Zunächst Verwunderung über den Bandnamen. HIPPOTRAKTOR: Was soll das denn sein? Ein Traktor für Nilpferde? Und können Nilpferde überhaupt Traktor fahren? Fragen über Fragen. Aber der abgefahrene Bandname passt sehr gut zu der Musik der Belgier, deren Debüt uns mit Meridian vorliegt. Denn die ist ebenfalls reichlich abgefahren. Und er passt zum Konzept des Albums. Lassen wir Songwriter und Gitarrist Chiaran Verheyden zu Wort kommen: “Es erzählt die Geschichte von jemandem, der sich in einer Welt verirrt hat, die zu groß ist, um sie zu verstehen, und der Antworten an Orten sucht, an denen er keine finden kann.”
HIPPOTRAKTOR spielen – so heißt es im Promozettel der Plattenfirma – Progressive Metal. Es ist jene Art von Progressive, mit der man Puristen herrlich ärgern kann. GOJIRA und MESHUGGAH werden als Einfluss genannt. Das trifft vor allem auf die zentnerschweren Gitarren zu. Tief gestimmt und fett produziert, planieren sie das Gedärm, nur um im nächsten Moment -melodisch flirrend- atmosphärische Soundteppiche zu weben. Verschrobene Powerchords treffen auf rhytmische Widerhaken, die man erst einmal verarbeiten muss. Das Schlagzeug von Lander De Nyn groovt oft hart im mittleren Tempo: nur um dann komplexe Patterns zu streuen, die fast an rituelle Tribal-Rhythmen erinnern.
Das Genre Djent erwähne ich an dieser Stelle nur deshalb nicht, weil einige da gleich abspringen würden. Aber mehr ehrlich: Konsequenter als Djent hat den Prog Metal kaum ein Genre weitergedacht. Synkopische Eskapaden, die klassische Rockstrukturen aufbrechen, virtuose Kabinettstücke, ohne an Härte zu verlieren: Es ist ein Verdienst dieser Art von Musik, ein junges Publikum für komplexe Klänge zu begeistern. Und auch HIPPOTRAKTOR kommen mit einer gesunden Heavyness daher, die sich eher im Bereich des Thrash- und Death Metal bewegt. An manchen Stellen durchaus Headbanger-tauglich: okay, wenn man nicht den Einsatz verpasst.
„Meridian“ ist ein Konzeptalbum über die Suche nach Antworten
Andere Trademarks des „klassischen“ Progressive behalten die Belgier aber bei. Sieben Songs präsentiert das Album: in ausladenden Kompositionen, die auch mal mäandern und wuchern, eine Reise durch verschiedene Stimmungen und Emotionen. Zunächst ein Hörvergnügen, das Aufmerksamkeit verlangt. Und ja: „Vergnügen“ meine ich auch so, denn das hier ist ein sehr reifes Frühwerk. Das hier hat Hand und Fuß: mögen die Gliedmaßen auch ähnlich verzerrt und entfremdet sein wie auf einem Gemälde von Picasso.
Typisch für das Prog-Genre sind auch die großen Themen, Religion und Philosophie, teils mit überbordenden Gesten und gewolltem Pathos vorgetragen. Ein Konzeptalbum über die Suche nach Antworten, ja dem Lebenssinn: Da erkennt man die unehelichen Urenkel von PINK FLOYD. Oder um Sänger und Texter Stefan De Graef zu zitieren: „Meridian erzählt die Geschichte eines einsamen Wanderers auf der Erde in Abwesenheit anderer Wesen. Ohne jemanden, mit dem er Wissen und Geschichte teilen kann, ist der Protagonist gezwungen, seine eigenen Wahrheiten und Geschichten über die Natur des Lebens, des Bewusstseins und des Universums zu erschaffen“. Puh, schwere Kost.
De Graef ist auch kein Unbekannter. Sänger und Gitarrist bei PSYCHONAUT, die ebenfalls wie dieses Debüt von Pelagic Records verlegt werden: und ein ähnliches Amalgam aus höchst zeitgenössischen und klassischen Klängen anrühren. Ja, seinen Gesang muss man mögen. In vielen Momenten ist es dieses melodische Brüllen und Shouten in hoher Stimmlage, das aggressiv tönt und jugendlich ungestüm, aber viel Kontrolle der Stimme erfordert. Ist das jetzt eigentlich noch Klargesang, ist das Emo-Geshoute, höre ich da auch die Screams des Göteborg-Death-Metal heraus? Es klingt angriffslustig, zugleich flehend, manchmal verzweifelt: Es ist irgendwo dazwischen.
HIPPOTRAKTOR musizieren durchaus facettenreich
Und nein: Die Songs fallen nicht in Chaos auseinander, auch wenn man durchaus komplex agiert. Blickt man auf die Spielzeit der Songs, sind diese eher kompakt gehalten. Zwischen fünf und sieben Minuten Spielzeit bewegen sich die meisten. Aber in dieser Zeit passiert recht viel. Es gibt Hooks und eingängige Refrains, die eben Zeit brauchen. Schon wegen dieser Hooks werden einige Traditionalisten „Verrat“ schreien. Nicht ganz so catchy, wie man das vom Progcore der ARCHITECTS kennt, denn die Belgier halten den Prog-Anteil höher, sind widerspenstiger. Interessant ist, dass die Band zunächst als Instrumentaltrio gegründet wurde, erst später der Gesang hinzukam. Das spricht für die Ausgetüfteltheit der musikalischen Arrangements.
Es fällt schwer, einen speziellen Song hervorzuheben. Der Opener „Manifest of Mountain“ ist ein harter und hektischer Midtempo-Brecher, der im Mittelteil aber auch schon atmosphärisch-melancholische Passagen vorzeigt. Und spätestens beim zweiten Titel „Mover of Skies“ zeigt sich die andere Facette des Hippo-Sounds. Schwere groovende Gitarren, die tatsächlich an GOJIRA erinnern, aber auch an TOOL, singt hier De Graef in der Strophe zunächst mit tieferer, klarer Stimme, begleitet vom zweiten Sänger Sander Rom. Harmoniegesang, der eher an Bands wie ANATHEMA gemahnt, vielleicht auch an die melodischen Parts von SWALLOW THE SUN. Auch dieser Part wird von einem aggressiv geshouteten Mittelteil gebrochen, von tiefer gestimmten Djent-Brachialriffs. Man will es dem Hörer nicht zu leicht machen.
Der Wunsch nach Zerstörung
Die Grundstimmung des Albums: eher pessimistisch, manchmal gar vergeblich. Auch das unterscheidet die Band vom „klassischen“ Prog-Metal. Während DREAM THEATER und Co. in ihren Texten ein dunkles Tal durchschreiten, um dann doch wieder Erlösungs- und Erweckungs-Momente zumindest anzudeuten, sitzt der Held des vorliegenden Albums auf seiner Suche nach Erkenntnis oft Trugbildern auf, die sich als Enttäuschung entpuppen. Das muss man aushalten können. Die Musik sei auch eine Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie, berichtet Lyriker De Graef. Ja: Fressen und gefressen werden.
Oder um es mit De Graefs eigenen Worten zu sagen: „Im weiteren Verlauf des Albums erreicht der Protagonist kurze Momente der Gelassenheit. Seine Unfähigkeit, diesen Zustand zu bewahren, führt jedoch dazu, dass die Geschichte abrupt mit dem Wunsch nach der vollständigen und totalen Zerstörung seiner selbst, der Welt und des Schöpfers, der ihm diese Last der Existenz auferlegt hat, endet“. So zitiert ihn das Fuze Magazin. Puh, schwere Kost. Aber das hatte ich schon erwähnt.
In diesem Sinne funktionieren auch die Djent-Riffs. Von jeher ist diesem Sound eine gewisse Kälte zu eigen, die Unbehagen erzeugt: verstärkt durch die dissonanten Brechungen. Es gibt ein gewisses Samuel-Beckett-Moment in diesem Sound, das vergebliche Warten auf Godot. Und doch präsentieren HIPPOTRAKTOR dann wieder einschmeichelnde, fast wohlige Melodien. Stärkster Beleg hierfür: Song Numero drei, „Sons of Aneshma“. Der melodischste und eingängigste Titel auf diesem Album, ebenfalls mit viel harmonischem Klargesang. Wer einen tief hinabziehen will, sollte auch verzaubern können: Davon zeugt der Sirenen-Gesang im antiken Mythos.
Bekannte Zutaten gekonnt vermischt
Der vierte Titel „God is in the Slumber“ ist dann eine recht eingängige, hart groovende Midtempo-Nummer: und vorab als Single ausgekoppelt. Es wird gekreischt und gefrickelt. Die folgenden Songs fallen nicht wesentlich ab. Man kann das Album ganz gut am Stück durchhören, ja man muss es vielleicht sogar: wenn einen die genannten Zutaten nicht stören. Nicht Kreischgesang, nicht rhythmische Brechungen, nicht modern groovende Gitarren. Die manchmal gar Breakdown-Riffs zitieren. Wieder so ein Wort, bei dem Prog-Metal-Fans der alten Schule Ausschlag bekommen und sich die Haut wund kratzen: Breakdown.
Macht nichts. Es ist gut, dass sich die Musik weiterentwickelt, eine neue Generation an Fans nachkommt. Und sicher: Die Zutaten, die HIPPOTRAKTOR hier verrühren, sind nicht wirklich neu. Auch Djent und Modern Prog muss aufpassen, dass die Musik nicht in Konventionen erstickt, in Klischees erstarrt. Hier ist die Gefahr zumindest nicht gegeben, weil die Band doch kompetent genug ist, das bekannte Rezept mit raffinierten Zutaten neu zu verfeinern.
HIPPOTRAKTOR: Meridian
Veröffentlichung am 15.10.2021 auf Pelagic Records
Tracklist:
1. Manifest the Mountain
2. Mover of Skies
3.Sons of Amesha
4. God is in the Slumber (Official Audio)
5. Juncture
6. Beacons
7. A Final Animation
Offizielle Bandseite auf Pelagic Records
Stefan de Graef: Vocals
Jakob Fiszer: Bass
Chiaran Verheyden: Guitar
Lander De Nyn: Drums
Sander Rom: Guitar, Vocals