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TESSERACT, UNPROCESSED, THE CALLOUS DAOBOYS: Konzertbericht – Backstage Werk, München – 02.02.2024

Ein Schlaraffenland für Kopf und Herz: Gleich zwei nicht minder kreative Gäste begleiten TESSERACT auf deren Europatour. Neben den Prog-Virtuosen UNPROCESSED mischen auch die unberechenbaren THE CALLOUS DAOBOYS das Backstage in München auf.

„Ich weiß nicht, was ein Tesserakt ist.“ Mit ihrer schonungslosen Offenheit haben THE CALLOUS DAOBOYS die Lacher vor dem Merch-Stand auf ihrer Seite. Besser als das zugehörige T-Shirt mit besagtem Aufdruck bringt das Wesen der verrückten und ungezügelten Band wohl nur das kreative Backdrop zum Ausdruck. „Repost if you still listen to real music“, steht darauf geschrieben; darunter der Bandname im abgewandelten Design dutzender Rock- und Metal-Größen.

Als Opening Act sorgen die US-Amerikaner somit bereits vor Showbeginn für eine ganze Menge Gesprächsstoff; denn allein wegen der kreativen Mathcore-Ergüsse der Band sind die meisten Münchner:innen heute wohl kaum angereist. Vielmehr lockt der moderne Progressive Metal TESSERACTs ins Backstage Werk, wo man zudem mit den deutschen Durchstartern UNPROCESSED eine weitere ähnlich gelagerte Formation im Vorprogramm erwarten darf.


THE CALLOUS DAOBOYS

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Dementsprechend dünn besetzt ist der Innenbereich des Werks um Viertel nach sieben, als der Dance-Hit „Everytime We Touch“ (CASCADA) den Innenbereich zur Tanzfläche ummodeln will. Ein kurioses Intro, das sich im weiteren Verlauf als eine Art roter Faden entpuppt: Immer wieder spielen THE CALLOUS DAOBOYS zwischen den Stücken Country- und Pop-Nummern ab, die im richtigen Moment von ihrem eigenen Material unterbrochen werden.

Das passt in seiner Verrücktheit perfekt zum Sextett, welches auch sonst die Zügel komplett aus der Hand gibt. Verqueren Mathcore bricht die Band durch zuckrige Singalongs auf, während Amber Christman auf der E-Violine dissonante Töne dazwischenwirft. Keine Kakophonie, aber durchaus fordernd, wie den Gesichtern im zunächst überrumpelt wirkenden Publikum abzulesen ist. Wie gut, dass THE CALLOUS DAOBOYS selbigem in „Star Baby“ mit der versöhnlichen zweiten Hälfte die Hand reichen – nur um sie im folgenden „Violent Astrology“ schelmisch wieder wegzuziehen.

THE CALLOUS DAOBOYS sind auch live so unberechenbar wie auf Platte

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Während sich die Halle zusehends füllt, wagt Sänger Carson Pace den ersten Ausflug in Richtung Fotopit und setzt damit die zuvor ausgesprochene Warnung in die Tat um: „Better come to us, or we’ll come to you!“ Tatsächlich: Das Selbstbewusstsein der Band scheint abzufärben, wie bald der kleine, doch motivierte Pit zu „Blackberry DeLorean“ zeigt. Dass eigentlich noch mehr gehen könnte, steht dennoch außer Frage, zumal THE CALLOUS DAOBOYS in einer halben Stunde ihrerseits alles geben: Zwischen den Tänzchen Amber Christmans und den 2-Step-Einlagen Jackie Buckalews (Bass) blitzt immer wieder das sympathische Dauergrinsen Maddie Caffreys hervor.

Deren Kollegen gabelt kurz vor Schluss in „Fake Dinosaur Bones“ sogar Sänger Carson vom zuvor erklommenen Drumset auf, um mit dem Gitarristen auf den Schultern ein paar Kniebeugen zu trainieren. In Sachen Energie und Spielfreude entspricht das etwa dem wendungsreichen Songmaterial der Formation, die zwar nach zwei Wochen auf Tour offenbar immer noch nicht in Erfahrung bringen konnte, was es denn nun mit einem Tesserakt auf sich habe, doch dafür eine exakte Vorstellung hat, wie eine mitreißende Live-Performance auszusehen hat.

THE CALLOUS DAOBOYS Setlist – ca. 30 Minuten

1. Star Baby
2. Violent Astrology
3. Pushing The Pink Envelope
4. Waco Jesus
5. What is Delicious? Who Swarms?
6. Blackberry DeLorean
7. Fake Dinosaur Bones

Fotogalerie: THE CALLOUS DAOBOYS


UNPROCESSED

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Leichteres Spiel haben im Anschluss UNPROCESSED, deren hochmoderner Progressive Metal dem heutigen Headliner schon deutlich nähersteht. Ein gemeinsamer Nenner scheint folglich schnell gefunden, zumal das Quartett heute von einem transparenten und nahezu makelloses Soundmix profitieren kann. Tatsächlich scheint jedes noch so kleines Detail zu unseren Ohren durchzudringen, was die virtuosen Soli und komplexen Arrangements im Live-Gewand umso beeindruckender wirken lässt. Dank Backing Tracks und etwas Hall erschaffen UNPROCESSED so einen voluminösen Klang, der gleichermaßen filigran und mächtig sein kann.

Grundsätzlich ziehen die Musiker die Daumenschrauben aber erstmal an: Mittels Growls und Blastbeats drückt „Lore“ das Gaspedal durch, was im Werk nach kurzen Anlaufschwierigkeiten mit einem kleinen Circle Pit erwidert wird. Frontmann Manuel ist das jedoch offenbar noch zu wenig: „Schluss mit dem Kaffeekränzchen!“, fordert er vorm krachenden Breakdown und scheint die Münchner:innen damit für die restliche Show tatsächlich bei der Ehre zu packen.

Zwischen Gitarrenkunst und Emotionen halten UNPROCESSED nicht zurück

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Zum federleichten Vibe von „Abandoned“ springt die Arena sogleich auf und ab, um dann im starken „Thrash“ die Sache mit dem Circle Pit ein ganzes Stück beeindruckender zu demonstrieren. Alles andere wäre auch der Leistung UNPROCESSEDs nicht würdig gewesen, immerhin halten die Wiesbadener ihrerseits keineswegs zurück. Vor allem Bassist David John Levy hebt regelmäßig mit beiden Beinen vom Boden ab, wenn er in „Deadrose“ nicht gerade das Soundboard zu bedienen hat.

Zwischen kreativem Drumming und beeindruckender Gitarrenkunst findet die Formation aber auch Zeit für Emotionen: Während des in sich gekehrten „Glass“ erfüllen zahlreiche Lichter den Raum, bis es zum Abschluss doch noch einmal laut wird in der bayerischen Landeshauptstadt: „Haven“ setzt mit Groove und begleitendem Pit einen nachhaltigen Schlusspunkt, der fast wie selbstverständlich von Jubel und lautstarken Forderungen nach einer Zugabe begeleitet wird.

UNPROCESSED Setlist – ca. 45 Minuten

1. Hell
2. Lore
3. Fear
4. Abandoned
5. Thrash
6. Deadrose
7. Glass
8. Haven

Fotogalerie: UNPROCESSED


TESSERACT

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Wir wissen nicht, ob THE CALLOUS DAOBOYS-Sänger Carson die Show aus dem Backstage-Bereich verfolgt, doch wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, die vorhandene Wissenslücke zu schließen. Was ein Tesserakt sei, dürfte mit einem Blick auf das Backdrop unmittelbar klarer sein, welches ein Modell des vierdimensionalen Würfels ziert. So schlicht wie der Hintergrund gestaltet sich auch die Bühne selbst, wo lediglich einige verschiedenfarbig beleuchtete LED-Röhren den visuellen Rahmen bilden.

Stimmig ist das eigentlich spartanische Set-Design aufgrund der bunten Lightshow dennoch: Vorwiegend in Blau- und Violetttöne getaucht, schaffen TESSERACT den idealen Rahmen für ihren zeitgenössischen und teils sphärisch anmutenden Prog-Metal. Dabei passt am heutigen Abend auch die Balance aus Melodie und Härte: Auf den drückenden Opener „Natural Disaster“ folgt mit „Echoes“ die erste überzeugende Gesangsdemonstration Daniel Tompkins‘, der mit einem gesunden Maß an Theatralik und melodramatischen Gesten sowohl harsche als auch gefühlvolle Passagen meistert.

TESSERACT geben sich wortkarg, aber nicht distanziert

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Dazu springt das Publikum losgelöst auf und ab, wenn denn nicht gerade der stattliche Pit den vollen Körpereinsatz der Anwesenden verlangt. Zwischendurch freut sich Tompkins über den kraftvollen Background-Chor zu seinen Füßen, lässt das Szepter ansonsten jedoch kaum aus der Hand. Trotz des weitgehenden Verzichts auf große Gesprächspausen wirken TESSERACT dabei keineswegs distanziert. Zwar verlassen die Musiker zugunsten stimmungsvoller Interludes zwischen einzelnen Stücken immer wieder die Bühne, suchen ansonsten aber sowohl Blickkontakt als auch die Interaktion. Insbesondere Bassist Amos Williams, der am liebsten barfuß über die Bretter wirbelt, genießt das eifrige Posieren und Haareschütteln im Scheinwerferlicht.

Verdenken können wir es ihm angesichts der Begeisterung im Backstage nicht: Während der andächtigen Momente in „King“ zücken die Münchner:innen auf Wunsch ohne Widerrede die Smartphone-Leuchten, bevor der elfminütige Titelsong des aktuellen Studioalbums „War Of Being“ (2023) den ersten großen Höhepunkt des Sets markiert. Beizeiten mächtig und erdrückend, dann progressiv bis zerbrechlich und schließlich mit einem großen Finale von erhabener Schönheit gesegnet zelebriert die Band das Stück dramaturgisch live wie ein eigenes Konzert im Kleinformat.

Für die Zugabe kehren TESSERACT zu ihren Anfängen zurück

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Die Show in der Show markiert derweil gerade einmal die Halbzeitmarke eines Sets, das neben neuerem Material auch die beiden Platten „Polaris“ (2015) sowie „Altered State“ (2013) mit jeweils einem Song bedenkt. Seine stimmlichen Muskeln lässt Frontmann Daniel hingegen in der aktuellen Single „Legion“ spielen, wo der Sänger selbst die höchsten Töne kinderleicht aussehen lässt. Als sich TESSERACT bald darauf nach dem energetischen „Juno“ kurzzeitig zurückziehen, scheint die Laune in der Halle auf dem Zenit angekommen.

Ein Umstand, den sich die Band mit der doppelten Zugabe aus „Acceptance“ und „Deception“ der Debüt-EP „Concealing Fate“ (2010) fast schon schamlos zunutze macht: Die beiden Klassiker singt das Backstage Werk ein letztes Mal passioniert mit, während sich sogar der Circle Pit im Zentrum zu ein paar Ehrenrunden aufraffen kann. Wie man eine Show standesgemäß beendet wissen die Briten offenbar genauso gut wie ihre beiden Special Guests im Vorprogramm. Wir hoffen nur, dass Sänger Carson Pace (THE CALLOUS DAOBOYS) ein paar Momente dieses Auftritts selbst miterleben konnte. Denn in diesem Fall wüsste er spätestens jetzt und mit absoluter Gewissheit, dass ein Tesserakt ab sofort auch als Sinnbild mitreißender Live-Shows zu verstehen ist.

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TESSERACT Setlist – ca. 85 Min.

1. Natural Disaster
2. Echoes
3. Of Mind – Nocturne
4. Dystopia
5. King
6. War Of Being
7. Smile
8. The Arrow
9. Legion
10. The Grey
11. Juno
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12. Acceptance – Concealing Fate Part 1
13. Deception – Concealing Fate, Part 2

Fotogalerie: TESSERACT

Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)

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