Ich war 19 Jahre alt, als DORNENREICH mit ihrem jugendlichen Sturm-&-Drang-Werk „Her von welken Nächten“ meine musikalische Welt auf den Kopf stellten. Das Album ließ mich über Monate nicht mehr los, und die Band bescherte mir auf der Prophecy-Konzertnacht 2001 ein dazu paassendes berauschendes Erlebnis sondergleichen. Damals wie heute gehe ich auf solche Events üblicherweise allein, denn mein Freundeskreis ist in anderen Szenen zuhaus. Das ist nicht schlimm, aber wir wachsen in einer Atmosphäre auf, in der der einsame Gang zu Kulturveranstaltungen für viele Menschen ein absolutes No-Go ist. Groß ist die Angst vor Stigmatisierung als „einsamer Sonderling“ oder vor Belästigung (dies betrifft vor allem Frauen), und sie ist leider nicht unberechtigt. Ich kenne Menschen, die sogar niemals alleine ins Programmkino gehen würden, obwohl man da ja nun wirklich nicht einmal miteinander sprechen darf. Eine komische Welt ist das!
Achtzehn Jahre später stehe ich also allein unter zahlreichen Grüppchen und Pärchen auf dem Hof der Sputnikhalle in Münster und wundere mich mal wieder darüber, wie extrem heteronormativ es in der Metal-Szene zugeht; vor allem den Pärchen ist es wie immer anzusehen, dass sie allen gerne zeigen möchten, wie sehr sie „zusammen“ sind, gleichgeschlechtliche Paare sieht man keine, und so ganz alleine hier scheinen die wenigsten zu sein. Nebenbei bemerkt ist auch das Line-Up (bis auf eine Künstlerin alles Männer) ein guter Beweis dafür, wie stark das Patriarchat in dieser Szene noch ist – im Punk ist man da mittlerweile sehr viel fortschrittlicher unterwegs, im Folk sowieso schon lange. Dafür geht die Quote an Nazi-Merchandise gen Null, denn die veranstaltende Konzertgruppe hat im Vorfeld deutlich gemacht, dass sie sich Frieden und Toleranz wünscht; zum Glück haben keine sozialdemokratischen Parteien die Gunst der Stunde genutzt und Wahlkampfstände angemeldet! Lediglich eine Art öko-anarcho-primitivistischen Mini-Büchertisch gibt es von Vendetta Records; dort kann man sich vergilbte Taschenbücher über das hoffentlich bald eintretende Ende der menschlichen Zivilisation für 15 Euro kaufen, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll; besonders antifaschistisch ist das jedenfalls auch nicht, aber egal, ich bin ja wegen der Musik hier.
PANOPTICON und DORNENREICH live – krasser Scheiß!
Als letztes Jahr die ersten beiden Deutschland-Konzerte von PANOPTICON angekündigt wurden, war die Vorfreude immens – dass sich zum Line-Up dieses Tages dann noch CRONE und DORNENREICH gesellen würden, dazu noch einige andere interessante Gruppen, eine Podiumsdiskussion und eine kleine Kunstausstellung, war da noch nicht abzusehen. Was ich damals auch nicht wusste: dass DORNENREICH hier gemeinsam mit HERETOIR-Sänger „Eklatanz“ ein von „Her von welken Nächten“ geprägtes Set spielen würden, mithin mein berauschendes Erlebnis von 2001 eine Wiederholung erfahren könnte. „Krasser Scheiß“, wie wir Jugendlichen sagen!
Erstmal aber Kunst. Die neuen Gemälde von IRRWISCH gefallen mir sehr gut, z.B. gibt es das Cover-Artwork zu DUNCAN EVANS‚ „Prayers For An Absentee“ im Original zu sehen. Diese Ausstellung wirkt noch intensiver als die 2017 in der Balver Höhle – das mag auch an der stimmungsvollen Beleuchtung mit Schwarzlicht liegen. Fast kaufe ich mir eins der Bilder – 200 Euro ist ein guter Preis. Die ungleich teureren (1000 Euro!) Werke von Jeff Grimaldi hingegen wirken auf mich wie plumpes Farbgeschluder, erst recht neben Carmen Albas zarten Skizzen und Zeichnungen.
Hochinteressantes Line-Up, unterhaltsame Podiumsdiskussion, großartige Headliner – das CULTHE-FEST 2019 ist schon am ersten Tag ein Erfolg
Das Fest beginnt für mich dann musikalisch mit CRONE – die „Art Stage“ im Triptychon hüllt sich und den ganzen Raum ohne Unterlass in dichten Nebel, die Bühne ist geschmackvoll dekoriert, und die Band zeigt sich in guter Form. Zwar merkt man vor allem Sänger Phil die Nervosität an, aber der Funke springt über. Für meinen Geschmack werden lediglich zu wenige Songs von „Godspeed“ gespielt, und leider leidet der Sound unter zuviel Bass. Das Publikum stört’s wenig, es gibt trotz der herzlich unmetallischen Musik sogar Pommesgabeln zu sehen, und vor mir schüttelt ein Lockenkopf sein Shampoo durch den Raum. Herrlich.
WALDGEFLÜSTER dann, die einzige deutsche Band auf meinem Lieblingslabel Nordvis, und leider auch die einzige Band darauf, die ich nicht leiden kann. Auf Platte einfach langweilig, und live führt sich Mastermind „Winterherz“ (allein der Name!) auf wie der tollste Hecht, hat aber schon zu Beginn kaum noch Stimme, und als er krächzend und vor Pathos bebend „einen Song von unserer ersten Scheibe“ ankündigt, nehme ich Reißaus – von dem Wort rollen sich mir die Fußnägel auf, da bin ich empfindlich; schlimmer ist nur „Silberling“.
Ich brauche eine Pause, gut, dass jetzt eine im Programm ist, eine Podiumsdiskussion nämlich, moderiert von „Krachmucker TV“-Ernie, seines Zeichens ehemaliger Kopf von FÄULNIS. Der sitzt da zusammen mit Phil von CRONE und SECRETS OF THE MOON, Florian von EIS und Alex/IRRWISCH. Sie reden über Cover-Artwork bzw. die visuelle Umsetzung von Musik, und das tun sie auf unterhaltsame und interessante Art und Weise. Mir wird dabei mal wieder bewusst, wie sehr viel kommerzieller und professioneller die Metal-Szene gegenüber der Punk-Szene ist, denn es werden Probleme besprochen, die es in letzterer deutlich seltener gibt, weil eh alle alles selber machen bzw. Aufträge auf freundschaftlicher Basis und mit mündlichen „Verträgen“ vergeben werden (und es funktioniert auch). Ernie freut sich am Ende sehr über den Erfolg dieses Experiments, und man sieht ihm an, wie sehr ihm seine neue Rolle als prominenter Metal-Journalist gefällt – was man auch daran merkt, dass ich ihn kein einziges Mal im Publikum gesehen habe. Aber kann ihn auch einfach verpasst haben.
Als nächstes bin ich gespannt auf HERETOIR. Fand sie auf Platte bisher immer langweilig (Post Black Metal halt…), aber live ist das schon ganz cool. Sänger „Eklatanz“ mit seinen langen Rastas und seiner unfassbar geilen Schreistimme ist die Aufmerksamkeit alleine wert, und die Songs haben auch ihre Momente, wenngleich ich mit dieser Stilrichtung in diesem Leben wohl – bis auf wenige Ausnahmen – nicht mehr wirklich warm werde. Die Band spielt jedoch sehr stark, und das zahlreiche Publikum – das Festival ist ausverkauft – feiert sie gnadenlos und erneut trotz der teilweise völlig unmetallischen Musik sehr traditionell (Pommesgabeln!) ab. HERETOIR sind sichtlich gerührt, auch das schön zu sehen.
EIS sind danach dran, wieder so eine Band, mit der ich nie warm geworden bin. EIS sind ja sehr traditionell, aber dadurch auch sehr „normal“, und bei mir kommt außer hoher technischer Kompetenz (der Lead-Gitarrist fällt mir besonders auf, er profitiert auch sehr vom guten Sound) da wenig rüber. Das ist nett, brutal, lässt hin und wieder aufhorchen, aber mich irgendwie kalt.
Wirklich berühren können mich nur DORNENREICH – die dafür aber mal so richtig!
Also rüber zum Soundcheck von DORNENREICH. Huch, die testen Zeilen aus „Schwarz schaut tiefsten Lichterglanz“? Ich bin entzückt, kann mein Glück noch nicht so richtig fassen, teile es aber schonmal meinen vampster-Kollegen via WhatsApp mit – „in RL“ sind ja keine Freunde da. Macht nichts, ich bin plötzlich wieder neunzehn, ach Quatsch, bin nie älter gewesen! Los geht’s, noch vergleichweise aktuell mit der Metal-Version von „Jagd“, aber dann: „Schwarz schaut tiefsten Lichterglanz“ und „Eigenwach“! Moritz Neuner am Schlagzeug, was für ein Meister, Eklatanz von HERETOIR als Neuzugang an Gesang und Bass, Eviga in Höchstform, genauso bewegt von dieser Neuauflage seiner Sturm-&-Drang-Zeit wie alle im Raum, neunzehn Jahre später endlich in korrekter Instrumentierung! (Damals hatte noch Bass gefehlt.) Inves Geige ist von Anfang an klar und strahlend zu hören, nur mit dem melodischen Gesang hat der Soundmann zu kämpfen – ein Jammer, dass er erst bei „Eigenwach“ dann zu hören ist, und eigentlich unverständlich, war doch der Soundcheck lang genug! Schade auch, dass es am Anfang noch zu voll ist, aber dann lichten sich die hinteren Reihen etwas, und ich kann meine Lieblingsposition fünf Meter vor der Bühne, mittig, einnehmen. „Wer hat Angst vor Einsamkeit?“ – ich ganz bestimmt nicht! Es ist wirklich fast wie 2001, ich kann trotz aller Selbstironie, die sich bei Schunkel-Zeilen wie „Ich sterbe mehrher“ dann doch ein wenig in den Vordergrund schiebt, nicht anders als mich zu bewegen als wäre ich allein im Raum, das Konzert fühlt sich an wie ein Rausch. Mit „Leben lechzend Herzgeflüster“ werde ich gar noch jünger, Eklatanz strahlt hier ganz wundervoll; dann „Erst deine Träne löscht den Brand“, eine Verschnaufpause vom neueren „Flammentriebe“, ehe mit „Trauerbrandung“ jede Schranke fällt. Danke, DORNENREICH!
PANOPTICON kann dagegen nur verlieren, obwohl vermutlich die meisten heute wegen ihnen hier sind. Siehe da, vor mir steht wieder der Shampoo-Lockenkopf von vor sieben Stunden, deutlich angeschlagen, aber nicht am Ende. Er gibt wieder alles, aber ehe er sich die Halswirbel komplett ruinieren kann, zieht ihn – natürlich – seine Freundin raus, denn morgen ist ja schließlich auch noch ein Tag. Nicht so für mich, ich brauche das nicht zwei Tage am Stück, denn wirklich mitreißen hat mich ja auch heute nur DORNENREICH können. Auch PANOPTICON schaffen es trotz des tollen Gefühls, sie endlich mal live zu sehen, nicht, was vielleicht auch daran liegt, dass die Setlist nicht gut auf mich abgestimmt ist (Frechheit aber auch!) – lediglich ein Song vom neuen Album, keiner von „Kentucky“, schade. Musikalisch dennoch ein Genuss, denn obwohl der Gesang viel zu laut ist (quasi das Gegenteil von den Album-Produktionen), ist der Rest angenehm kompakt abgemischt und ergibt ein stimmiges Gesamtbild. Besonders beeindruckend ist Austin Lunns Vertreter am Schlagzeug, ein schmächtiger Nerd mit Jesus-Frisur, der mühelos und immer auf den Punkt eine Stunde am Stück diese Raserei abliefert. Lunn selbst kann an Gitarre und Mikro überzeugen, was mich etwas wundert, da ich auf Platte wegen des teilweise komisch leiernden Klangs immer das Gefühl habe, dass er höchstens ein mittelmäßiger Gitarrist ist – aber vielleicht steht er einfach auf diesen Sound.
Und dann schnell nach Hause, denn ich muss ja niemandem Tschüs sagen. Bis nächstes Jahr hoffentlich!