Die Eröffnung des Testaments: ein nüchterner Verwaltungsvorgang, bei dem vom zuständigen Nachlassgericht meist nicht mehr als die Kopie des letzten Willens des Verstorbenen und das Eröffnungsprotokoll per Post an die erbberechtigten Hinterbliebenen und gegebenenfalls weitere Beteiligte verschickt wird. Weitaus spannender gestalten sich da Testamentsverlesungen z.B. in entsprechenden Hollywood-Streifen. So kommt bspw. in “Grand Hotel Budapest” bei diesem Akt zur Überraschung aller heraus, wen die Erblasserin mit einem überaus wertvollen Gemälde begünstigt hat. Auf den Gedanken, dass sich – ausgehend von diesem Setting – bislang gehütete Familiengeheimnisse über die zur Verlesung anwesenden Personen erzählen lassen, ist auch Mikael Åkerfeldt gekommen. Und Mr. OPETH ist es auch, der für das neueste Album der schwedischen Prog-Ikonen in Ton und Wort (hier mit dramaturgischer Beratung von seiner Frau Klara Rönnqvist Fors (THE HEARD, ex-CRUCIFIED-BARBARA)) Atemberaubendes geschaffen hat.
OPETH zünden ein farbenprächtiges Ideen-Feuerwerk
Dass “The Last Will And Testament” aus kreativer Hinsicht einen Platz in der bandeigenen Beletage einnehmen wird, das konnte man dabei nicht unbedingt erwarten. Nach den Geniestreichen “Blackwater Park” (2001), “Deliverance” (2002) und “Ghost Reveries” (2005), bei denen OPETH (damals mit Peter Lindgren an zweiter Gitarre und Martin Lopez an den Drums) die stetig absteigenden Death-Metal-Anteile mit progressiven Klängen und gefühlvollen Akustikgitarren kongenial vereinten, war es der Liebe Åkerfeldt zum Seventies Prog und Dinosaurier-Combos wie JETHRO TULL, YES, GENTLE GIANT, VAN DER GRAAF GENERATOR, KING CRIMSON oder CAMEL geschuldet, dass OPETH alsbald auf “Heritage”, “Pale Communion” oder “Sorceress” jenen altehrwürdigen Formationen nacheiferten und in mitunter jazzartigen Artrockgewässern badeten.
Eine Kurskorrektur ohne Rücksicht auf Fan-Erwartungshaltungen, die drei interessante Alben hervorbrachte, welche jedoch alle im Schatten vergangener Großtaten standen. Aber die rückblickend enorm wichtig waren, um “The Last Will And Testament” zu ermöglichen. Denn in sieben, lediglich mit nummerierten Paragrafen betitelten Songs zünden die Stockholmer hier ein farbenprächtiges Ideen-Feuerwerk, das einen erstmal überwältigt zurücklässt.
“Erwartet nicht, dass es sofort ‚klickt‘, aber falls doch, dann geht das selbstverständlich auch in Ordnung!”, weiß auch Mikael Åkerfeldt in seinem ureigenen Humor um das, was er da insbesondere von seinen Anhängern verlangt.
„The Last Will And Testament“ ist ein sorgfältigst ausgearbeiteter Patchworkteppich
Das vierzehnte Studioalbum greift auf Elemente der letzten zwanzig Schaffensjahre zurück und ist dennoch mitnichten eine Rückbesinnung auf die eigenen Death Metal-Wurzeln. Wenngleich der für viele Altfans unverzichtbare, urtypisch-tiefe Growlgesang zum ersten Mal seit dem 2008er-Release “Watershed” wieder Einzug gehalten hat. Ein Umstand übrigens, der schon mit den ersten Auskopplungen auf allen möglichen (Social Media-)Plattformen das beherrschende Thema rund um den “Nachlass”-Rundling war, der wegen unvorhergesehener Probleme im Produktionsprozess statt am 11. Oktober nun am 22. November erscheint.
OPETH schrauben vielmehr auf “The Last Will And Testament” ihre 70s-Progflirts soweit herunter, dass sie eine fantastische, symbiotische Beziehung mit dem seit der letzten Scheibe “In Cauda Venenum” wieder vermehrt eingesetzten düsteren, hartmetallischen Selbstverständnis der Band eingehen und innerhalb der Paragrafen-Songs in kurzen Sequenzen rasante Richtungswechsel einläuten. In scheinbar kakophonen Anordnungen reihen OPETH bspw. in „§ 2“ behend groovende Midtempo-Parts, knackige Ausbrüche mit Growlattacken und akustische JETHRO TULL-Reminiszenzen in kurzer Abfolge aneinander. Und zwischendrin dürfen Hammondorgel und cineastische Streicherarrangements auch mal den verträumten Klargesang betten.
Eine musikalische Vielfalt, die andernorts auf der über Reigning Phoenix releasten Scheibe auch mit Harfen- oder Blechgebläse, (Quer-)Flöten, orientalischen Andeutungen und einigen Erzählpassagen in Erscheinung tritt. Neben Åkerfeldts jüngster Tochter Mirjam fungiert übrigens auch JETHRO TULL-Frontmann Ian Anderson als Sprecher – und darf natürlich auch seine Querflöte auspacken (‘§ 4’ und ‘§ 7’). Der Vollständigkeit halber: auf ‚§ 2‘ hat sich EUROPE-Sänger Joey Tempest im Hintergrund verewigt.
Dass sich diese hochkomplexe Mixtur nicht als überambitioniertes, zusammenhangloses Stückwerk niederschlägt wie stellenweise BLIND GUARDIANs “A Night At The Opera”, ist die eigentliche Meisterleistung des begnadeten OPETH-Songwriters. Mit fachmännischem Geschick hat der mittlerweile 50-jährige die einzelnen Teile mit einem scheinbar unsichtbaren Faden so miteinander vernäht, dass ein zusammenhängender und aufs Sorgfältigste ausgearbeiteter Patchworkteppich entstanden ist.
OPETH spielen endgültig in ihrer eigenen Liga
OPETH verstehen es auf diesem Konzeptalbum mehr denn je, mit gefühlvollen Harmoniebögen und dynamischer Virtuosität ein mannigfaltiges und kohärentes Universum zu erschaffen, womit sie auch wegen Neu-Schlagzeuger Waltteri Väyrynen endgültig in ihrer eigenen Liga spielen. Denn der ehemalige PARADISE LOST– und VALLENFYRE-Drummer besitzt mit exzellenten Classic Rock-, Progrock- und hartmetallischen Grooves ein breitgefächertes Repertoire und haut sämtliche, rhythmisch diffizile Patterns mit unverschämter Leichtigkeit und stets im songdienlichen Flow heraus. Und hat dadurch maßgeblichen Anteil daran, dass „The Last Will And Testament“ ein durch und durch hochspannendes Album geworden ist, welches unverkennbar nach der 1990 gegründeten Formation klingt, auf dem zugleich aber deren Trademarks auf beeindruckende Weise transformiert und auf ein höheres Level gezogen worden sind.
Über allem macht sich – ans Grundthema der Geschichte angelehnt – eine unbehagliche und geheimnisvoll-kribbelige Stimmung breit, die mal mit spärlicher instrumentaler Akzentuierung, meist jedoch mit disharmonisch-schummrigen Melodien erzeugt wird, die mitunter auch von Bassist Martín Méndez’ beklemmender Nebenspielwiese WHITE STONES entnommen sein könnten.
Und worum geht es nun bei dieser opulent inszenierten Geschichte, die von Travis Smith mit einem grandios-schaurigen “Familienaufstellung”-Artwork im Stanley Kubrick “Overlook Hotel”-Style visualisiert worden ist?
„The Last Will And Testament“ ist ein Meisterwerk der progressiven Künste
Laut Mikael Åkerfeldt ist die Story in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt und erzählt “die Geschichte eines wohlhabenden, konservativen Patriarchen, dessen letzter Wille bzw. dessen Testament schockierende Familiengeheimnisse zutage bringt. Die Songs spiegeln dabei vielerlei Geständnisse aus Sicht jenes Patriarchen wider, beziehen aber auch die Reaktionen seiner Zwillingskinder mit ein. Dazu kommt die Anwesenheit eines an Polio erkrankten Mädchens, um das die Familie sich kümmert. Den Auftakt des Ganzen bildet dabei die Verlesung des letzten Willens des Vaters in dessen Villa. Unter den Versammelten befindet sich auch das erwähnte junge Mädchen, das trotz seines Waisendaseins und seiner Polioerkrankung von der Familie großgezogen wurde. Dessen Anwesenheit bei der Testamentseröffnung lassen Verdächtigungen und Fragen unter den Zwillingen aufkommen.”
Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Nach sieben faszinierenden und fordernden Kapiteln gibt es mit dem finalen ‘A Story Never Told’ aber auch eine synapsenschonende Belohnung. Der grandiose Abschluss von “The Last Will And Testament” ist eine mit zarten Streichern und Querflöte getragene Ballade mit – verglichen mit dem, was davor alles passiert ist – gängigen Strukturen, butterweichen Harmonien und einem ausladenden Solo, welches das Album wundervoll ausklingen lässt.
OPETH haben ihrer Diskographie mit “The Last Will And Testament” einen weiteren Meilenstein hinzugefügt und mit diesem Meisterwerk der progressiven Künste ihre Erbmasse beträchtlich anwachsen lassen. Ich ziehe meinen Hut!
Veröffentlichung: 22. November 2024
Spielzeit: 50:59 Minuten
Label: Reigning Phoenix Music
Line Up:
Mikael Åkerfeldt – Gesang, Gitarre
Fredrik Åkesson – Gitarre, Begleitgesang
Martín Méndez – Bass
Waltteri Väyrynen – Schlagzeug, Perkussion
Joakim Svalberg – Keyboards, Begleitgesang
Gäste:
Ian Anderson (JETHRO TULL) – Sprecher (Track 1, 2, 4 und 7) // Flöte (Track 4 und 7)
Joey Tempest (EUROPE) – Begleitgesang (Track 2)
Mirjam Åkerfeldt – Sprecherin (Track 1)
Musik und Texte: Mikael Åkerfeldt
Lyrisches Konzept: Mikael Åkerfeldt (dramaturgische Beratung: Klara Rönnqvist Fors)
Produktion: Mikael Åkerfeldt
Koproduktion: OPETH und Stefan Boman
Technische Umsetzung: Stefan Boman, Joe Jones und OPETH
Mix: Stefan Boman, Mikael Åkerfeldt und OPETH in den Atlantis / Hammerthorpe Studios Stockholm, Schweden
Mastering und Vinylschnitt: Miles Showell in den Abbey Road Studios, London, UK
Streicherdirigent: Dave Stewart in den Angel Studios, London, UK
Cover: Travis Smith
OPETH „The Last Will And Testament“ Tracklist
01. §1 (Stream) (Lyrics-Video bei YouTube)
02. §2
03. §3 (Audio bei YouTube)
04. §4
05. §5
06. §6
07. §7
08. A Story Never Told
OPETH „The Last Will And Testament“ – Europatour 2025
Support: GRAND MAGUS
09.02.2025 FI Helsinki – Helsingin Jäähalli
11.02.2025 SE Stockhom – Cirkus
12.02.2025 NO Oslo – Sentrum Scene
14.02.2025 DK Copenhagen – DR Koncerthuset
15.02.2025 DE Hamburg – Docks
17.02.2025 DE Köln – Palladium
18.02.2025 DE Berlin – Tempodrom
19.02.2025 DE München – Muffathalle
21.02.2025 FR Paris – L’Olympia
22.02.2025 NL Amsterdam – AFAS Live
23.02.2025 BE Brüssel – Ancienne Belgique
OPETH Diskographie (nur Studioalben)
Orchid (1995)
Morningrise (1996)
My Arms, Your Hearse (1998)
Still Life (1999)
Blackwater Park (2001)
Deliverance (2002)
Damnation (2003)
Ghost Reveries (2005)
Watershed (2008)
Heritage (2011)
Pale Communion (2014)
Sorceress (2016)
In Cauda Venenum (2019)
The Last Will And Testament (2024)