Intensitätsverlust

Sag´ mir, wo meine Begeisterung ist. Wo ist sie geblieben? Über Cliff Burton, Plattenbörsen und die Zukunft der Musikwelt.

Sag´ mir, wo meine Begeisterung ist. Wo ist sie geblieben? Diese Frage ging mir durch den Kopf, als ich Ende September die Solnahalle im Norden Stockholms betrat. Vor 20 Jahren spielte Cliff Burton hier sein letztes Konzert mit METALLICA, bevor er bei einem Busunglück im Alter von 24 Jahren ums Leben kam. Zugegeben, ich bin kein eingefleischter METALLICA-Fan. Ein solcher hätte den Moment sicher zu würdigen gewusst. Der Grund für meinen Besuch waren vielmehr 600 Meter Musik, so die Ankündigung des Veranstalters. Skivmässa – Plattenbörse!

Während ich im scheinbar endlosen Angebot stöberte, wurde mir klar, dass ich eigentlich gar nichts Spezielles suchte. (Klar, ich fragte nach dem Soundtrack von Ronja Räubertochter, wobei ich mittlerweile ernsthaft daran zweifle, dass er je veröffentlicht wurde.) Ausgerechnet bei einem nicht-schwedischen Händler mit Bang Your Head-T-Shirt fand ich den BEATLES-Bootleg mit Outtakes der Help!-Sessions, den ich seit einiger Zeit haben wollte. Als ich ihn jedoch in Händen hielt, verschwand meine Kauflust plötzlich. Wirklich neue Lieder waren schließlich nicht drauf und moralisch ist und bleiben solche CDs problematisch.

Natürlich wühlte ich mich auch durch unzählige Hårdrock-Kisten. Generell halte ich dabei immer Ausschau nach Platten, die ich bereits habe und mag. Denn ich bilde mir ein, dass ich zwischen den bekannten Alben am ehesten Sachen finde, die Lücken in meiner Sammlung schließen können. Dabei begegnet man zwangsläufig auch Scheiben wie der Lost And Lonely Days/Aliens-Single von WARLORD oder verführerisch neuwertigen RUNNING WILD-LPs. Man hat die Songs bereits auf CD und spürt trotzdem die Versuchung. Meist reicht allerdings ein Blick aufs Preisschild, um die Kauflust verfliegen zu lassen.

Plattenbörse
30. September 2006, Tatort Solnahalle: 600 Meter Musik, wo vor 20 Jahren für Cliff Burton der letzte Vorhang fiel.

Mit automatischen Bewegungen bewegte ich mich von Tisch zu Tisch und überflog das jeweilige Angebot. Dabei merkte ich immer stärker die Leere in mir, die genau an der Stelle war, wo früher ein Feuer brannte. Statt Importe, Bootlegs, Raritäten, Obskures! zu rufen, nuschelte die Stimme in meinem Innern nur: Kenn´ ich schon, hab´ ich schon, interessiert mich nicht. Ein klarer Fall von Intensitätsverlust.

Dieses Problem hatte ich freilich schon vor dem Besuch der Plattenbörse. Beim Anhören alter Schallplatten kam immer häufiger Langeweile auf. Statt potenziell durchschnittliche Konzerte zu besuchen, schaute ich mir zu Hause Filme auf DVD an, viele davon mittelmäßig, jedoch einige wirklich mitreißend. Wenn ich alte Schallplatten anhöre, verliere ich schon nach wenigen Liedern das Interesse an der Musik und mache mir häufig nicht mehr die Mühe, die B-Seite aufzulegen. Frohen Mutes kaufte ich mir kürzlich die CD-Wiederveröffentlichungen von Death Or Glory und Pile Of Skulls, nur um dann jeweils immer nur ein, zwei einzelne Songs zwischendurch anzuhören. Jetzt gerade stapeln sich erschreckend viele zu besprechende Alben neben meinem CD-Spieler, für die mir die Aufmerksamkeit fehlt. Es wäre ja fatal, wenn ich die Musik als eintönig und belanglos beschreibe, obwohl das tatsächlich an mir – und nicht an der Band – liegt.

Ein
Ein klarer Fall von Intensitätsverlust.

Intensitätsverlust ist seit geraumer Zeit nicht mehr nur ein Problem von Leuten, die regelmäßig CDs besprechen. Dank des Internets sind weite Teile der Musik hörenden Bevölkerung betroffen, die sich vorher lediglich mit den gewöhnlichen Halbwertszeiten ihrer Plattensammlung arrangieren musste. Intensitätsverlust tritt besonders bei unbekannten Liedern auf, die man gerade kennenlernt. Immer häufiger entscheiden die ersten Sekunden einer Online-Hörprobe über das Schicksal eines Songs. Man braucht sich nicht mehr ausführlich mit einer Band zu beschäftigen, sondern testet einfach die nächste Gruppe an, wenn die Klangbeispiele einen nicht fesseln. Die Auswahl ist riesig und inzwischen auch überwiegend legal. In der Folge schrumpft die Aufmerksamkeitsspanne, bis man plötzlich nicht mehr die Muse findet, Epen der Marke Rime Of The Ancient Mariner oder Keeper Of The Seven Keys anzuhören. Da wundert es wenig, dass eine Band wie SYSTEM OF A DOWN auf offene Ohren stößt. Wozu ein Album mit fünf unterschiedlichen Songs, wenn man alles in einer abwechslungsreichen Stilachterbahnfahrt erleben kann?

Im Radio wurden schon immer vornehmlich einzelne Songs, Hits gespielt. Nicht zuletzt im Heavy Metal zählten dagegen vornehmlich die Alben. METALLICA mit Cliff Burton sind das beste Beispiel. Kill ´em All, Ride The Lightning und Master Of Puppets waren Klassiker, keine Single-Vehikel. Da kann man verstehen, dass die Band die Lieder nicht einzeln als Internet-Download verkaufen mag. Dass es auch heute noch Alben gibt, die über die gesamte Spielzeit überzeugen können, haben MACHINE MEN und BLOODBOUND demonstriert. Doch was nutzt das, wenn viele Fans verlernt haben, 45 Minuten lang einer einzigen Band zuzuhören, die nicht METALLICA heißt?

Das ist freilich eine pessimistische Vision. Immerhin tummelten sich auf der Plattenbörse auch einige junge Metal-Fans mit IN FLAMES– und TANKARD-Shirts, die mit leuchtenden Augen ihr Taschengeld ausgaben. Ich begnügte mich mit der When Dream And Day Reunite-DVD von DREAM THEATER, die später beim Anschauen herrliche Erinnerungen wachrief und meine innere Leere zumindest ein Stück füllen könnte.

Trauer´ ich etwa der Vergangenheit nach? Nein. Gerade heute war wieder ein Tag, an dem neue Musik das Feuer der Begeisterung in mir entfachte. Zuerst konnte ich endlich den ersten offiziellen 300-Trailer bestaunen, in dem es in musikalischer Hinsicht erstaunlich passend NINE INCH NAILS zu hören gab. Dann entdeckte ich auf dem ersten Track der neuen CHRIS DE BURGH-CD die orchestrale Epik, die BLIND GUARDIAN auf A Twist In The Myth vergessen hatten. Und schließlich lud ich mir von MORLANDs MySpace-Seite den unerwartet genialen Popsong Dance Around The Dollar Tree runter, der seither fast ununterbrochen läuft. Jetzt gerade höre ich ihn etwa zum 50. Mal und er ist immer noch so mitreißend wie bei unserer ersten Begegnung vor nunmehr vier Stunden, als ich vor lauter Euphorie Luftgitarre spielend durchs Zimmer tanzte. Intensitätsverlust? Mh, vielleicht eher Intensitätsbündelung. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass es auch in Zukunft wieder neuen Heavy Metal geben wird, der mich ähnlich begeistert.

All we need now is the song, the middle eight, the face, the live gig and an amazingly beautiful girl in front of the stage at the releaseparty. See… Nothing has changed.
(Mattias Olsson, 30. August 2006)

Jutze
Let´s Dance Around The Dollar Tree! Oder: So schlecht sind die musikalischen Zukunftsaussichten auch wieder nicht.

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