein etwas schroffer, widerborstiger Einstieg, was nicht unsympathisch ist.

„I Am Wrong“, die vorab ausgekoppelte Single, ist dann zugänglicher, fast tanzbar. Ein verspielter Schlagzeugrhythmus, die Gitarren zwischen kristallinem Klirren und schwerem Groove: Gitarristin Rowan Burn macht von Halleffekten viel Gebrauch. Das Arpeggio ist ein häufig eingesetztes Mittel, es gibt den Gitarren diesen schwebenden, manchmal tänzelnden Klang. Oft arbeitet sie mit Delays, lässt einzelne Töne nachklingen, um dann wieder dieses hypnotische Dröhnen und Sirren auszupacken, das einen wie eine Schlingpflanze in den Sound hineinzieht. Die “kalten Wellen” im Albumtitel sind vielleicht kein Zufall: Auch das Gitarrenspiel erinnert manchmal an das Spiel der Wellen, die Töne wirbeln auf und ab, oft nicht gleichmäßig, sondern mit unruhiger Dynamik. Und dieses Glitzern und Funkeln auf der Oberfläche, wenn sich das Licht in den Wellen bricht, oder wenn sich, wie hier, nervöse Momente über ruhige, dunkle Flächen legen, zuweilen betörend schön.

MIDAS FALL entfalten einen Sog

Doch macht es überhaupt Sinn, einzelne Songs hervorzuheben? Das ist kein bisschen negativ gemeint, im Gegenteil. MIDAS FALL werden oft als eine Band beschrieben, die mit Kontrasten arbeitet, mit lauten und leisen Dynamiken, mit schweren und schwebenden Momenten, mit sanften und erdrückenden. Aber das Besondere ist vielleicht, dass diese Gegensätze nicht als Gegensätze wahrgenommen werden, sondern es diese Sog-Wirkung gibt, dass die Musik einen quasi sanft, aber mit dicken Seilen fesselt und mit der Messerspitze kitzelt, dass einen dieser Sog auch durch das Album zieht. Ein sanftes Wiegenlied wie “In this Avalanche”, getragen von Piano und atmosphärischen Streichern, auch einem fast herzschlagartig pulsierenden Rhythmus, kann dabei die gleiche Schwere entfalten wie die sich orkanartig auffaltenden Gitarren im zweiten Teil von “Monsters”. Das ist keine Musik zum Nebenbeihören, die Details sind wichtig und nuanciert gesetzt, die Emotionalität ist, wie schon angedeutet, herausfordernd. Robert Smith von THE CURE ist ein Edelfan, er hat die Band bereits zu Konzerten eingeladen, und vielleicht besitzen MIDAS FALL eine ähnliche emotionale Radikalität wie die frühen THE CURE-Platten.

Und dann sind da Heatons Texte, die oft um Zwischenmenschliches kreisen, um das Nicht-Zueinanderfinden und die Verletzungen, die man sich gegenseitig zufügt, um Einsamkeiten und Ängste, aber auch: um Liebe. Oft kryptisch und symbolisch aufgeladen, oft melodramatisch. In Monsters singt sie: “Ich bin hier, um meinen Dämon zu finden,/ Er kommt und dann geht er,/ Auf demselben Weg, den ich gegangen bin,/ Er sagt, Mädchen, du bist nicht erwachsen geworden// Jetzt sag du mir, was du hier willst,/ Zieh den Spiegel vor meine Augen,/ Ich werde immer deine Gefangene sein“. Die Monster, die sie in diesem Song besinge, “sind die aufdringlichen, angstbesetzten Gedanken, die von Zeit zu Zeit auftauchen, vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartet”, sagt sie in einem Interview zu diesem Text. Aber es gibt auch das Kathartische in der Musik, das Tröstende, das Umarmende, das Streichelnde. Und es ist klar, welchen Soundtrack ich wählen werde, wenn ich wieder einmal heulend in die Augen eines wiederkäuenden Rindes schaue.

VÖ: 08. März 2024

Spielzeit: 47:07

Line-up:
Elizabeth Heaton – vocals, guitars, strings, synths, piano, drums
Rowan Burn – guitars, synths, piano, drums
Michael Hamilton – bass, synths, drums

Label: Monotreme Records

Homepage: https://midasfall.com/home

MIDAS FALL “Cold Waves Divide Us” Tracklist:

1. In The Morning We’ll Be Someone Else
2. I Am Wrong (Video bei Youtube)
3. Salt
4. In This Avalanche
5. Point Of Diminishing Return
6. Monsters
7. Atrophy
8. Cold Waves Divide Us (Video bei Youtube)
9. Little Wooden Boxes
10. Mute

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