Es ist der 10.09.2021, fünfundzwanzig Jahre und ein paar Zerquetschte nach der Entdeckung von Heavy Metal durch den kleinen Andi Holz. Es ist früher Nachmittag im Sauerland, nicht einmal 100 Kilometer von seinem Zuhause entfernt und er steht in einer uralten Höhle und sieht SUN OF THE SLEEPLESS dabei zu, wie sie mit ihrem nostalgischen, leidenschaftlichen Black Metal den Metal-Part des PROPHECY FEST 2021 eröffnen, eineinhalb Jahre nach einer beängstigenden Konzert-Zwangspause für uns alle.
Zu allem Überfluss feiert auch der Ausrichter PROPHECY PRODUCTIONS dieses Events hier sein Fünfundzwanzigjähriges. Und der mittlerweile große Andi Holz steht mittendrin und fragt sich, ob er träumt oder wacht und womit er dieses Glück eigentlich verdient hat – dieses Glück, hier die Helden seines vierzehnjährigen Ichs live und in Topform auf der Bühne zu sehen, in dieser Zeit! Das erste richtige Konzert nach eineinhalb Jahren – kein Abstand, keine Masken, keine Sitzplätze. Ich kann mich kneifen wie ich will, es wird nicht weniger wahr.
Dank dafür gebührt neben der medizinischen Forschung usw. vor allem Prophecy Productions, die nicht nur mit der Balver Höhle vor ein paar Jahren ihre Festival-Heimat ganz in meiner Nähe gefunden haben, sondern eben auch damals wie heute immer wieder leidenschaftliche, außergewöhnliche Musik entdecken und veröffentlichen und auf die Bühne bringen. Und das trotz des eher wertkonservativen Hintergrunds mit einer beeindruckenden Weltoffenheit.
Daran war vor zwanzig Jahren, als ich das erste Mal eine „Prophecy-Konzertnacht“ besuchte, noch nicht zu denken. Im allen Besucherinnen und Besuchern zusätzlich zum Ticket und exklusiv ausgehändigten Label-Kompendium erinnert sich DORNENREICHs Eviga übrigens an den Aufritt dort. Auch ich erinnere mich immer wieder gerne an die urwüchsige Energie, die damals von der Band auf uns, das Publikum, übersprang. Schaut man sich das Schaffen der Band bis heute an, könnte man fast auf die Idee kommen, dass sie immer noch davon zehrt.
Tag 1 – Bratwurst und Neofolk
So ist es kein Wunder, dass das Gelände rund um die Höhle schon am Donnerstag – es soll eine Label-Geburtstagsfeier mit Live-Musik, Bratwurst, Maiskolben und Freibier geben, Open-Air – gut gefüllt ist mit freundlichen, gut gelaunten Begeisterten. Meine Stimmung ist aus privaten Gründen etwas getrübt, aber ich vertraue mich dem Bier und dem Neofolk an. In der Hoffnung, in der Mischung aus beidem Trost und eine angemessen wehmütige Aufbruchstimmung für die nächsten beiden Tage zu finden.
Es gelingt nur mäßig, denn die drückende Schwüle und eine unerklärliche Verzögerung am Fass trüben trotz der wundervollen Kulisse des Sauerlands nicht nur mein Gemüt. Dann endlich, zeitgleich mit dem Beginn des ersten musikalischen Gastes – „Valkenstijn“ hat sein Projekt MOSAIC mitgebracht – läuft das Bier, und die Musik erklingt. Vermutlich bin jedoch zunächst nicht nur ich irritiert davon, dass der Maestro zu Black Metal vom Band eine reine Vokal-Performance hinlegt, was um kurz vor 18 Uhr leider nicht wirken kann. Ebenso abträglich sind der Stimmung die Wechsel zwischen ihm und seinem Kompagnon ZWISCHENLICHTEN (auf dem Festival-Shirt unglücklicherweise als „Zwischenwelten“ bezeichnet) – der allerdings auch selbst in diesem ersten Block wenig zur Besserung beiträgt. So sehe ich doch einen sehr jungen Mann mit Gothic-Zopf eher kitschige deutsche Lieder singen, die mit Stilblüten wie „Ich war kein Kind mit leichtem Herz“ (sic!) und dem erstaunlichen Aufruf, vom Gipfel der höchsten Berge bis ins All hinauf zu steigen glänzen. Das Duett mit MOSAIC namens „Herbstfeuer“ wiederum gefällt mir dann besser, endlich kommt so etwas wie naturromantische Stimmung auf.
Bei NEUN WELTEN, einer Prophecy-Band der zweiten Stunde, steigert diese sich dann endlich, und wenn man ganz vorne sich hinsetzt, kann man sie auch wahrnehmen. Geboten wird ein Querschnitt aus ihrem Schaffen, zusätzlich gibt’s ein extra für diesen Anlass komponiertes Lied, das mich positiv an die schönsten Momente von BACKWORLD erinnert. Ein gelungener Auftritt, der Lust auf ein neues Album macht!
Danach beginnen MOSAIC & ZWISCHENLICHTEN ihren zweiten Block, und ich beschließe, mir einen Logenplatz zu suchen. Am Weg über dem Zeltplatz steht eine von Bäumen trocken gehaltene Bank, auf der ich nicht nur einen angenehmen Klang genieße, sondern auch die hinter dem Zeltplatz verlaufende bewaldete Hügellandschaft bestens im Blick habe, über der sich während der nun folgenden halben Stunde wie bestellt das Naturschauspiel eines entfernten Gewitters abspielt. Immer wieder überziehen Blitze den Himmel und es donnert, während MOSAIC nun sein naturmystisches Neofolk-Programm bringt. Das sind seine besten Songs, und sie wirken bombastisch in dieser Kulisse! Auch ZWISCHENLICHTEN weiß nun zu überzeugen, vor allem mit der großartigen Coverversion „Das Feuerordeal“ von ROME. Der junge Mann hat’s ziemlich gut ins Deutsche übertragen und bringt die Stimmung der verzweifelten Liebe, die dem Lied innewohnt, mit einer überzeugenden persönlichen Färbung rüber. Auch die Stücke mit Bezug zur Geschichte seiner Heimat, des Frankenwalds, überzeugen nicht zuletzt wegen der humorvollen Einleitung. Gerne hätte der junge Mann ein Rebellenlied in der Tradition der „Schlesischen Weber“ geschrieben, aber „so ist er nicht, der gemeine Oberfranke“. Man glaubt’s.
Dann ist das Gewitter vorbei und es regnet. Stark. VRIMUOT, ein relativ neuer Prophecy-Neofolk-Künstler mit einer Frisur, nach der man die Uhr stellen kann, singt tapfer dagegen an, wirkt auf mich dabei aber an diesem Abend leider entschieden zu martialisch und zu ernst. Außerdem weiß er nicht, wann ein Lied zu Ende zu sein hat, und so lasse ich den Abend lieber in meiner gemütlichen Ferienwohnung ausklingen.
Tag 2: Frohsinn und ein Kessel Buntes
Da VRIMUOT auch um 12 Uhr die Höhle als erster bespielen soll, lasse ich mir mit dem Frühstück Zeit. Per Live-Stream (sehr professionell, hoffentlich wird eine BluRay daraus!) schaue ich mal rein, stelle aber fest, dass mir das morgens mit Trommeln in einer dunklen Höhle noch weniger zusagt als am Lagerfeuer. Schade, das Album finde ich in der richtigen Stimmung recht gelungen.
Dass das Programm des Prophecy-Fests sorgfältig und mit einem Fokus auf gute Dramaturgie zusammengestellt wird, ist expliziter Anspruch des Teams. Und so wird es auch volle Absicht sein, dass nach dem gnadenlos humorlosen und ausgesprochen deutschen Neofolk von VRIMUOT nun als Kontrast mit ST. MICHAEL FRONT eine Art CHRISTIAN-STEIFFEN-Imitator im Nazi-Mantel auftritt. Ich bin mittlerweile in der Höhle angekommen und einfach nur begeistert von soviel Frohsinn am frühen Nachmittag! Es leuchtet ja auch ein: Dies ist die Balver Höhle, Ort zahlreicher Schützenfeste und Schlagerpartys, hier muss auch beim Prophecy-Fest mal ein wahrhaftiger Schlagersänger auftreten! Fröhlich beginne ich zu schunkeln zu dieser ungemein eingängigen Mischung aus Schlager- und Neofolk-Parodie. Aber ganz böse bin ich auch nicht, dass ich nur die Hälfte des Sets mitbekomme. Na ja, muss ich mir mal auf Platte anhören!
Zeit fürs erste Bier. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie es so viele Leute geschafft haben, hier ihre Bierdosen reinzuschmuggeln, aber das ist gar nicht der Fall. Die werden hier verkauft, vermutlich aus Hygiene-Gründen, anstelle von gezapftem Bier. Für vier Euro die Dose. Super Idee! Um Müllberge zu vermeiden sind überall Tüten, und da hier überwiegend nette, ordentliche Menschen zu Gast sind, werden diese sogar benutzt, um die Dosen zu entsorgen. Sehr schön. Ansonsten ist an der kulinarischen Front alles wie gewohnt. Es gibt einen Stand mit Pommes und Wurst und einen mit sehr guten türkischen veganen Speisen. Dazu die ebenfalls allen schon bekannten Gesichter des überaus freundlichen Festspielvereins Balve am Wertmarkenverkauf. Ich bin zum dritten Mal hier und es ist wie ein Nach-Hause-Kommen, erst recht nach dieser pandemiebedingten Konzertpause. Einfach nur wunder- und stimmungsvoll, und dass wir hier trotz aller Märchenhaftigkeit nicht im Auen-, sondern im Sauerland sind, kriege ich am Rande auch noch mit: Zu Anfang muss der Hausmeister aus gutem Grund den Notdienst von der Kanalreinigung rufen. Als dieser fertig ist, stürmt er auf Prophecy-Chef Martin Koller zu und ruft: „Es kann wieder geschissen werden!“ Ein Glück.
Aber wieder zurück zur Musik. Wie gesagt, SUN OF THE SLEEPLESS eröffnen – endlich, muss ich sagen – den Metal-Anteil des Festivals. Und sie tun dies mit einem unglaublich guten Sound, einem perfekten Set und großer Spielfreude! Diesmal ohne Eviga, dafür mit Valkenstijn. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass die Bühne diesmal nicht in die Höhle rein, sondern aus der Höhle raus zeigt, oder ob man sich vielleicht meine Kritik von 2019 zu Herzen genommen hat. Aber einen so guten Live-Metal-Klang habe ich noch nie vorher gehört. Weder zu laut noch zu leise, für den Musikstil sehr differenziert, Gesang gut verständlich. Ganz großes Kompliment! Hoffentlich gibt es bald was Neues von dieser großartigen Band.
Sowieso bin ich begeistert von der Organisation des Festivals: Man hat keine Kosten und Mühen gescheut, das Jubiläum gebührend und störungsfrei über die Bühne zu kriegen und sogar allen, die nicht daran teilnehmen können, zuhause etwas zu bieten. Alle Auftritte beginnen nahezu pünktlich, der Stream wird von „Krachmucker-TV“-Ernie und Matt Bacon (Prophecy USA) moderiert, wovon in der Höhle zwischen den Bands auch immer wieder was zu sehen ist. U.a. ein Backstage-Interview mit dem legendären Hippie-Rocker ARTHUR BROWN, dessen Performance am Abend ja auch noch ansteht. Was ich bei all dem Hin- und Her-Gerenne der Verantwortlichen und hier Arbeitenden jedoch immer wieder verspüre, ist ein wenig Mitleid. Denn wirklich was von den Auftritten kriegen sie ja nun nicht mit, während ich immer noch in der Musik versinke wie anno 2001. Weshalb ich auch froh bin, dass ich über die Jahre einfach nur Fan geblieben und strikt wegen der Bands da bin, und nicht um tausend Bekannte zu treffen oder gar zu arbeiten. Ich bin jedoch sehr dankbar dafür, dass andere das anders halten (und ein bisschen neidisch bin ich wohl auch).
Während HEKATE hätte ich gegen ein bisschen Zerstreuung durch gute Gespräche sicher nichts einzuwenden gehabt. Zwar mag ich ihre Veröffentlichungen „Sonnentanz“ und „Tempeltänze“ sehr, aber mittlerweile ist mir die Band zu künstlich geworden, zuviel Synthesizer, zuviel „Ethno-Sound“, zu wenig Folklore. Es kommen gar Instrumente vom Band! Auch die Performance von Sänger (erstaunlich nervös und unsicher) und Sängerin (zu künstlich) gefallen mir nicht. Das ganze Getrommele aber kann was, immerhin.
Tja, zu NEGURA BUNGET kann ich dann wenig schreiben. Die Band ist immer an mir vorbei gegangen, und so kann ich dem einmaligen nostalgischen Auftritt zu Ehren des verstorbenen Bandkopfes Negru leider persönlich nichts abgewinnen und mache eine kleine Konzertpause. Die zahlreich anwesenden Fans hingegen sind begeistert.
Ein Abend der Extreme
DORNENREICH haben einen ganz anderen Stellenwert für mich, wie oben bereits angeklungen. Und dass sie auch noch in dem Jahr, in dem ich aus romantischen Gründen umziehe, ein Album über die Liebe veröffentlichen, zwanzig Jahre nach dem für mich an der Schwelle zum Erwachsensein so prägenden „Her von welken Nächten“ mit seinem wilden „Wer hat Angst vor Einsamkeit?“, ist natürlich Zufall, aber ein ziemlich schöner. Leider, leider, leider sind sie jedoch an diesem Abend etwas deplatziert hier zwischen dem Metal-Inferno von NEGURA BUNGET und der Psychedelic-Orgie von ARTHUR BROWN. Noch dazu stören einige schwer betrunkene Störer den eigentlich für intime Settings konzipierten Akustik-Duo-Auftritt. Alte „Fans“ unterhalten sich während des ergreifenden Finales von „Mein Publikum – der Augenblick“, mit seinem immer wieder überwältigenden Schlusspunkt allen Ernstes lautstark darüber, dass sie die früher aber besser fanden! Wie wenig Respekt kann man eigentlich haben vor Künstlern, dass man während ihres Auftritts die Klappe nicht halten kann? Könnte man Band und Fans noch unverschämter ins Gesicht spucken?! Wohl kaum. Ich bin jetzt noch stinksauer. Aber auch ohne diese Ärgernisse hätte es nicht geklappt, denn man vernimmt während des gesamten Sets über das Gemurmel der Zuschauerinnen und Zuschauer von weiter hinten beinahe lauter als Gitarre und Geflüster Evigas. Nein, am Freitagabend mit offener Höhle war das leider nicht gut, das war 2017 am Nachmittag in der geschlossenen Höhle einfach besser. Schade, hier wäre ein Metal-Set oder eins mit vollem Instrumentarium von „Du wilde Liebe sei“ definitiv die bessere Wahl gewesen. Die zweite Hälfte des Sets verbringe ich deshalb am Eingang der Höhle. Dort bekomme ich noch mit, dass das Ende des Sets mit „Unruhe“ und „Jagd“ nochmal hervorragend konzipiert ist und phänomenal gespielt wird.
Was dann geschieht, spottet jeder Beschreibung. Ich habe mich bewusst im Vorfeld nicht damit befasst, was ARTHUR BROWN, dessen Hit „Fire“ mir als Kind von einer Aufnahme aus dem „Beat Club“ Ende der 60er von meinem Vater näher gebracht wurde, heute eigentlich so für Musik macht. Ich befürchte deshalb irgendwas Sphärisch-Experimentelles, zumal der alte Mann beim Interview vorher noch etwas klapprig wirkt. Aber was zur Hölle passiert dann! Der in fluoreszierenden Farben geschminkte 79-Jährige tanzt auf die Bühne, agiler als manch 30jähriger, großartig kostümiert. Er hat eine Band hinter sich, die den Begriff „Spielfreude“ definiert wie keine zweite, und seine Stimme klingt unglaublich warm, kraftvoll, lebendig. Gemeinsam hauen sie einen Hit nach dem andern raus, und bei jedem hat der Mann ein anderes Kostüm an! Allein daran könnte man sich nicht sattsehen und -hören, aber dazu gibt es noch Retro-Psychedelic-Videos und eine klasse Lichtshow. Ach, und einen brennenden Helm trägt er bei „Fire“ natürlich auch. Wahnsinn. Die Höhle kocht, und alle, die sich in der Nähe der Höhle befinden, strömen hinein und feiern dieses Naturereignis und möchten, dass dieser Triumph des Lebens über den Tod einfach noch viel länger dauert als die 90 Minuten, die der 79-Jährige (!) hier über die Bühne springt und tanzt. Man möchte fast mit dem Biertrinken aufhören, damit man selber auch noch so fit ist später!
Aber nur fast, denn dann kommen ja noch PRIMORDIAL. Alan Averill ist kein Asket, glaube ich. Zwar springt auch er wild wie eh und je über die Bühne, aber seine Stimme hat doch schon ein bisschen gelitten über die Jahre. Gut, ist auch eine dezent andere Musik. Und zu der brauch ich definitiv Bier! Die Iren haben eine Sonderstellung heute als einzige Nicht-Prophecy-Künstler. Averill haut deshalb auch direkt mal einen raus, indem er den Anwesenden zu „ten years in the cave… 20 years? Whatever“ gratuliert, um im Anschluss zu betonen, dass er mit seiner Band ja schon 30 Jahre auf dem Buckel hat. Was für ein Arschloch, möchte man meinen, aber vermutlich ist er einfach nur ein Trottel. Der Auftritt jedoch gefällt mir sehr gut, und bis mich zur zweiten Hälfte die Kräfte verlassen gehe ich gut mit, singe, gröle, werfe den Kopf hin und her und trommele mir an der Bierdose die Finger wund. Ach, es ist herrlich, wieder ein normales Konzert zu erleben!
Für die Zugaben wähle ich dann aber doch schon den Weg zurück zur Ferienwohnung, den Hang hinauf, einen Waldweg entlang. Aus der Höhle höre ich „The Coffin Ships“ und „Gods To The Godless“ durch das Tal schallen. Ich bin mir in diesem Moment sicher, dass ich zwar was verpasse, angesichts meines körperlichen Zustands aber hier im Dunkeln unter Bäumen und dem Himmel besser aufgehoben bin, denn es ist zusammen mit der Tal-Beschallung herrlich stimmungsvoll und das perfekte emotionale Ende für diesen ereignis- und abwechslungsreichen Tag.
Ein Tag, der – ich möchte es nochmal betonen – nicht möglich gewesen wäre ohne den beeindruckenden wissenschaftlichen Fortschritt, der binnen 18 Monaten einer tödlichen Coronavirus-Pandemie zumindest in der von der kapitalistischen Weltwirtschaft grob profitierenden Hälfte der Welt durch Impfungen den Schrecken genommen hat. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Nur deshalb sind solche Veranstaltungen wieder möglich, ohne dass danach Hunderte schwer erkranken oder sterben. Und es macht mich sehr wütend, dass es so viele Menschen gibt, die diese Tatsache leugnen und die Pandemie durch ihre Impfverweigerung verlängern und verschlimmern und dadurch immer weiter Menschenleben – nicht zuletzt ihr eigenes – gefährden.
Tag 3: Metaphysik und Ekstase
Der dritte Tag des Fests beginnt quicklebendig mit SPIRITUAL FRONT und EIS – allerdings nicht für mich, der ich mich entschlossen habe, es heute gemütlich angehen zu lassen und die ersten beiden Bands einfach mal zu verpassen. Schließlich werde ich meine Kräfte noch brauchen für den großen Höhepunkt EMPYRIUM. Die Band, mit der für Prophecy alles begann, feiert logischerweise auch 25 Jahre Jubiläum ihres Debüt-Albums und ist mittlerweile nach einem etwas holprigen Start vor gerade mal zehn Jahren eine echte Live-Größe geworden. Heute sollen sie das Festival beschließen und aus mir ein emotionales Wrack machen. Also wappne ich mich für dieses Erlebnis mit einem guten Frühstück, einem Bier, einem Zigarillo und guten Ratschlägen gegen den „metaphysischen Kater“ aus „(An)ständig trinken“ von Kingsley Amis: U.a. soll man mit einem zünftigen Geschlechtsakt sowie schwermütiger Lektüre und Musik dessen vernichtende Folgen zu lindern versuchen.
Das mit der Musik immerhin gibt’s in der Höhle, wo am Nachmittag die mir noch ganz unbekannten E-L-R aufspielen sollen. Deren sphärischer Doom verfehlt seine Wirkung dann auch wirklich nicht, und so halte ich es trotz eines enorm hohen Lautstärke-Pegels doch ganz gut aus vor der Bühne. Die Songs klingen zwar für mich alle gleich, aber wirken tut das Ganze, trotz fehlender visueller Untermalung am Bühnenhintergrund.
Wie süß KLIMT 1918 dann sind! Unsicher wie eine Schülerband bei ihrem zweiten Auftritt steht der Sänger auf der Bühne, liest jede Ansage und jeden Songtext artig ab und freut sich wie ein kleines Kind darüber, wenn er es mal wieder geschafft hat. Die spielen wohl nicht oft live? Egal, hier und heute tun sie es, und das ist für mich als großen, leidenschaftlichen Fan von „Dopoguerra“ und (vor allem) „Just In Case We’ll Never Meet Again“, diesem unwiderstehlich ohrwurmlastigen Wave-Rock-Pop-Schmachtfetzen von 2008, das erste Highlight des Tages. Der für mich die Atmosphäre eines warmen Sommerabends, an dem es außer unglücklicher Liebe nicht viel zu holen gibt, so gnadenlos abbildet wie kein zweites Album. Leider spielen sie es nicht komplett, sondern bauen auch die m.E. eher belanglosen Stücke ihres aktuellen Albums „Sentimentale Jugend“ in das Set ein. Aber ich genieße, was ich kriegen kann und freue mich darüber.
Danach ist erneut Kräfte sparen angesagt, aber ich höre mir die exzellenten DORDEDUH gerne an, nur halt von etwas weiter hinten. Dank der beiden aufgestellten Leinwände kann ich mir dabei Live-Bilder von der Bühne (leider mit minimaler Verzögerung) angucken und feststellen, dass die wie schon gestern, als sie NEGURA BUNGET dargeboten haben, einfach eine sehr präsente, beeindruckend massive Metal-Macht sind.
Dann wollen die Niederländer DOOL mir beweisen, dass sie ihren Ruf als eine der besten Live-Bands der Welt nicht zu Unrecht haben. Mit „Summerlands“ hat die Band 2020 ein unwiderstehliches Album voller Hits veröffentlicht und durfte dann einfach nicht damit auf die Bühne. Bis heute! Sänger:in Raven hat die Menge von der ersten Sekunde an so dermaßen selbstverständlich im Griff, dass ich aus dem Staunen (und Rocken und Bier trinken) gar nicht mehr rauskomme. Wie geil ist das denn bitte? Die Höhle ist der gleichen Meinung und lässt sich beinahe in jeder Ecke von der Energie, die von DOOL ausgeht, mitreißen. Meine Güte, macht das Spaß! Ich will, dass das nie wieder aufhört!
Aber das muss es ja nun leider. Ich bin fix und fertig und kurze Zeit später finde ich mich nach einem kleinen Spaziergang plötzlich auf dem Sofa wieder – meine Güte, tut das gut! Hier mache ich es mir kurz gemütlich und genieße das Akustik-Set von DEINE LAKAIEN einfach mal im Liegen, die Technik macht es ja möglich. Vermutlich ist das für dieses Setting auch die bessere Wahl, denn schon am Vortag hab ich ja DORNENREICH akustisch am Abend für deplatziert gehalten. Und im Stream hört man keine grölenden Besoffskis, sondern einzig und allein die unfassbare Stimme Alexander Veljanovs und den Flügel Ernst Horns. Zwar habe ich DEINE LAKAIEN in meiner musikalischen Sozialisation immer ignoriert, aber die Lieder der beiden klingen so schön, als dürfte ich das gut und gerne mal bereuen. Nur: Warum um alles in der Welt trägt er diese Frisur…?
Mit EMPYRIUM hat alles begonnen – und das Fest endet mit ihnen
Als ich zu den Zugaben wieder in der Höhle erscheine, stelle ich fest, dass das Duo die Masse wahrscheinlich bestens im Griff hatte und der Auftritt auch hier gut auf mich gewirkt hätte. Aber egal, gleich ist es soweit, EMPYRIUM sind da. Die Band, mit der für mich damals alles begann, die Band, die für mich gemeinsam mit MOONSPELL und TYPE 0 NEGATIVE das Ende einer glücklichen Kindheit und den Beginn einer Jugend als eigenbrötlerischer Trauerkloß mit Baumfetisch einläutete. Na, herzlichen Dank aber auch!
Aber erstmal gibt’s einen ausführlichen Soundcheck, und da man Headliner ist (ja, hier darf das Wort ruhig auch in diesem Kontext benutzt werden), gönnt man sich den Luxus des Überziehens. Als erste Band überhaupt auf dem Festival übrigens, alle anderen sind im Großen und Ganzen pünktlich fertig. Wie schon bei SUN OF THE SLEEPLESS am Vortag macht sich das bezahlt, der Klang ist nahezu perfekt, jedes Instrument differenziert hörbar, jeder Gesang an seinem prominenten Platz. Einmal spielt Thomas Helm gar Flöte, was ein wenig dafür entschädigt, dass selbst zu diesem speziellen Anlass die Querflöte der Albumproduktionen live durch eine Geige ersetzt wird. Darunter leidet der Gesamt-Pegel zwar etwas, aber das ist es wert – und sowieso habe ich einen klaren Klang lieber als eine extreme Lautstärke. Danke dafür!
Und auch für die Setlist, geboten wird ein Querschnitt von heute bis damals, zum Glück mit Ausnahme der eher mäßigen „Turn Of The Tides“-Phase. Lediglich ein weiteres Stück von „A wintersunset…“ als besonderes Bonbon und „Über den Sternen“ als Zugabe hätte ich gerne noch gehört, aber insgesamt bieten Schwadorf und Co. hier eine angemessen perfekte Auswahl ihres Schaffens. Besonderer Höhepunkt ist für mich „The Ensemble of Silence“, mein Lieblings-Stück von „Songs of Moors & Misty Fields“, zum Glück bin ich in meiner direkten Umgebung nicht der einzige, der ekstatisch tanzend vor Wehmut glüht dabei.
Alles in allem zeigt sich das Publikum jedoch erstaunlich reserviert, vermutlich zu gleichen Teilen der späten Stunde und der Ehrfurcht geschuldet. Hier spielt immerhin eine erwachsene, hoch professionelle, aber doch in jeder Minute emotional wahrhaftige Band Lieder, die ihr Bandleader als Jugendlicher geschrieben und andere Jugendliche bzw. junge Erwachsene einst für das größte musikalische Werk ihrer Generation gehalten haben – und, verdammt nochmal, das werden sie für mich auch immer bleiben!
Ein gelungenes, wunderschönes Jubiläums-Festival geht dann angemessen zu Ende. Für mich persönlich hätten musikalisch noch ein-zwei Höhepunkte zusätzlich dabei sein können, und ich hätte eine Ausstellung zur Label-Geschichte schön gefunden (und zwar dort, wo das Merch aufgebaut war, aber ich sehe ein, dass der Merch-Verkauf finanziell einfach zu wichtig ist, um den knappen Platz in der Höhle dafür herzugeben). Aber das ist Meckern auf geradezu unheimlich hohem Niveau angesichts des wunderschönen Jubiläumsbuchs, das es gratis zum Eintritt gab, und des hochkarätigen Line-Ups in diesen schwierigen Zeiten.
Viel ist geschrieben worden zum Charakter und zur Einzigartigkeit von Prophecy Productions, und ich will eigentlich nichts davon wiederholen. Vielleicht aber ergänzen, wie spannend ich es immer wieder finde, mit welcher Nonchalance Martin Koller und Co. einfach den Bogen von wertkonservativem Neofolk und urigem Black Metal bis hin zu zeitgenössischem Dream Pop und feministischem Post-Metal spannen – und dabei noch zig andere Facetten Subkultur mitnehmen, einfach weil sie’s können. Hut ab – auf die nächsten fünfundzwanzig Jahre!
Fotos: Andreas Holz/vampster.com