„Geile Band!“ Es ist ein Ausruf, der kurz und bündig zusammenfasst, was normalerweise mehrere Absätze für sich beansprucht. Der Jubelschrei, der in dieser Nacht nicht nur einmal aus der Ecke erklingt, ist in einem überschaubaren Club wie der Kranhalle kaum zu überhören, obwohl der schicke Club im Münchner Feierwerk heute bis zum Anschlag gefüllt ist. Dass die Progressive Metal-Durchstarter UNPROCESSED auf ihrer ersten Headline-Tournee auch ohne großes Label im Rücken vor ausverkauftem Haus stehen, ist das wohlverdiente Resultat harter Arbeit und musikalischer Extraklasse.
Sich das entgehen zu lassen, kommt weder für die einschlägige Szene noch für uns infrage, immerhin schmierte uns das Quartett in diesem Jahr erst auf der Tour mit TESSERACT und dann auf den Sommerfestivals eine gehörige Ladung Honig ums Maul. Den Hunger stillen wollen die Wiesbadener jedoch nicht ohne Vorgeplänkel: Als Appetizer gibt es zweimal Metalcore der modernen Sorte, wobei mit AVRALIZE tatsächlich auch ein hochgehandelter Newcomer das Billing bereichern darf.
HOWL LIKE WOLVES
Den Anfang aber macht mit HOWL LIKE WOLVES ein ebenfalls noch recht unbeschriebenes Blatt. Dass die Band bei ihrem Münchner Debüt ohne Bassist Lasse angereist ist, kaschiert das Quartett mittels einer beherzten Performance. Zugegeben, viel Platz zum Durchdrehen ist auf der zugestellten Bühne nicht, doch schicken sich beide Sänger an, das Beste aus den beengten Verhältnissen zu machen.
Ob auf Augenhöhe mit der Zuhörerschaft oder an der Seite von Gitarrist Kieslich scheint einerlei: An Einsatz mangelt es Shouter Chris sicherlich nicht. Anders zunächst noch das Publikum, das mit offenen Ohren lauscht, sich aber in „Burn Me Down“ noch nicht ganz aus der Reserve locken lässt. HOWL LIKE WOLVES nehmen’s sportlich: Den Moshpit könne man ja auch später noch nachholen. Als sich das Zentrum aber dann in Bewegung setzt, weiß das Sänger Daniel Labenz durchaus zu würdigen, indem er sich für ein paar Augenblicke höchstselbst ins Getümmel stürzt.
HOWL LIKE WOLVES sammeln fleißig Sympathiepunkte
Überhaupt sammelt der Frontmann im Feierwerk fleißig Sympathiepunkte: Nicht nur durch seine astreine Leistung am Mikrofon, sondern auch mittels seiner bodenständigen und kollegialen Art – die hörbar bayerischen Wurzeln des Frontmanns treffen in der Landeshauptstadt natürlich den richtigen Nerv. Daher dürfen sich HOWL LIKE WOLVES am Ende dieser halben Stunde über zahlreiche zufriedene Gesichter freuen. Was dem Modern Metalcore an Originalität fehlt, macht das engagierte Auftreten ganz offensichtlich mit Leichtigkeit wett.
HOWL LIKE WOLVES Setlist – ca. 30 Min.
1. Prisoner
2. Lost In A City
3. Watch The World Collapse
4. Burn Me Down
5. Unholy
6. Crown
Fotogalerie: HOWL LIKE WOLVES
AVRALIZE
Nach erfolgtem Aufwärmprogramm haben es AVRALIZE natürlich leicht, obwohl das Quartett zunächst gegen den arg basslastigen Mix ankämpfen muss. Was also zunächst im Auftakt „Lotus“ zu Lasten der Details geht, wächst im folgenden „Stab By Stab“ schon zum Gewitter an: Die Djent-Vibes des kompromisslosen Tracks heizen den Pit an, der sich schließlich im eingängigen „Canvas“ zur Tanzfläche wandelt.
Sänger Severin Sailer, dessen karierte Hose sicherlich das modische Highlight des Abends darstellt, lässt analog auf den Brettern die Hüften kreisen, so dass die Gelenke auch für das nächste Kunststück entsprechend aufgewärmt sind. Verluste zu beklagen gibt es in der Wall of Death glücklicherweise nur temporär: Einen kurzen Augenblick später wird das herrenlose Schuhwerk im Zentrum ehrfurchtsvoll wie ein Heiligtum präsentiert und schließlich feierlich seinem Besitzer übergeben.
Bei AVRALIZE zieht es manchem Fan gar die Schuhe aus
Die Schuhe zieht es wenig später auch uns aus, wenngleich nur im übertragenen Sinn. Als AVRALIZE-Frontmann Severin Sailer in „Freaks“ das Mikro plötzlich ins Publikum reicht, weckt das spontane und stimmgewaltige Gast-Feature vertraute Assoziationen. Nur ob CYPECORE-Frontmann Dominic Christoph entgegen aller Wahrscheinlichkeit tatsächlich die Kranhalle beehrt, können wir letztlich nicht mit Sicherheit sagen. Wohl aber, dass die Rottweiler am Ende ihres Sets einige neue Fans in ihren Reihen willkommen heißen dürfen: „Geile Band!“, schallt es wie schon bei ihren Vorgängern aus der Ecke nach vorne – da können wir nur beipflichten.
AVRALIZE Setlist – ca. 40 Min.
1. Lotus
2. Stab By Stab
3. Alive
4. Canvas
5. Higher
6. Bright
7. Freaks
8. Upside Down
Fotogalerie: AVRALIZE
UNPROCESSED
Mit AVRALIZE räumt auch das zweite der ursprünglich drei Drumsets auf der Bühne das Feld, was dem Headliner im Anschluss ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Den geschaffenen Platz nutzt die Formation sogleich bereitwillig aus, wobei heute abermals Bassist David John Levy die meisten Meter zurücklegen dürfte. Stillstehen will der Musiker wirklich nur dann, wenn er in leidenschaftlicher Weise ein paar Backing Vocals beisteuert. So viel Einsatz bleibt nicht unbelohnt: Der Moshpit nimmt in der ausverkauften Kranhalle schon im Opener „Hell“ erkennbare Konturen an, dreht sich im folgenden „Lore“ dann gar um die eigene Achse.
Die Frage, wer denn das Material des aktuellen Werks „…And Everything In Between“ (2023) kenne, ist angesichts dieser Bilder wohl eher rhetorisch zu werten: Der Jubel nach dem gefühlvollen Solo von „Blackbone“ spricht eine ähnlich deutliche Sprache wie die begeisterten Aufschreie, als Gitarrist Manuel Gardner Fernandes die ersten Takte der Single „Thrash“ anstimmt. Dass der Mix heute nicht ganz so glasklar ausfällt wie zuletzt auf dem SUMMER BREEZE OPEN AIR, kann weder Songmaterial noch unserer Stimmung etwas anhaben. Die wichtigen Details sind präsent und werden in visueller Hinsicht durch animierte Projektionen untermalt.
Ob Stagediving oder Lichtermeer: UNPROCESSED können auf ihre Fans zählen
Eine ausgeklügelte Videoshow bieten UNPROCESSED zwar nicht, doch ist das angesichts der spieltechnischen Meisterklasse ohnehin zweitrangig: Die Augen der Münchner:innen wandern daher ohnehin lieber über die Griffbretter, wenn nicht gerade ein älterer Track wie „Abandoned“ zum Mithüpfen animiert oder die Ballade „Glass“ nach passender Lichtuntermalung schreit. Tatsächlich dürfte die Kranhalle heute einen Pro-Kopf-Rekord aufstellen: Zumindest in unserer näheren Umgebung zeigt die Gruppendynamik Wirkung, sodass nicht ein einziges Smartphone in der Tasche bleibt.
Einen möglichen Nachteil der nun vergleichsweise geräumigen Bühne erkennt sodann David John Levy: Da es auf den Brettern offenbar recht einsam werden kann, bittet der Bassist für „Orange Grove“ alle Stagediver um etwas Gesellschaft. Pausieren muss die Surfstunde derweil schon im nachfolgenden Stück. Denn als mit „Die On The Cross Of Your Martyr” die Stimmung im Feierwerk ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, ist wieder voller Körpereinsatz gefragt.
Für UNPROCESSED wird das Gastspiel in München zum Siegeszug
Tatsächlich ist die Fähigkeit der Band, spieltechnische Machtdemonstrationen so geschickt und eingängig zu verpacken, ein kleines Kunststück. Alle Tage kommt es jedenfalls nicht vor, dass wir sogar einer Solo-Einlage wie der von Manuel Gardner Fernandes mit Begeisterung lauschen. Zwischen Gefühl in „Rain“ bzw. dem gemeinsam gesungenen „Deadrose“ und einem mitreißenden Kraftakt wie „Haven“ wird das letzte Drittel des Sets so zum unweigerlichen Siegeszug – oder der Party unseres Lebens, um es mit Bassist Levys Worten auszudrücken. Nur eine Sache spricht nach diesen 75 Minuten eine noch deutlichere Sprache als der ohrenbetäubende Beifall: Das Schweigen aus der Ecke deutet an, dass es wohl selbst dem zuvor so enthusiastischen Besucher nach dieser Performance die Sprache verschlagen hat.
UNPROCESSED Setlist – ca. 75 Min.
1. Hell
2. Lore
3. Blackbone
4. Thrash
5. Abandoned
6. Glass
7. Sacrifice Me
8. Orange Grove
9. Die On The Cross Of Your Martyr
10. Gitarrensolo
11. Rain
12. The Longing
13. Deadrose
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14. I Wish I Wasn’t
15. Haven
Fotogalerie: UNPROCESSED
Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)