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GAIA GUARDA: Nichts ist jemals komplett weiß, nichts ist jemals komplett schwarz

Montréal ist seit jeher bekannt für seine starke Metalszene, in welcher auch die progressiven Töne nicht zu kurz kommen. Die Multiinstrumentalistin und Sängerin GAIA GUARDA macht sich mit “Anatomy of Fear” selbständig unterwegs, während sie sonst bei URIEL musiziert. Ihr neoclassical Dark Wave schreckt weder vor Elektronika noch Harfenklängen zurück und bewegt sich mit Vocals à la TORI AMOS weg von der “reinen” Metalwelt.

Danke für dein interessantes Album “Anatomy of Fear”, das dein Solodebüt ist. Du bist ja sonst bei URIEL aktiv – was war die Hauptmotivation für ein Soloalbum?

Ich begann vor sechs Jahren damit, “Anatomy of Fear” zu schreiben. Damals war ich erst seit zwei Jahren bei URIEL. Wir hatten innerhalb dieser zwei Jahre zwei Alben veröffentlicht, aber ich wollte schon immer ein Soloprojekt haben. Es war also nicht aus einer Laune heraus, sondern es dauerte länger, als ich das geplant hatte. Leider!

Claude Debussy war ein Rebell!

Du mischt ja verschiedene düstere Musikstile und gibst noch klassische Musik dazu. Ausserdem hast du eine klassische Musikausbildung. Welches ist dein Lieblingskomponist und warum?

Ich liebe Claude Debussy, er war immer einer meiner Lieblingskomponisten. Seine Harmonien sind wunderschön und einzigartig. Ich liebe auch seine Persönlichkeit, er war ein Rebell und ich kann mich mit ihm identifizieren! Als ich klassischen Gesang studierte, lernte ich zwei seiner Stücke – “Nuit d`étoiles” und “Romance”. Beide haben mich mehrmals zu Tränen gerührt, weil es so wunderschöne Stücke sind. Falls jemand, der das liest, noch nie Debussy gehört hat, dann sollte er jetzt aufhören zu lesen und sich sofort Debussy auf YouTube anhören. 

Debussy hat ja auch liebliche Stücke fürs Klavier geschrieben, ein Instrument, das du ebenfalls spielst. Welches ist dein Lieblingsinstrument? 

Die Harfe ist schon seit meiner Kindheit mein Lieblingsinstrument – und sie ist es noch immer! Vor kurzem habe ich mir eine pinke Harfe gekauft, die ich “Brain” getauft habe (wegen des “Pinkie and the Brain”-Cartoons). Diese pinke Harfe hat mich aufs Neue vom Harfenspielen überzeugt. Als Kind lernte ich zuerst Klavier spielen, und ich liebe Klavierspielen noch immer. Ausserdem komponiere ich oft auf dem Klavier. Leider habe ich bei meinem letzten Umzug zwei Klaviertasten gebrochen, die muss ich noch reparieren lassen. Ich freue mich darauf, wieder zu Klavier zu spielen. 

Empfehlungen für Montréals Musikszene

Montréal und sein Territorium Québec sind bekannt für progressive Musik – ich denke etwa an VOIVOD, UNEXPECT oder GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR. Welches sind deine Lieblingsbands aus deiner Region? Hast du gleich ein paar Empfehlungen auf Lager? 

Ich liebe UNEXPECT! Ausserdem bin ich ein grosser Fan von THE AGONIST, sie sind fleissige, talentierte Musiker. Meine Freunde von VRYLNIA haben soeben eine Single veröffentlicht, die ich allen empfehle, die Symphonic Metal mögen. Eine weitere Empfehlung ist YOUR LAST WISH – wir haben im März mit ihnen zusammen ein Konzert gegeben und live sind sie brutal! OBTENEBRIS würde ich ebenfalls empfehlen, sie haben vor kurzem ihr erstes Album rausgegeben und arbeiten an einer neuen Scheibe, die 2021 veröffentlicht werden soll. Darauf freue ich mich schon!

Kommen wir zurück zu “Anatomy of Fear”. Das Coverartwork erinnert mich etwas an die skandinavischen Nemi-Comics. Eine Frau ist auf dem Cover und der Titel “Anatomy of Fear” – ich nehme an, dass das kein Zufall ist. Ist es möglich, dass die Frau (und ihr Körper) die “Anatomy of Fear” sind, d.h. sie das erschreckende “Andere” darstellt? Oder wie kann man das Coverartwork interpretieren? 

Ich liebe deine Interpretation des Artworks! Die Zeichnung basiert auf einem Photoshoot, den ich diesen Sommer mit meiner Harfe in einem Park hatte. Wir fügten viele Schlingpflanzen und Rosen dazu, das gibt dem Ganzen eine düstere Stimmung, obwohl das Cover ansonsten bunt ist. Damit kann ich mich gut identifizieren. Ich bin eine sehr extrovertierte, redselige Person, immer lachend und lächelnd, aber meine Musik hat einen düsteren Vibe. Ich liebe diesen Kontrast. Ich denke dann über die Dualität in dieser Welt nach, die um uns herum ist. Nichts ist jemals komplett weiss, nichts ist jemals komplett schwarz.

blankHat das Artwork eine Verbindung zu einem bestimmten Song oder zum ganzen Album? Wer ist der Künstler, der dafür verantwortlich zeichnet?

Das Artwork stammt von meinem Freund Jonathan Sardelis (SYNESTHEMA), er hat auch das Cover für URIELs Album “Multiverse” gestaltet. Wir arbeiten schon seit acht Jahren zusammen an verschiedenen Projekten. Wegen des Titels: Ein Song auf dem Album heisst “Anatomy of Fear” und es gibt einen Grund, weswegen das gesamte Album so heisst.

Ich beschäftigte mich zu dieser Zeit mehr mit mir selbst und realisierte, dass meine Hauptmotivation in meinem Schaffen Angst ist. Darüber habe ich viel nachgedacht, ich glaube, dass ich von Angst angetrieben wurde. Ich denke nicht, dass das etwas Schlechtes ist, solange es dich dazu motiviert, an deinen Zielen zu arbeiten. Ich denke allerdings, dass sich viele Leute das Reh-im-Scheinwerferlicht-Syndrom haben. Ihre Angst zu versagen ist so gross, dass sie ihren Träumen nicht mehr folgen. Ich denke, dass wir alle Potential haben. Wenn wir es schaffen, unsere Versagensangst zu bändigen, dann können wir alles erreichen, was wir wollen. 

Der Song “Anatomy of Fear” war auch der Song, mit dem ich Mühe hatte in der kreativen Phase. Ich komponierte so viele verschiedene Instrumentenstimmen, dass mich das Lied überwältigte und ich es beinahe nicht aufs Album aufnahm. In letzter Minute entschied ich mich dafür, mich meiner Angst zu stellen und den Song fertigzustellen. Es ist einer meiner Lieblingssongs und ich bin froh, dass ich mich selber zu dieser Leistung gezwungen habe. 

blankVom Lockdown zum Crowdfunding

Bezüglich der Kreation von “Anatomy of Fear” war ja auch noch etwas anderes speziell: Du hast Indiegogo-Crowdfunding benutzt, um das Album zu finanzieren. Was hat dich zu diesem Schritt motiviert und wie sahen deine ersten Schritte aus in diese (erfolgreiche) Richtung? 

Ich versuchte, irgendwie das Geld aufzutreiben, um dieses Album fertigstellen zu können. Zu dieser Zeit hatte ich ernsthafte finanzielle Probleme, weil mein damaliger Partner schwer krank war und wir Probleme mit seiner Krankenversicherung hatten. Ich war so frustriert, noch dazu verlor ich wegen des Lockdowns im März 2020 meinen Job. Es fühlte sich an, als stünde ich mit dem Rücken zur Wand und ich hatte keine Möglichkeiten mehr, dieses Projekt anders zu finanzieren. Ich hatte Kredite aufgenommen, meine Ersparnisse aufgebraucht, zwei Jobs angenommen, alles gemacht, was ich nur konnte – aber ich konnte kein Licht am Ende des Tunnels sehen. 

Da war ich also – mein 30. Geburtstag stand an, ich war eingeschlossen daheim ohne was zu tun und begann, mich zu langweilen. Dann sprach ich mit meiner Freundin Lindsay und fragte sie, was sie von Crowdfunding hielt. Sie dachte, das sei eine fantastische Idee. Also fing ich an, mich damit auseinanderzusetzen und daran zu arbeiten – wie bei einem Vollzeitjob. Ich fing morgens an und hörte erst spätabends auf. Ich startete die Crowdfunding-Kampagne an meinem Geburtstag. Innerhalb von 30 Tagen hatte ich 4500$ zusammen und das deckte genau die Restkosten für das Album ab. Ich war überrascht und geschockt – aber gleichzeitig so unglaublich dankbar über die ganze Unterstützung!

Im Bett Musik hören

Das ist wirklich eine starke Leistung. Trotz all diesem Trubel und Stress hat deine Musik oftmals eine meditative Note in sich. Hast du einen Lieblingsort zum Musikhören? 

Im Bett! Ich höre am liebsten im Bett Musik. Das ist der beste Ort, um Musik zu erfahren – alle Lichter aus, die Augen geschlossen und einfach Musik hören, ohne sich vom Leben stören zu lassen. Es ist eine Pause in der Zeit. 

Die Musik zum Album habe ich meist an meiner Harfe sitzend komponiert. Ich denke, dass “Anatomy of Fear” deswegen eine meditative Komponente hat. Es gibt nichts Friedlicheres für mich als meine Harfe. Nachdem ich das Grundgerüst mit der Harfe komponiert hatte, schrieb ich die Synths, das Klavier, die Streicher und die Vocals dazu mit meinem elektronischen Klavier. 

Inspiriert von Orpheus und Eurydike

Eine Zeitgeist-orientierte Frage: Was inspirierte dich zum Song “Drowning in fear”?

Griechische Mythologie! Orpheus geht in die Unterwelt, um seine tote Frau Eurydike zurückzuholen und sie von der Hölle zu bewahren. Er darf sich nicht nach ihr umsehen, während sie durch die Unterwelt gehen. Sie weint und bittet ihn die ganze Zeit, sie anzuschauen. Er kann ihr am Ende nicht mehr widerstehen und schaut sie an. Danach können sie der Hölle beide nicht mehr entkommen. Das ist die Kurzversion der Sage. Ich liebte sie immer und sie hat mich sehr inspiriert, als ich an diesem Song arbeitete. Der Arbeitstitel war eigentlich “Orfeo”…

Wegen Covid sind Live-Pläne ja zurzeit eher illusorisch. Hast du Pläne für ein Online Streaming Konzert?

Ich werde Konzerte geben, wenn die Pandemie vorbei ist. Ich kann es kaum erwarten, dieses Projekt auf eine Bühne zu bringen. Vielleicht spiele ich ein paar Online Konzerte in der Zwischenzeit, ich muss einfach die Logistik ausarbeiten!

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