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AYREON: Emotion ist das Schlüsselwort

“Elf Sänger sollt ihr sein.” – und Arjen Lucassen euer Teamchef. Der Holländer, der mit “The Human Equation” die Messlatte für alle folgenden Rockopern mal wieder ein Stück höher gelegt hat, zeigte sich als sehr auskunftsfreudiger Gesprächspartner und beleuchtete nicht nur das inhaltliche Konzept des neuen Albums, sondern gab auch einen Einblick in seine Arbeitsweise, verriet seine geheimsten Träume und sang ein Loblied auf seine Fans und seine mexikanische Neuentdeckung Marcela Bovio.

“Elf Sänger sollt ihr sein.” – und Arjen Lucassen euer Teamchef. Der Holländer, der mit “The Human Equation” die Messlatte für alle folgenden Rockopern mal wieder ein Stück höher gelegt hat, zeigte sich als sehr auskunftsfreudiger Gesprächspartner und beleuchtete nicht nur das inhaltliche Konzept des neuen Albums, sondern gab auch einen Einblick in seine Arbeitsweise, verriet seine geheimsten Träume und sang ein Loblied auf seine Fans und seine mexikanische Neuentdeckung Marcela Bovio.

Nachdem deine bisherigen Alben sich immer mit Fantasy-, Science Fiction- und Space Opera-Themen beschäftigten, ist “The Human Equation” nun ein Album, welches sich mit der Natur des Menschen auseinandersetzt und in unserer heutigen Gesellschaft spielt. Hast du das Interesse an Science Fiction and Fantasy verloren?

Nein, ganz und gar nicht. Ich bin immer noch ein großer Science Fiction- und Fantasy-Freak. Aber ich habe Kritiken von Journalisten bekommen, die schrieben: “Deine Musik ist großartig, aber deine Texte sind irgendwie Käse. Du schreibst immer über Electric Castles, Schwerter und Ritter und so ein Zeug.” Aber ich stimme da ihnen da nicht wirklich zu, denn ich denke, dass das nur die Oberfläche ist. Die Oberfläche ist Science Fiction, Fantasy und Electric Castles, aber in Wahrheit ging es bei meinen Alben schon immer um menschliche Emotionen. Bei “Into The Electric Castle” war es ein Alien, der auf der Suche nach Emotionen war und etwas über die menschlichen Emotionen herausfinden wollte. Diesmal habe ich mir also gedacht, dass ich zur Abwechslung die Science Fiction weglasse und nur die Emotionen, nur das grundlegende Konzept all meiner Alben übrig behalte.

Ich habe herausgefunden, dass Emotion das Schlüsselwort in meiner Musik ist. Ich habe mir die STAR ONE-DVD “Live On Earth” angeschaut und bemerkt, wieviele Emotionen da auf der Bühne und im Publikum da waren. Wir haben “Set Your Controls” gespielt, und du siehst die Leute headbangen und ihre Fäuste in die Luft strecken. Und dann spielten wir “Valley Of The Queens”, und du siehst die Leute weinen. Wir spielten “Into The Black Hole”, was wirklich unheimlich und düster war, und wir haben auf der Bühne Scherze gemacht, und die siehst die Leute lachen. Ich habe also gedacht: “Emotion ist das Schlüsselwort, also versuche ich ein Album über Emotionen zu machen. Wäre es nicht großartig, verschiedene Sänger Emotionen porträtieren zu lassen?” So habe ich also die Idee dazu bekommen, aber es ist nicht so, dass ich das Interesse an Science Fiction und Fantasy verloren hätte. Es ist nur, um die Dinge für mich selbst frisch zu halten, etwas anderes zu tun. Ich liebe es auch, Dinge zu tun, die die Leute nicht erwarten, das mag ich immer.

Ich habe dich auch bei der Konzeptshow von AFTER FOREVER in Tilburg gesehen und war dort auch wirklich bewegt von deinem kleinen Auftritt.

Du warst da? Das ist großartig! Nun, als ich dort “Valley Of The Queens” gespielt habe, habe ich drei Mädchen gesehen in der ersten Reihe, die geweint haben. Sie hatten rote Augen, und sie haben nicht nur ein bisschen geweint, sondern wirklich stark, und das ist so ein großes Kompliment für einen Musiker.

Zurück zum neuen Album. Die Hauptfigur und sein bester Freund sind beide eigentlich eher gute Menschen, aber sie beide haben gesündigt, indem sie den anderen betrogen haben. War es für dich wichtig, die Charaktere nicht in schwarz und weiß zu zeichnen?

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Ja, sehr wichtig, weil ich nicht denke, dass der Mensch schwarz und weiß ist. Ich denke, man kann die menschliche Gleichung nicht lösen. Jeder Mensch ist ein Individuum, und jeder Mensch hat so viele Emotionen, jeder ist schlecht und jeder ist gut. Und was ich mit dieser Geschichte im Grunde sagen will ist, dass man ehrlich zu sich selbst sein muss, was bedeutet, sich mit seinen eigenen Emotionen auseinanderzusetzen. Und sobald man ehrlich zu sich selbst ist, kann man auch zu anderen Leuten ehrlich sein und wird feststellen, dass wenn man zu anderen ehrlich ist, diese auch zu einem selbst ehrlich sein werden. Das klingt sehr weise, aber das ist halt das, was ich in meinem bisherigen Leben herausgefunden habe.

In der Geschichte, als der beste Freund des Mannes ihm gesteht, dass er etwas mit seiner Frau hatte, ist dies der Auslöser für den Mann, der ihn dazu bringt aus dem Koma zu erwachen, neben der Tatsache dass der Mann im Koma seinem Freund gestehen will, dass er ihn vor langer Zeit mal geschäftlich verraten hat. Das ist der Grund, warum er aus dem Koma aufwachen will… ja, das war eine gute Frage (lacht).

Danke. Du hast erwähnt, dass es unmöglich sei, die menschliche Gleichung zu lösen. Ist also das das Wichtige im Leben, nicht die Gleichung zu lösen, sondern herauszufinden, welche Variablen überhaupt Teil der Gleichung sind?

Absolut, ja. Und das ist, was ich mit dieser Geschichte versuche zu tun. Ich versuche ein Bild zu malen von jemandem, der ein schlechter Mensch zu sein scheint, weil er seinen Freund verraten hat, weil er nur darauf aus ist, Geld zu verdienen, weil er seine Frau vernachlässigt. Er hat sogar seine Mutter vernachlässigt, die gestorben ist, weil er nicht da war, um ihr zu helfen. Was ich aber zeigen will ist, dass dies kein schlechter Mensch ist. Es ist einfach ein Mensch, der sich nicht mit seinen eigenen Gefühlen auseinandergesetzt hat, jemand, der nicht bewusst gelebt hat und der eine schlechte Erziehung hatte und einen Vater, der ihn geschlagen hat und ihn sehr zu einem Konkurrenzmenschen gemacht hat. Dieser Kerl will eigentlich ein Künstler sein, aber sein Vater hat ihn dazu gedrängt Geld zu verdienen, ein Geschäftsmann zu sein. Und das ist auch etwas, was ich sehr viel um mich herum sehe, Leute, die Dinge tun, die sie nicht tun wollen, und manchmal sind sie wirklich gute Schauspieler oder Musiker, oder sie können etwas sehr Künstlerisches machen, aber sie hatten einen Vater, der ihnen dies nicht erlaubt hat oder was auch immer. Ich denke also, dieses Album ist auch über Erziehung, was meiner Meinung nach sehr wichtig im Leben ist.

Es ist eigentlich sehr interessant, dass das aktuelle Album von AFTER FOREVER von ähnlichen Themen handelt.

Richtig, ja. Es ist natürlich purer Zufall, aber es stimmt, dort geht es auch darum, über seine Kindheit nachzudenken und so weiter.

Was ist mit dem Vater? Der scheint ja der wirklich böse Kerl in der Geschichte zu sein. Du hast aber eben gesagt, dass es bei Menschen kein schwarz und weiß gibt.

Ich sehe den Vater nicht einmal als schlechten Menschen, ich sehe ihn als einen Verlierer. Er nennt seinen Sohn einen Verlierer, er schreit ihn an, aber im Grunde redet er zu sich selbst. Er weiß es selbst nicht, aber er redet mit sich selbst. Das ist das der Grund, warum der Song ein fröhlicher Song zu sein scheint. Er hat dieses lustie Thema, aber es macht den Mann einfach lächerlich, der viel eher ein Verlierer ist als sein eigener Sohn. Vielleicht wäre dieser Mann also, wenn wir in sein Leben eintauchten und wenn er seine Gefühle konfrontierte, ebenfalls kein schlechter Mensch.

Warum hast du eigentlich das neue Album wieder als Doppel-CD veröffentlicht, nachdem du “The Universal Migrator” als zwei seperate CDs herausgebracht hattest?

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Nun, im Grunde will ich mit jedem Album etwas anderes machen. Das erste war sehr bombastisch, das zweite viel moderner und elektronischer. Dann kam “Into The Electric Castle”, das ein großes Doppel-Album war, ein Konzeptalbum mit viel Dialog-Gesang. Nach “Into The Electric Castle” wollte ich wieder etwas Neues machen, wusste aber nicht was. Also ich mir gedacht: “Warum trenne ich nicht einfach meine zwei Stile?” Ich habe zwei Seiten in mir. Eine ist die wirklich metallische, kräftige Seite, und die andere ist die Prog-Seite mit melodischerem und Ambient-Zeug. Auf der einen Seite mag ich Bands wie DEEP PURPLE oder RAINBOW, auf der anderen aber Bands wie PINK FLOYD. Ich habe mir also gedacht: “Wäre es nicht großartig, diese zwei Stile zu trennen und wirklich zwei einzelne Alben zu machen?” Auf diese Art würden die Prog-Fans zufriedengestellt, die das softe Album kaufen könnten, und ich könnte ebenfalls die Metalfans zufriedenstellen, denn sie könnten das Metalalbum kaufen.

Wenn ich aber auf diese Entscheidung zurückblicke, so mag es vielleicht nicht die richtige gewesen sein, denn ich habe viele Reaktionen von Fans bekommen, die sagten: “Was wir an AYREON mögen sind all die verschiedenen Stile, all die verschiedenen Emotionen.” Da haben wir wieder das Wort Emotion (lacht). Das ist es, was sie mögen, von einem Extrem ins andere zu wechseln. Eine Stelle ist sehr düster und doomig, und im nächsten Moment ist es sehr fröhlich und 60er-mäßig oder folkig. Die Fans dachten, es sei eine Schande, dass ich diese zwei Stile getrennt habe. Bei diesem neuen Album habe ich also gedacht, dass diese Wahl vielleicht ein bisschen erzwungen war, vielelicht war sie ein bisschen wie eine Formel und eine Limitierung. Diesmal wollte ich keine Limitierungen, und ich wollte zurückgehen. Ich wollte ein bisschen was von jedem Album auf diesem Album haben, das Proggige des ersten Albums, das Elektronische des zweiten Albums, all den Dialog-Gesang von “Into The Electric Castle”, das Ambient-Zeug von “Dream Sequencer” und das kräftige Zeug von “Flight Of The Migrator”. Mehr oder weniger ist es also eine Mixtur all meiner Alben, ergänzt durch einige neue Elemente, wie etwa der Tatsache, dass das Konzept anders ist oder dass ich eine siebensaitige Gitarre gekauft habe mit diesem wirklich fetten New Metal-Sound. Und was auch wirklich neu ist an diesem Album ist die Tatsache, dass ich nur mit Sängern zusammengearbeitet habe, mit denen ich nie zuvor gearbeitet habe, und auch mit den Musikern, das war ein guter Weg für mich, um neuen Input zu bekommen. Es ist eine neue Herausforderung, auch für die Hörer, es ist ein neuer Sound aufgrund all der neuen Musiker.

Ich denke, “The Human Equation” ist wirklich abwechslungsreicher und auch extremer ausgefallen als deine bisherigen Alben. Die Folkteile sind noch folkiger und die Metaltpassagen teilweise noch härter. War das ein bewusster Schritt, mehr die Extreme auszuloten?

Definitiv, ja. Ich mag Extreme einfach. Deshalb habe ich auch diese Sänger ausgewählt. Nimm eine Band wie OPETH. Auf der anderen Seite sind sie sehr brutaler und sehr extremer Death Metal, auf der anderen Seite machen sie ein Album wie “Damnation“, welches eher trip-hoppig und floydy ist und in die Richtung von PORCUPINE TREE geht. Und DEVIN TOWNSEND ist natürlich ein sehr extremer Sänger mit extremer Musik, und MOSTLY AUTUMN mit Heather Findlay wiederum ist auf der anderen Seite extrem, es ist sehr folkig. Ich liebe es, von einem Extrem ins andere geworfen zu werden, und es hält die Leute wach.

Waren die verschiedenen Sänger gleichzeitig im Studio, oder alle nacheinander?

Nun, das ist natürlich unmöglich, weil ich mit einem Sänger zwei oder drei Tage an einem Song arbeite und es wirklich schwer ist, diese Sänger in mein Studio zu kriegen. Das übrigens ist sehr wichtig für mich. Bei dem Album geht es um Emotionen, also es ist sehr wichtig für mich, dass sie in mein Studio kommen und dass sie neben mir stehen und wir zusammen an den Songs arbeiten. Ich fände es nicht gut, jedem Tapes zu schicken oder das Zug übers Internet oder so zu verschicken. Also kamen sie alle in mein Studio, was wirklich großartig war, denn dann kannst du zum Beispiel sagen: “Lass und diese Strophe etwas tiefer probieren, lass uns hier eine zweite Stimme ausprobieren.” Das habe ich wirklich genossen. Aber sie alle zusammen ins Studio zu bekommen wäre unmöglich, weil sie alle so beschäftigt sind.

Wahrscheinlich genauso unmöglich wie eine Liveshow…

Absolut (lacht). Mit STAR ONE war es möglich, weil es ein Nebenprojekt war und rockorientierter war. Es war ein einfacheres Projekt, wo wir dann sozusagen AYREON-Songs gecovert haben. Aber mit diesem Projekt ist es anders, es hat so viele unterschiedliche Stile, und es hat elf Sänger. Mit elf Sängern auf Tour zu gehen wäre viel zu teuer, und es wäre zu schwierig, sie alle zusammen zu bekommen, denn Bands wie OPETH oder DREAM THEATER sind ja ständig am Touren.

Als du die Sänger für das neue Album ausgewählt hast, hast du da einen Unterschied gemerkt zu früher, dass du vielleicht für die ersten Alben selbst die Leute fragen musstest, ob sie nicht auf deinem Album singen wollen und dass es jetzt vielleicht sogar so ist, dass die Leute auf dich zukommen und fragen, ob sie dabei sein dürfen?

Das is großartig, ja! Am Anfang musste ich dafür kämpfen. Bei Sängern wie FISH oder BRUCE DICKINSON hat es mich ein halbes Jahr gekostet, sie zu überzeugen, sogar Anneke von THE GATHERING, es war wirklich sehr schwierig sie alle zu überzeugen. Aber jetzt kommen die Leute tatsächlich auf mich zu, und das ist so ein großes Kompliment. Es war seltsam, dass James LaBrie mich kontaktiert hat. Das ist unglaublich! Einer der berühmtesten Sänger nimmt zu mir Kontakt auf und sagt mir: “Hey man, AYREON ist wirklich toll, ich möchte ein Teil davon sein, ich möchte auf dem nächsten Album sein und werde so viel singen, wie du möchtest!” Das ist also wirklich eine sehr luxuriöse Position. Aber dann gibt es natürlich auch Leute, die mich nicht kennen und die ich nicht erreichen kann. Mein größter Traum ist es, eines Tages mit Ronnie James Dio zu arbeiten oder mit ALICE COOPER. Diese Leute kennen mich nicht, und in der Lage zu sein, mit denjenigen zu arbeiten, deren Musik du als Heranwachsender gehört hast, wäre natürlich das größte Kompliment, das man bekommen kann. Aber ich beklage mich nicht (lacht).

Für “The Human Equation” hast du eine Art Wettbewerb auf deiner Website gestartet, wo die Leute dir ihre Aufnahmen schicken konnten, das Resultat war dann die Zusammenarbeit mit Marcela Bovio. Wie kamst du auf die Idee zu so einem Wettbewerb?

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Die kam mir aufgrund des AMBEON-Albums, das ich 2000 gemacht habe. Ursprünglich wollte ich ein Instrumentalalbum machen, aber dann habe ich eine Mail von diesem vierzehnjährigen Mädchen bekommen, und sie ist in mein Studio gekommen und war unglaublich. Zu dem Zeitpunkt habe ich mir gedacht, dass es noch mehr talentierte Sänger und Sängerinnen wie sie auf der Welt geben muss, die keine Chance bekommen, weil unsere Musik nicht im Fernsehen oder Radio gespielt wird. Ich habe also auf der Website einen Aufruf gepostet und die Fans ermutigt, ihre Sachen einzuschicken, und ich habe gesagt: “Schickt es einfach, ich verspreche, dass ich einen auswähle, um auf dem nächsten AYREON-Album mitzuwirken.

Ich habe dann etwa 150 CDs bekommen und sie mir alle angehört, was sehr viel Arbeit war. Ich habe sie auch alle beantwortet, und ich glaube, CD Nummer 80 war die von ELFONÍA, Marcelas Band. Ich habe sie mir angehört und hatte überall eine Gänsehaut und dachte: “Ja, das ist sie!” Am Ende waren dann ein paar Mädchen übrig, aber ich habe sie ausgewählt und ihr eine E-mail geschickt, in der ich schrieb: “Möchtest du nach Holland kommen? Ich werde dich einfliegen lassen von Mexiko.” Sie ist ein AYREON-Fan, und sie antwortete: “Ja, ja, aber ich weiß nicht, ich bin noch nie außerhalb von Mexiko gewesen.” Ich antwortete: “Nun, das macht nichts, du kannst deinen Freund mitbringen oder wen auch immer.” Sie kam dann also aus Mexiko, und ich erwartete, dass dieser Fan wirlich unsicher und nervös sei. Aber es war wirklich das Gegenteil, sie war so lustig und intelligent, sie hatte viele eigene Ideen, sie war sehr kreativ und sah gut aus. Für sie ist ein Traum wahr geworden, aber auch für mich. Es war alles so, wie ich gehofft hatte, ich habe ein neues Talent entdeckt, das war ein großer Erfolg.

Marcela war nicht die einzige, die mir unbekannt war. Auch Heather Findlay war für mich persönlich eine Neuentdeckung und hat mich positiv überrascht.

Sie ist von einer englischen Folkband, die auch PINK FLOYD sehr nahe sind. Ich kannte sie vorher, weil ich sie als Support für BLACKMORE’S NIGHT in Deutschland gesehen habe. Das war das erste Mal, dass ich sie gesehen habe.

Du hast also diesen Wettbewerb gemacht über deine Website, über den wir eben gesprochen haben. Was aber hältst du denn von all diesen Castingshows im Fernsehen, die ebenfalls behaupten, neue Talente ins Rampenlicht zu bringen?

Es ist ganz lustig, sich das anzuschauen, und auf der anderen Seite denke ich, ist es gefährlich für diese Kids, denn hier in Holland gab es nur einen, der wirklich toll war, die anderen haben zwar sehr viel Aufmerksamkeit bekommen, waren aber nicht wirklich tolle Sänger. Okay, verglichen mit den ganzen anderen waren sie gut, weil die ganzen anderen wirklich schlecht waren. Sie bekommen also für ein paar Monate viel Aufmerksamkeit, sie sind große Stars, und dann ganz plötzlich bemerken die Leute, dass sie nicht so toll sind und sie finden selbst heraus, dass sie nicht so toll sind, und das wird sie nicht zu glücklichen Leuten machen. Ich denke, dass es ein bisschen beängstigend ist für diese Kids. Außerdem mag ich es, wenn die Leute mit eigenen Ideen, eigenen Songs ankommen und sich entwickeln. Ich habe mich entwickelt, ich habe 35 Jahre gebraucht, bis ich soweit war, AYREON zu machen, es gab also nur einen Weg nach oben für mich. Aber wenn du einmal so einen großen Erfolg hast, gibt es danach nur noch einen Weg nach unten, und das wünsche ich niemandem. Aber auf der anderen Seite ist dieser Typ, der hier in Holland gewonnen hat ein großartiger Sänger und wer weiß, es könnte in einer schönen Karriere resultieren.

Glaubst du, dass die Popmusik sich derzeit in der kreativen Talsohle befindet?

Es war schon immer schlecht. Gucke dir nur die Siebziger an mit BONEY M und all dem Mist, und gucke dir die Achtziger an mit all dem Disko-Scheiß. Ich meine, es war schon immer scheiße. Es war immer auf der einen Seite echte Musik und auf der anderen Scheiß-Musik. Wenn ich mir die Top 50 hier in Holland anschaue, kann ich nichts Gutes entdecken. Okay, ab und zu gibt es eine Band wie MUSE oder COLDPLAY, aber der Rest sind doch nur diese singenden Schauspieler und all diese Idole. Es ist keine Musik mehr, es hat nichts mit Musik zu tun. Es geht alles nur um das Geld und Werbung.

Ich erzähle dir eine Geschichte. Von meiner Single wurden hier in der ersten Woche 1.500 Exemplare verkauft, was fast das meiste war, was ich in dem Zeitraum jemals verkauft habe in Holland. Ich bin damit also auf dem 20. Platz der Single-Verkaufscharts gekommen, aber ich bin nicht in die Top 50 gekommen, weil ich nicht im Radio gespielt werde. Kannst du dir das vorstellen? Was für ein Bullshit! Ich habe die am zwanzigst besten verkaufende Single in Holland, und ich komme nicht in die Top 50. Ich gebe es also am besten auf, das ist eine andere Welt, es ist nicht meine Welt. Ich liebe die Fans, die ich jetzt habe, sie sind sehr loyal, sind bleiben immer treu, jedes Mal warten sie auf mein neues Album, und sie werden mich nicht morgen wieder vergessen. Ich glaube, ich habe die beste Zuhörerschaft, die man sich wünschen kann.

Okay, dann lass uns mal über das Komponieren und Aufnehmen sprechen. Wie gehst du denn generell vor, wenn du ein Konzeptalbum schreibst? Ist da erst die Musik, oder schreibst du erst die Texte?

Ich fange immer mit der Musik an. Ich beginne mit kleinen Ideen, kleinen Gitarrenriffs oder was auch immer, und diese nehme ich auf einem kleinen Kassettenrecorder auf. Anschließend gehe ich ins Studio und arbeite an all diesen kleinen Ideen, schmeiße sie weg oder füge sie zusammen. Dann habe ich die Musik, etwa 20 Songs in diesem Fall. Ich fange dann an, mir die Musik anzuhören und schaue, welche Bilder sie bei mir heraufbeschwört. Ich lasse mich also durch die Musik zu einer Geschichte inspirieren. Nun, offensichtlich gab es diesmal viele verschiedene Stile, also bekam ich dann die Idee von verschiedenen Stilen, verschiedenen Emotionen, verschiedenen Sängern.

Als nächstes suche ich nach Sängern, und sobald ich diese habe, beginne ich die Texte zu schreiben. Ich schreibe die Texte auf die Sänger zugeschnitten. Es ist also nicht so, dass ich einen Charakter Wut habe in meiner Geschichte und jemanden suche, der diesen porträtieren kann. Es ist eher so: “Okay, ich habe Devin Townsend, also werde ich für die Geschichte einen Charakter Wut schreiben.” Es ist also anders herum, als man es erwarten würde.

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Es macht immer sehr viel Spaß, sich deine AYREON-Alben mit guten Kopfhörern anzuhören. Wie bewusst legst du Wert auf einen hohen Detailgrad und Dynamik in deinen Songs?

Ich bin ein absoluter Perfektionist. Ich denke, das rührt daher, dass ich wirklich unsicher bin. Ich bin auch jetzt wieder unsicher, was das neue Album betrifft, dass ich mir sage: “Vielleicht ist es überhaupt nicht gut.” Und weil ich so unsicher bin, möchte ich alles perfekt machen. Und du hast die Kopfhörer angesprochen. Nun, tatsächlich mache ich die meiste meiner Musik mit Kopfhörern, ich mische sogar mit Kopfhörern. Ich liebe all diese Details. Ich mag es, dass man sich ein Album zehnmal anhören und immer noch neue kleine Dinge entdecken kann. Das ist sehr wichtig für mich, aber auf der anderen Seite sollte man nicht die Emotionen verlieren. Man kann zu perfektionistisch sein, indem man alles perfekt aufnimmt oder alles mit dem Computer macht und überall Samples hinzufügt. Ich möchte deshalb auf der einen Seite die Spontaneität der Musik und der Musiker wahren und auf der anderen Seite es schließlich perfekt machen beim Mix.

Wenn also zum Beispiel ein Sänger hier ist, möchte ich sehr spontan sein. Normalerweise ist es das erste Take, das mir am besten gefällt. Und es ist auch spontan, weil all diese Sänger nie zuvor hier gewesen sind, sie haben diese Songs nie zuvor gesungen, es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie diese Songs singen, also bekommt man auf jeden Fall eine spontane Aufnahme.

Wie stellst du dir denn den typischen AYREON-Hörer vor?

Es sind Leute, die aufgeschlossen sind und Leute, die abenteuerlustig sind. Wenn du nur Metal magst, nur Bands wie AC/DC oder IRON MAIDEN, dann ist meine Musik nichts für dich. Auf der anderen Seite, wenn du nur PINK FLOYD magst und harte Gitarren hasst, dann ist meine Musik nichts für dich. Oder wenn du dich für Folk-Musik begeisterst, aber Metal hasst, ist es nichts für dich. Es ist also etwas für Leute, die mehr wollen als Musik, es ist für Leute, die Musik wirklich genießen können, die sich die Zeit nehmen sie sich anzuhören und die für eine Weile flüchten wollen.

Das Lustige ist, dass es kein bestimmtes Alter gibt für meine Hörer, was ich gemerkt habe auf der STAR ONE-Tour. Da waren sechzehn- oder siebzehnjährige Kids, diese Gothic-Kids, die AFTER FOREVER hören und meine Musik mögen. Aber dann waren da wiederum auch 50-jährige, die mit den BEATLES aufgewachsen sind und den BEATLES-Einfluss erkennen. Und dann sind da Leute in den Vierzigern wie ich, die die Einflüsse der Siebziger erkennen, sie hören RAINBOW, URIAH HEEP und JETHRO TULL in meiner Musik. Dann waren da Leute in den Dreißigern, die den Metal in meiner Musik wiederfinden, das JUDAS PRIEST-Zeug und das BLACK SABBATH-Zeug aus den Achtzigern, und schließlich sind da die Leute in den Zwanzigern, die ALICE IN CHAINS und derartige Einflüsse heraushören. Das Lustige ist also dass sich meine Hörer überall finden und dass es alle möglichen unterschiedlichen Leute sind, Rocker, Folkies und Goths, und das ist großartig!

Das Interessante ist, dass ich, obwohl ich mich zu den Metalfans rechne, die Progseite von AYREON bevorzuge. Hast du dafür eine Erklärung?

Nun, das ist das Lustige, was mit “The Universal Migrator” passierte. Ich habe den “Dream Sequencer” für die Proggies und “Flight Of The Migrator” für die Metaller gemacht. Aber es gab so viele Metalfans, die “Dream Sequencer” bevorzugten, denn es ist dunkel, es fängt mit “House On Mars” an mit Johan Edlund. Das ist witzig. Und auch viele Progfans hören sich meine Alben an und mögen die Metalparts nicht, aber da müssen sie durch. Und dann hören sie es sich fünfmal oder so an und ziehen schließlich sogar die Metalteile den Progteilen vor, das ist eine witzige Sache.

Wird es eigentlich jemals eine Fortsetzung des AMBEON-Albums geben?

Lustig, dass du das ansprichst, denn ich habe erst kürzlich darüber nachgedacht. Ich plane niemals im vorraus, ich weiß nie, was ich als nächstes machen werde, aber natürlich ist sowas immer im Hinterkopf, und diesmal habe ich einige Optionen. Ich kann ein Soloalbum oder ein Instrumentalalbum machen, ich kann ein weiteres STAR ONE- oder ein weiteres AMBEON-Album machen. Aber momentan denke ich wirklich darüber nach, ein einfaches Album zu mache mit nicht so vielen Sängern und nicht so vielen verschiedenen Stilen.

Ich würde sehr gerne ein weiteres AMBEON-Album machen. Das einzige Problem dabei ist, dass ich den Kontakt zu Astrid verloren habe. Sie ist durch eine schlechte Zeit gegangen, ihre Eltern haben sich geschieden, sie ist mit 15 von Zuhause abgehauen, sie ist nicht mehr zur Schule gegangen, sie ist mit jemandem zusammengezogen, der doppelt so alt ist wie sie, und ich habe sie aus den Augen verloren. Ich habe viel mit ihrer Mutter gesprochen, aber sise hört auch nichts mehr von ihr. Manchmal trifft ihre Schwester sie, und sie ist glücklicherweise noch mit Musik beschäftigt. Ich hoffe, sie passt gut auf sich auf, aber ich kann momentan nicht mit ihr in Kontakt treten. Ich könnte, wenn ich es wirklich wollte, aber ich denke nicht, dass sie kontaktiert werden will.

Und ein AMBEON-Album ohne sie wäre gar nicht möglich?

Es wäre möglich für mich. Ich müsste das mit den Fans abchecken. Vielleicht werde ich eines Tages die Fans auf der Website fragen, was sie darüber denken würden.

Fotos: InsideOut Music

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