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MARILLION: Anoraknophobia

Passionierte Fishheads, die immer noch auf die Fortsetzung von “Misplaced Childhood” warten, können sich den Kauf dieses Albums ergo sparen. Musikalisch aufgeschlossene Naturen, die das Wörtchen “progressiv” gern für bare Münze nehmen und “Pop” nicht als Antithese anspruchsvoller Kompositionsprinzipien verstehen, sollten “Anoraknophobia” hingegen eine Chance geben.

Wenn es überhaupt eine offensichtliche Konstante im MARILLION-Sound der letzten Jahre gab, dann nur die eine: Wandel. Kein Wunder also, dass auch “Anoraknophobia” nicht mit Überraschungsmomenten geizt. Und dass es einmal mehr eine Frage der Perspektive ist, ob man diese als angenehm empfinden kann oder nicht. Passionierte Fishheads, die immer noch auf die Fortsetzung von “Misplaced Childhood” warten, können sich den Kauf dieses Albums ergo sparen. Musikalisch aufgeschlossene Naturen, die das Wörtchen “progressiv” gern für bare Münze nehmen und “Pop” nicht als Antithese anspruchsvoller Kompositionsprinzipien verstehen, sollten “Anoraknophobia” hingegen eine Chance geben.

Ja, MARILLION scheuen – ähnlich wie auf “marillion.com” – nicht vor eingängigen Melodien und nachvollziehbaren Songstrukturen zurück. Mit “Map Of The World” hätten sich die Briten glatt für die alljährliche Schlager-Marter des Grand Prix de Chanson d’Eurovision bewerben können, “Between You And Me” hätte – abgesehen vom getragenen Piano-Intro – auch U2 in ihrer “Achtung Baby”-Phase gut gestanden, und mehr als einmal fühlt sich der Brit-Rock-bewanderte Hörer an eine Kreuzung aus RADIOHEAD, COLDPLAY und TRAVIS erinnert. Zeitgemäßer denn je, möchte man sagen. Dass aber MARILLION auf ihre alten Tage noch einmal die Coverseiten solch unsäglicher Trend-Postillen vom Schlage eines NME zieren werden, ist mehr als unwahrscheinlich. Einmal “boring old farts”, immer “boring old farts”. Welch’ Dilemma: Für die einen (die ewig Modernen) zu sehr Teil einer vergangenen musikalischen Ära, für die anderen (die ewig Gestrigen) ein unverzeihlicher Bruch mit liebgewonnenen Stilgewohnheiten: Viele Fans früher Tage werden kompakt-rockende Stücke wie “Seperated Out” oder das fast schon sperrige “If My Heart Were A Ball It Would Roll Uphill” nicht mehr mit der Band in Verbindung bringen können, die sie einst für ihren opulenten Art Rock lieben lernten.

MARILLION verstehen es ausgezeichnet, vermeintliche Gegenpole zu verschmelzen

Aber: Die Briten haben sich durchaus ihr Händchen für großzügig dimensionierte Kompositionên jenseits der Fünf-Minuten-Schallgrenze bewahrt. Und natürlich sind es just jene Stücke, die Altfans der Band noch am ehesten entgegenkommen werden, selbst wenn MARILLION – ebenso natürlich – derlei Songepen gänzlich anders anlegen als in früher Vergangenheit. “When I Meet God” heißt eine dieser Kompositionen und markiert den emotionalen Höhepunkt des Albums: Leise, aber nachhaltig zieht das Stück dahin, getragen von warmen Keyboard- und sanften Akustikklängen, und einem Steve Hogarth, der eindrucksvoll belegt, warum er zwar nicht zu den besten Sängern, aber doch zu den einfühlsamsten Interpreten des Rock-Genres gehört. Mit fragiler Stimme singt er Zeilen wie “If the bottle’s no solution/why does it feel so warm?/And if that girl is no solution/why did she feel so warm?/And if to feel is no solution/why do I feel?/Why do I feel so tired?/Why do I feel so broken?/ Why do I feel so outside?”, ganz ohne aufgesetztes Sentiment, ohne Pathos, aber um so eindringlicher.

Ähnliches gilt für das fast schon meditative “This Is The 21st Century” mit seinen sanft pulsierenden Loops und den dezent-futuristischen Klang-Effekten, die eine faszinierende Liason mit dem Text eingehen: Ein Plädoyer für das Irrationale, eine Liebeserklärung an die Magie der Gefühlswelt in einer nüchternen, hochtechnisierten Welt. Und wie gut es MARILLION verstehen, vermeintliche Gegenpole zu verschmelzen, belegen sie schließlich in zwei weiteren Kompositionen, die Band-Moderne und –Tradition einander zuführen. “Fruit Of The Wild Rose” beginnt gemächlich und intim, baut eine fast schon bar-jazz-artige Atmosphäre auf (bei der insbesondere Gitarrist Steve Rothery einmal mehr mit von ihm bis dato ungewohnten Klängen überrascht), die sich in einem melancholischen Refrain entlädt und nach drei Minuten schließlich in hypnotische Keyboard- und Gitarrenkaskaden übergeht, die so auch aus der ersten Band-Ära stammen könnte.

“Anoraknophobia” ist eine spannende Symbiose aus alten Tugenden und neuen Stärken

Doch die nostalgische Idylle hält nicht lange an: In den letzten Minuten des Sieben-Minuten-Stückes paaren sich Country-Licks mit Funk-Rhythmen und klingen beschwingt aus. Auch “Quartz” sorgt für musikalische Wechselbäder: Groovende Basslinien, MARILLION-typische Keyboard-Flächen, moderne Sound-Effekte, gefühlvollle Leads, fast schon dissonante Zwischenspiele und die einzigartige Stimme Hogarths prägen neun abwechslungsreiche Minuten, die – was die innere Idee angeht – symptomatisch sind für das, was MARILLION aufgeschlossenen Art-Rock-Fans anno 2001 zu bieten haben: eine mutige, eine spannnende Symbiose aus alten Tugenden und neuen Stärken. Und ja, DAS ist wirklich progressiv…

Veröffentlichungstermin: 07.05.2001

Spielzeit: 63:42 Min.

Line-Up:

Steve Hogarth – Vocals
Steve Rothery – Guitars
Ian Mosley – Drums
Pete Trewavas – Bass
Mark Kelly – Keyboards

Produziert von Dave Meegan
Label: EMI

Hompage: http://www.marillion.com

MARILLION “Anoraknophobia” Tracklist

  1. Between You and Me
  2. Quartz
  3. Map of the World
  4. When I Meet God
  5. The Fruit of the Wild Rose
  6. Separated Out
  7. This is the 21st Century
  8. My Heart Were a Ball it would Roll Uphill
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