Wer erinnert sich an Metal Ballads Vol. 2? Das 1989er Kleinod von einem Sampler, auf dessen Cover ein muskulöser Typ mit Vintage-Jeans und güldenem Haar eine halbnackte Schönheit innig und schmachtend umarmt? Beide knien auf einem Bergvorsprung, und natürlich fragte man sich nicht, was die da oben wollen und ob es keinen besseren Ort für das Techtelmechtel gab. Wahrscheinlich müssen sie mit einem Hubschrauber der Bergrettung wieder heruntergeholt werden. Metal und Romantik, das wissen wir spätestens seit MANOWAR, prallen oft aneinander ab wie zwei Magnetpole. Chattie, also ChatGPT, würde sich schämen, so ein Cover zu entwerfen.
Auf diesem Sampler fand sich auch „Love Don’t Lie“, diese herrliche Schmachtnummer mit Pathos und Zuckerguss, die einen 12-Jährigen (mich!) vom ersten Mal träumen ließ. Eine Angebetete zu diesen sanften Klängen verführen? Jessas! Schreibt man über Lieblingssongs der Pubertät, wird es schnell schlüpfrig. Die Urheber dieses Songs, HOUSE OF LORDS, galten damals als Balladenband.
Gerade ihre ruhigen Nummern waren vom Feinsten, auf Fotos posierten sie mit güldenen Locken, übergroßen Gürtelschnallen und Puffärmeln. Das Hemd oft weit offen, um das frisch gekämmte Brusthaar zu zeigen. Wir wissen, wie das endete: Kurt Cobain hatte keine Lust auf diese Art von Romantik, und die 90er fegten diesen Sound fast komplett weg. Wer damals versuchte, mit HOUSE OF LORDS ein Girl (oder einen Boy) aus der Parallelklasse zu beeindrucken, erntete meist Lacher oder mitleidige Blicke. Gott hat dem Hard-Rock-Softie so manche schwere Prüfung auferlegt. Die schwerste kam von Beavis und Butthead, die diese Musik mit spöttischen Kommentaren zerlegten.
HOUSE OF LORDS: Rohdiamanten des Melodic Rock mit „neuer“ Mannschaft
Ach ja, die HOUSE OF LORDS: Lasst uns kurz in Nostalgie schwelgen. 1988 von KISS-Bassist Gene Simmons für sein Label gesignt, erspielten sie sich mit ihren ersten drei Alben den Ruf einer exzellenten Melodic-Rock-Band.
Der Mix aus rockigen Nummern und Balladen war oft wenig ausgewogen, sodass gefühlt sechs ruhige Herzschmerz-Songs pro Album das Ohr umschmeichelten. Die Tracks waren meist stark, und das Keyboardspiel von Hauptsongwriter und Goldlöckchen Gregg Giuffria verlieh ihnen eine erhabene, pompöse Note – und eine gewisse Eigenständigkeit. Dazu kam die markante Stimme von James Christian, damals einer der besten seiner Zunft. Mit rauer, kräftiger Stimme säuselte er seine Balladen genauso überzeugend, wie er in den härteren Songs den Hardrock-Crooner gab. Unter den Donuts im Candyladen waren die Lords die Sahnetorte.
Und heute? Nach einer zwölfjährigen Pause sind die HOUSE OF LORDS seit 2004 wieder aktiv. Sänger James Christian ist das einzig verbliebene Originalmitglied, seitdem veröffentlichen sie regelmäßig Alben. Der Sound hat sich gewandelt: weniger Schmalz, mehr moderner Hardrock. „Full Tilt Overdrive“ ist mittlerweile das zwölfte Studioalbum. Schon das Cover gibt die Richtung vor: Ein blinkender Flipperautomat in einem altehrwürdigen, leicht unheimlichen Gebäude, umgeben von Kerzen (klar, ein bisschen cringe – typisch KI?). Der Albumtitel: „Mit Vollgas im Overdrive“. Der Motor heult auf, bis er stottert und ätzt, wird auf Hochtouren gefahren. Heute geht’s dreckiger zu – eher V8 als Edelkutsche mit Vollblütern.
Für das Gitarrenspiel ist seit 2005 Jimi Bell verantwortlich: Typ verhinderter Gitarrenhero in der Endgegner-Version. Er hat unter anderem bereits Werbejingle für Wrestling und die amerikanische Rennserie NASCAR geschrieben. Dass sein Spiel eher muskulös und breitbeinig daher kommt, verwundert folglich nicht. Seine Riffs und Soli sind eine Stärke auf dem vorliegenden Album. Mit kraftvoll treibenden Powerchords unterlegt er Christians Stimme, mal hart und schroff, mal mit einem rauen, bluesigen Knarren. Dann wieder schälen sich flinke und filigrane Soli heraus, melodische Leads. Neben klassischen Hardrock-Riffs der RATT/DOKKEN-Schule lässt er auch immer mal wieder schnelle Akkordfolgen hören, wie wir sie eher aus dem melodischen Metal kennen.
Und dann gibt es noch Keyboarder Mark Mangold, der den heutigen Sound der Band mitprägt – und seit dem 2022er Album „Saints and Sinners“ mit an Bord ist. Im Vergleich zu Giuffrias früher sehr dominantem Spiel tritt er eher in den Hintergrund und setzt verstärkt auf traditionellere Klänge: Hammond-Sounds und gelegentlich verspielte, bombastische Passagen, die an die 70er Jahre oder an Melodic Metal erinnern. Und ja, dem Synthesizer-Solo ist er nicht abgeneigt, Jon Lord lässt grüßen. Mangold hat übrigens auch für JENNIFER RUSH und MICHAEL BOLTON komponiert – um mal beim Thema Cringe zu bleiben.
Aber wie bereits geschrieben: auf zuckrige Balladen und formatfreundliche AOR-Klänge haben die nicht mehr ganz so jungen Herren anno 2024 eher selten Lust. Wenn das hier Melodic Rock ist, dann ist er wie Obelix als Kind in den Zaubertrank gefallen und strotzt vor Kraft. Dazu passt, dass der Schwede Johan Koleberg den vakant gewordenen Posten hinterm Schlagzeug übernommen hat. Wir kennen ihn unter anderem von THERION und den True-Metallern WOLF. Mit einfachen, aber effektiven Rhythmen treibt er die Songs voran, oft im schnelleren mittleren Tempo.
„Full Tilt Overdrive“ lässt von Beginn an die Muskeln spielen
Nachdem nun die Mannschaftsaufstellung verkündet ist (meine Güte, warum kann ich mich nicht kurz fassen?), schnallen wir uns an und starten den Motor. Was erwartet uns auf dem neuen Output der adeligen Rocker?
Ein kurzes Sprachsampel zum Einstieg, ein Wirrwarr von Stimmen, dann ein markantes, schroffes Riff, die Hammondorgel steigt ein: und satter Groove. Gleich zu Beginn reitet die Lordschaft mit „Crowded Room“ zur Attacke. Ein eher düsterer Song, „Zu viele Stimmen in meinem Kopf/ Ich kenne sie alle beim Namen/ Ich, ich brauche einen Retter“, fleht Christian.
Auch mit 71 Jahren ist der Edelsänger noch exzellent bei Stimme – sein raues Timbre sofort wiedererkennbar. In den Höhen fehlt es zwar etwas an Kraft, doch Christian bleibt ein Sänger, der den Unterschied macht, egal ob er druckvoll-aggressiv oder sanft und verletzlich singt. „Kein Platz in diesem überfüllten Raum, / Weckst mich mitten in der Nacht, / Bittest mich, mich selbst zu verletzen, / Wenn sonst niemand da ist. / Ich, ich fühle die Gefahr, / Wenn ich allein bin, betrittst du mein Zuhause, / Ich wünsche dir den Tod und das Verschwinden.“ Süße Klänge? Sanfte Balladen? Fehlanzeige!
Man sollte erwähnen, dass auch früher schon so mancher Song der Lords eine dunkle, zuweilen fast mystische Atmosphäre hatte – am ausgeprägtesten wohl auf ihrem besten Werk „Demons Down“ von 1992, das nicht ohne Grund diesen Titel trägt.
Der zweite Song „Bad Karma“ führt den Spirit des Openers fort, funktioniert aber doch etwas anders. Ein scharf angeschlagenes, präzises Riff, wie wir es von einer Band wie RATT kennen, bildet die Basis für einen nahezu klassischen Hair-Metal-Stampfer, der im Refrain mit Gangshouts und weiblichen Background-Chören aufwartet. „Was weißt du über die Dämonen, die in dir leben? / Öffne die Augen, sieh, wohin du gehst / Schüttle es ab“, singt Christian. Da hatte wohl jemand mit inneren Konflikten zu kämpfen – und ja, vor einiger Zeit hat der Sänger eine Krebserkrankung öffentlich gemacht. By the way: Kommt irgendjemand auf die Idee, bei der Zeile „Sh Sh Sh Shake It Up“ im Pre-Chorus und Refrain an TAYLOR SWIFT zu denken?
Nachdem „Cry of the Wicked“ (wir bleiben lyrisch in düsteren Gefilden) mit einem fast klassischen AOR/Melodic-Rock-Refrain aufwartet und so an die Glanzzeit der Band Ende der 80er Jahre erinnert – im Soloteil duellieren sich Gitarre und Keyboard – ist der Titelsong „Full Tilt Overdrive“ eine echte Überraschung. Fast rotzig, mit Streetrock-Attitüde, kommt der flotte Song daher, und selten fühlte ich mich bei einem Riff und der Melodie so sehr an die deutsche Kultband THUNDERHEAD mit Edelshouter Ted Bullet erinnert. Zufall? Nö: Gitarrist Jimi Bell gehörte zur letzten Besetzung, kurz bevor sich die Band aufgelöst hat. Eine geradlinige Nummer mit flotter Hammond-Begleitung, right in your face!
„Taking the Fall“ ist dann ein ruhigerer Song mit schwülem Südstaaten-Flair. Es ist eine besondere Ironie, dass gerade die ruhigeren Nummern nicht zu den stärksten des Albums zählen. Zwar ist das bluesige Akustik-Riff klasse, und Christians gecroonte Strophe überzeugt, aber der Refrain wirkt ein wenig zu sehr nach Schema F gestrickt. Der Southern-Rock-Vibe gefällt mir allerdings. Nicht schlecht, aber kein Highlight.
HOUSE OF LORDS musizieren mit fast metallischer Härte
Während das düstere „Cursed“ schroffes Riffing mit Melodic-Rock-Harmonien verbindet und den Moment des Sich-Verliebens als eine Art Verwunschenwerden darstellt, ist „Not The Enemy“ eine weitere Überraschung – und eine echte Herausforderung für jeden traditionsbewussten Hardrock-Fan. Der Song kommt, ohne Quatsch, mit elektronischen Spielereien und Breakdowns daher. HOUSE OF LORDS im Metalcore-Modus? Mir gefällt der Song, weil er catchy ist und sich als echter Ohrwurm entpuppt – auch wenn der Refrain leicht an kitschigen Powermetal der neueren Generation erinnert. Dennoch kein Song, der misslungen oder Fehl am Platz wirkt, so etwas beherrschen sie eben auch.
Überhaupt fällt auf, wie oft die US-Amerikaner hier die Grenze zum Melodic Metal streifen. Das hat der Band auf den neueren Alben Vergleiche mit den Schweden ECLIPSE eingebracht (Mäh), was ich allerdings für ziemlich abwegig halte. Schon die düstere, eher schroffe Ausrichtung spricht dagegen, sie mit den fröhlichen Mitsing-Hymnen der eher biederen Schweden zu vergleichen: auch wenn die Melodien natürlich unverschämt catchy sind.
Mir kommt da eher ein anderer Vergleich in den Sinn: Oft erinnert der Sound in seiner Machart ein wenig an die Dänen PRETTY MAIDS (Yeah) oder die Soloalben von deren Sänger RONNIE ATKINS. Und das ist ein Stil, den ich sehr begrüße. Zwischen US-Hard-Rock, AOR und europäischem Metal changierend, gibt es hier einige großartige Momente zu hören – die so manchen Newcomer steinalt aussehen lassen.
Mit der astreinen Hardrock-Hymne „State of Emergency“, die lyrisch ein düsteres Bild des Nachtlebens in US-amerikanischen Metropolen zeichnet – von Drogensucht und Obdachlosigkeit – und dem abschließenden Bombastrocker „Castles High“ haben die Floridaner weitere Highlights im Programm. Da verzeiht man ihnen auch eine biedere und einfallslose Ballade wie „Don’t Wanna Say Goodbye“.
Unter den Hardrock-Alben des Jahres zählt dieses hier zu den deutlich stärkeren – auch wenn nicht jeder Refrain sofort zündet und man dem Album etwas Zeit geben sollte. Mir macht die frische und aktualisierte Version der HOUSE OF LORDS, die sich in den letzten 20 Jahren mit ihrem gewandelten Sound etabliert hat, sehr viel Spaß.
(PS: Was macht eigentlich die 80s-Rock-Ikone Robin Beck? Die mittlerweile 70jährige ist hier auf „Castles High“ zu hören – und auch für einen Teil des Backgroundgesangs verantwortlich. Nicht von ungefähr, denn sie ist die Ehefrau von James Christian. Schön, wenn ich auch ein bisschen Tratsch verbreiten konnte.)
Veröffentlichungstermin: 11.10.2024
Spielzeit: 56:09
Line-Up
James Christian: Vocals, Bass Guitar
Jimi Bell: Lead Guitar
Mark Mangold: Keyboards
Johan Koleberg: Drums
Robin Beck: Guest Vocals on „Castles High“ + Background Vocals
Kristian Fyhr: Background Vocals
Label: Frontiers Records
HOUSE OF LORDS „Full Tilt Overdrive“ Tracklist
1 Crowded Room
2 Bad Karma (Video bei YouTube)
3 Cry Of The Wicked
4 Full Tilt Overdrive (Video bei YouTube)
5 Taking The Fall (Audio bei YouTube)
6 You’re Cursed
7 Not The Enemy
8 Don’t Wanna Say Goodbye
9 Still Believe
10 State Of Emergency
11 Castles High