blank

PLACEBO: Never Let Me Go

PLACEBO träufeln uns wieder bittersüßes Gift in Form eingängiger Indie-Hymnen in die Ohren. Und doch ist auf ihrem neuen Album “Never Let Me Go” manches anders. So düster und wütend klang die Band nie: Die großen Melodien sind trotzdem wieder da. Ein Album, das Zeit braucht, aber wächst.

Wem bitte soll man PLACEBO noch vorstellen? Seit 1996 versorgt uns die Band mit eingängigen Indie-Hymnen, mit viel Schmerz und Kajal und umarmenden Gesten, die auf große Bühnen schielen. Wir erinnern uns an den Soundtrack von “Eiskalte Engel”, jenes herrlich abgründige Intrigenspiel, in dem Sarah Michelle Gellar den Zungenkuss mit Selma Blair übt. Wir erinnern uns an Sänger Brian Molko, der mit flehender und androgyner Stimme den DAVID BOWIE für eine Generation gab, die zu jung war, um Bowie in seiner Hochzeit miterlebt zu haben. Große Gesten, das ganz große Gefühl, auch Teenage Angst, Traurigkeit, Selbstzweifel. Und immer auch ein wenig Hedonismus, eine schüchterne Lustbetontheit, die aus dem Glam Rock und sogar dem Punk entlehnt war.

Ja, ich gebe es zu: Ich war damals Fan der Band. Ging ja auch gar nicht anders. Alle Girls, in die man hoffnungslos verknallt gewesen ist, waren hemmungslose PLACEBO-Ultras, stellten sich schon Stunden vor den Konzerten an, um Molko und Bassist Stefan Olsdal (er ist offen gay) in der ersten Reihe anzuhimmeln. So haftete der Band stets das Stigma an, eine Teenie-Band zu sein, eine Art vertonter Coming-of-Age-Roman. Schnell konnte man übersehen, dass das, was die Briten da darboten, einfach verdammt gute Musik ist. Alternative, aber auch Stadion Rock, mit infektiösen Melodien und clever gemacht. Und ich muss ein zweites Eingeständnis machen: Ich habe diese Band in den letzten Jahren eher aus den Augen verloren. Schnappte hier und da noch einen Song auf, las die eine oder andere Kritik, habe die Band sogar nochmal live gesehen, könnte so um 2013 herum gewesen sein. Und da war ein großes Schulterzucken. Ich will nicht verleugnen: Auch für mich war das Musik aus einer anderen Epoche, vertonte Adoleszenz. Eine Phase, die man irgendwie überwunden glaubte.

PLACEBO sind erwachsen geworden

Umso überraschter war ich, als ein neues PLACEBO-Album auftauchte. Es ist das erste Studio-Album seit neun Jahren, seit „Loud Like Love“ von 2013. Also auf Kopfhörern aufgedreht, mit viel Skepsis und einem Augenblinzeln. Come on: Die Frage war nicht unberechtigt, ob diese Band noch relevant ist und was zu sagen hat. Ob das ein Nostalgie-Trip in Zeiten wird, die einem vielleicht selbst ein bisschen peinlich sein könnten. Nope, ich muss es zugeben: Die Musik hat mich sofort gepackt. Was die Briten hier abliefern, ist einfach ein verdammt gutes Rock-Album. Wenn auch mit stilistischen Ausbrüchen.

Die alten Momente sind noch da. Noch immer fleht und leidet Molko mit androgyner Stimme, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Noch immer sind da eingängige Songs mit Harmonien, die bittersüß und einschmeichelnd klingen. Songs, die man so schnell nicht mehr aus dem Ohr bekommt, ja: auch pathetisch sind. Aber sie funktionieren. Schon immer hatte die Band ein Talent für große Refrains. Wieder wird die Effekt-Maschine angeschmissen, gibt es viel Hall. Und diesmal auch elektronische Momente. Manche Songs sind verschleppt, fast an Trip Hop geschult. Es pluggert und plaggert im Hintergrund. Synthesizer sind allgegenwärtig auf diesem Album. Auch eine Folge dessen, dass man nun als Duo musiziert und sich vom mittlerweile dritten Schlagzeuger getrennt hat.

Aber da ist eben auch mehr. Reife, Melancholie und eine neue Düsterheit, die ich so bisher nicht von der Band kannte. Manchmal fast resignativ tönend. Aber dringlich, wütend und damit kämpferisch. In diesem Jahr wird Molko seinen 50. Geburtstag feiern. Auf den Promo-Fotos hat er das androgyne Image abgelegt: mit Schnurrbart und Hut sieht er fast aus wie diese Schauspieler, die in Hollywood-Filmen einen abgehalfterten Rockstar spielen. In einigen Rezensionen las ich, dass sich PLACEBO zu sehr auf Altbewährtes verlassen, dass sie ihr Rezept herunterspulen. Es stimmt einfach nicht.

Denn „Never Let Me Go“ ist vielleicht das, was „Disintegration“ für THE CURE war: ein vertonter Abgrund, ein -manchmal- verstörendes und gar schmerzhaftes Hörerlebnis. Bereits der Opener „Forever Chemicals“ steigt mit reichlich schrägen, disharmonischen Tönen ein. Molko hat hierfür einen Harfen-Loop mit einem Drum-Loop gekreuzt: dann eine schräg tönende Gitarre, die alles ist, nur nicht gefällig. Molko, der selbst unter Suchtproblemen litt, singt von Drogen, von Apathie: von Enttäuschungen. „Es ist alles gut, wenn es niemanden kümmert/ Es ist alles gut, wenn ich nichts fühle/ Es ist alles gut, wenn ich nicht da bin/ Und mit Freunden wie dir (oh)/ Wer braucht da schon Feinde?“, singt Molko im einprägsamen Refrain. Es ist ein Hit: aber kein einfacher Hit. Keiner, der auf Nummer sicher geht.

Der „typische“ PLACEBO-Sound? Da ist mehr!

Ja, es gibt auch die typischen PLACEBO-Singles auf dem Album. Track Numero zwei, „Beautiful James“, ist die erste Auskoppelung: die Synthies, sehr im 80s-Style tönend, sind hier fast ein wenig zu dominant und vielleicht sogar aufdringlich. Eine Hymne für die LQTB-Bewegung: aber auch dieser Song ist eigentlich gut. Den Refrain bekommt man so schnell nicht aus den Ohren. Ähnlich „Try Better Next Time“, der ohne Synthies auskommt, aber sich so sehr in den Kanon der PLACEBO-Hits einreiht, dass man an große Konzerthallen und an mitsingende Fans denken muss. Das Thema: ein ernstes. Molko singt über einen zerstörten Planeten, der keinerlei Lebensgrundlage mehr bietet, zu heiß und trocken ist, sodass sich die Menschen zu Meereswesen zurückentwickeln, ihnen Flossen wachsen. Eine Art umgekehrte Evolution. Molko, Vater eines Sohnes, sorgt sich um die Zukunft der Erde. Was er in einschmeichelnde Hymnen packt.

Aber wenn du PLACEBO-Songs sofort mitsingen kannst, wenn sie sich einprägen: Dann kann es beileibe kein schlechtes Album sein. Vielleicht war das meine größte Angst: Dass die Songs einfach egal sind, sie uninspiriert klingen. Mehrere Zeitgenossen der Band haben solche Egal-Alben vorgelegt. Das ist hier nicht der Fall. Es ist tatsächlich Dringlichkeit zu spüren. Die Briten haben ein Händchen für große Melodien, haben in dieser Hinsicht nichts verlernt. Sie klingen wehmütig, ergreifend: und immer noch schräg knarrend und knarzig, wenn es angebracht ist.

Und da ist mehr. „Hugz“ kommt als sympathisch krachende Indie-Hymne daher, mit wummerndem, rauen Bass, lärmigen Gitarren: und Grunge-Feeling. Eine kurze Eruption. Schon immer war es ein Stilmerkmal der Band, dass Molko in einigen Songs seine Textzeilen fast mantraartig wiederholt, nur wenige Worte variiert: fast Sinnsprüchen gleich. Das trägt zum Sog der Nummern bei, verleiht ihnen etwas Ekstatisches. „A hug is just another way of hiding your face“, singt er nun wiederholend, fast sloganhaft. „Eine Umarmung ist nur eine andere Art, sein Gesicht zu verbergen/ Eine Umarmung ist nur ein anderer Weg, dein Gesicht zu verstecken/ Dir in die Augen zu sehen ist wie ein Sprühstoß mit dem Pfefferspray“: Die Einsamkeit einer Umarmung, sich nicht verstanden fühlen selbst in den intimsten Momenten.

Eine apokalyptische Abgründigkeit

Und dieses Klaustrophobische. Manche Songs hier leben eher von ihrer Atmosphäre, von ihrer apokalyptischen Abgründigkeit. „Sorrounded by Spies“ hat ein fast triphoppiges, bedrohliches Feeling: ein Song, der sich nur langsam entfaltet. Auch hier wieder dieses Repetitive, die Melodie in einem permanenten Loop des Immergleichen gefangen, hinzu treten gebrochene Rhythmen. „I saw you jump from a burning building/ Saw you jump from a burning building/ I’ve seen your moves, like Elvis set on fire“. Sich von Spionen umgeben fühlen: auf der Oberfläche ein Text über den Überwachungsstaat. Beim zweiten Blick einer über Verfolgungswahn, sich nirgendwo geborgen fühlen. Das sind die Momente, wo einem die Platte den Boden unter den Füßen wegzieht, die auch Aufmerksamkeit fordern: Songs, die nicht sofort zünden. Aber doch einen Kontrast bilden zu dem Hitfeuerwerk, den PLACEBO auch auf diesem Album abzufeuern wissen.

„Twin Demons“ ist dann tatsächlich einer der besten und drückendsten Rock-Songs, den PLACEBO je abgeliefert haben. Wunderbar harmonische Gitarren, die sich laut in den Vordergrund drängen, erneut ein großer Refrain. Von Dämonen besessen: Alles fällt in sich zusammen. Es sei die wütendste Platte, die sie je aufgenommen haben, sagt Molko: Im Interview mit „Visions“ wütet er gegen Jeff Bezos, gegen McDonalds, gegen den Brexit und das Gefühl von Ohnmacht. Und auch die Coronakrise hat Spuren hinterlassen. „Ich bin durch die letzten Jahre psychisch genauso mitgenommen wie jeder, der ein Herz hat und sich sorgt”, sagt er und erklärt, dass er seit zwei oder drei Monaten unter anhaltenden Schlafstörungen leidet, „ich schlafe dann maximal zwei oder drei Stunden pro Nacht“.

Eine wehmütige Ballade wie “This Is What You Wanted” kommt dann mit sanftem Piano daher: Sie klingt zugleich resigniert und tröstend. Ein großes Zaudern ist zu spüren, Selbstzweifel: und man merkt, dass Placebo mittlerweile eine Zielgruppe anspricht, die mit ihnen gealtert ist. Denn der Song ist zugleich ein Lebens-Resümee, der nach dem Platz im Leben fragt, nach dem Erreichten. “Hey, hey, hey/ Es gibt keinen Grund zur Panik/ Es ist einfach so, wie es ist/ Dein Puls ist schnell und hektisch/ Und es fühlt sich an, als würdest du explodieren/ Das ist, was du wolltest/ Das ist hier und jetzt/ Das ist es, wofür du gekommen bist/ Aber du gehst enttäuscht/ Rissige Haut und gerunzelte Stirn”, singt Molko. Im Interview mit Visions verrät er, dass er mit vielem unzufrieden ist, was aktuell auf der Welt passiert, dass er vieles ändern wolle. “Aber weißt du: Ich bin nur ein Musiker. Ich kommentiere, was ich beobachte, und finde durch meine Texte Trost und eine Form von Selbsttherapie”. PLACEBO sind vermutlich immer noch der Sound ihrer Generation: aber die ist mittlerweile in den 40er Jahren. Und sucht nach Antworten. Der Boden unter den Füßen wankt.

Veröffentlichungstermin: 25.03.2022
So Recordings

Offizielle Webseite: https://www.placeboworld.co.uk/

Line-Up

Brian Molko: Gesang und Gitarre
Stefan Olsdal: Bass

PLACEBO: “Never Let Me Go” Tracklist

1 Forever chemicals
2 Beautiful James (Video bei Youtube)
3 Hugz (Official Audio bei Youtube)
4 Happy birthday in the sky (Official Visualizer bei Youtube)
5 The prodigal
6 Surrounded by spies (Video bei Youtube)
7 Try better next time
8 Sad white reggae
9 Twin demons
10 Chemtrails
11 This is what you wanted
12 Went missing
13 Fix yourself

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner