Die Färöer TYR waren nie eine Band, die man einfach mit Viking-Metal-Klischees verrechnen konnte. Sicher, nordische Mythologie ist allgegenwärtig, ihre Schiffe sind mit Drachenköpfen verziert, und manch folkgeschwängerte Melodie lädt zum Bierhornschwenken ein. Aber da war stets mehr: eine deutlich progressive Schlagseite, Epic Metal, und manch Album konnte mit sorgfältig ausgetüftelten, sogar leicht sperrigen Arrangements aufwarten. Nein, ihre Drachenschiffe nehmen selten den direkten Weg in Richtung Schunkelsound. Sie biegen oft auch in fremde Gewässer ein (Mirko: noch so eine nautische Metapher, und Thors Blitz und Donner mögen dich treffen!), um Schätze zu bergen, die von vielen artverwandten Mitstreitern übersehen werden.
Nun geht das nordische Schnellboot auf eine besondere Reise und sie haben reichlich Mitreisende an Bord. Nach acht Studioalben legen TYR ihr erstes Live-Album vor. Eingespielt mit den Färörer Sinfonikern, ein renommiertes Orchester, das aus -ich habe mal durchgezählt- circa 70 Musiker*innen bestehen dürfte. Auch einen Chor haben sich die Berserker eingeladen. Ein Opern-Chor! Nichts weniger als das.
Mit dieser Verstärkung präsentieren uns die Musiker von dem kalten, verregneten Eiland eine Best-of, die nur so strotzt von Pomp, von lieblichen Folk-Melodien, von erhabenen Balladen und schnell reitenden Mitgröl-Metalnummern. Denn klar: Es ist bestimmt keine neue Idee, dass eine Metal-Band mit Orchester gemeinsame Sache macht. METALLICA, RAGE, DEEP PURPLE: Sie alle kamen auf eine ähnliche Idee. Aber die Frage ist, ob das funktioniert, ob es harmoniert: ob es einen Mehrwert für die eigenen Songs gibt. Was wir hier zu hören bekommen, ist dick aufgetragen, bombastisch – an manchen Stellen vielleicht zu viel, erdrückend. Aber es funktioniert tatsächlich. Ein Dokument, das die Ausnahmestellung der Färöer beweist.
Ein kulturträchtiger Ort
Zu den harten Fakten: 18 Songs präsentieren uns TYR auf ihrem Live-Album, mehr als 80 Minuten Musik. Es ist ein Querschnitt durch alle Alben. Aufgenommen wurde es am 8. Februar 2020, kurz bevor die Corona-Pandemie alle Konzertaktivitäten jedweder Band lahm legte. Und das ist ein Glücksfall. Es gibt Publikum, es gibt eine schier unüberschaubare Zahl an Mitmusizierenden: Wenige Wochen später hätte all das in dieser Form nicht mehr stattfinden dürfen. Ganze 53.358 Einwohner zählen die Färörer Inseln, und es fühlt sich an, als ob zwei Drittel der Bevölkerung an diesem Abend zugegen gewesen ist: ob auf oder vor der Bühne. Ja, ein Sitzplatz-Konzert. In nordischen Gefilden, wo Metal ohnehin der Hochkultur zugerechnet wird, tut das der Heavyness keinen Abbruch.
Der Veranstaltungsort: erhaben. Aufgenommen wurde das Konzert im „Haus des Nordens“ auf den Färöer Inseln, ein Archipel der zeitgenössischen Architektur, das 1983 eingeweiht wurde. Der Boden aus norwegischem Granit gemeißelt, eine durchgängige Glasfront, das Dach mit Gras bewachsen. Das Gebäude wurde von den Bürger*innen Dänemarks zu einem der „sieben färöischen Wunder“ gekürt: Der Konzertsaal dient als Botschaftsort für die skandinavische Kultur. Und verfügt über eine hervorragende Akustik. Es ist kein Ort, an dem Metal-Bands für gewöhnlich auftreten. Sondern ein Ort, an dem sonst klassische Werke von Sibelius über Grieg bis Berwald aufgeführt werden. Ein Ort, der in der kargen Landschaft der Färöer: Fjorde, Steilküsten und unwirtlicher Stein, viel Magie verströmt. Hier müssen sich TYR beweisen, sie müssen sich -welch hoher Anspruch!- im Grunde als Kulturbotschafter würdig zeigen. Gelingt es ihnen? Nun ja: Immerhin scheitern sie nicht daran!
Denn natürlich sind TYR genau das: Als Progressive-Metal-Band mit starkem Folk-Einschlag (Juhu! Habe ich gerade den Begriff „Viking Metal“ vermieden?) sind sie auch Kulturbotschafter ihrer Region. Man kann darüber diskutieren, ob ihre Schlachtgemälde, ihr Bezug auf nordische Mythologie nicht ein wenig zu grobschlächtig daher kommen. Songs, die zu sehr von nordischen Göttern bevölkert werden. Bei denen zu sehr die Streitaxt geschwungen wird. In denen zu sehr heroisiert wird. Ragnar, legendärer Wikingerkönig aus dem 9. Jahrhundert, der das Frankenreich überfiel: Er wird besungen. Raimund, der Pfälzer Wikinger: auch ihm wird ein Song gewidmet. Historische Figuren mischen sich mit nordischen Göttern. Epische Metal-Hymnen treffen auf traditionelle Balladen. TYR sind nicht an historischen Fakten interessiert, sie bieten ein Potpourri ähnlich einer unterhaltsamen Netflix-Serie. Nicht ohne romantisierende Momente, die von der Touristik-Information ihres Heimatlandes gern abgesegnet werden.
„Too much“ ist nicht immer: „Too much“!
Aber dieses Potpourri funktioniert, es ist gut gemacht und nicht ohne Raffinessen vorgetragen. Das wird auch an diesem Live-Album deutlich. Alles hier ist im Grunde „too much“, ist dick aufgetragen und -eben- bombastisch. Das Orchester nimmt sich selten zurück, viel „Fortissimo“: hallende Bläser, flächige Streicher, Attacke! Wie der Soundtrack zu einem Heldenfilm. Wenige Brüche, die Musiker*innen hinter ihren Notenblättern sind auf Hollywood-Sounds der Marke Hans Zimmer getrimmt. Man verbeugt sich eher vor der Epoche der Romantik als vor der Neuen Musik: Edvard Grieg ist ein gutes Stichwort. Müsste das nicht komplett in die Hose gehen? Nee, geht es eben nicht.
Weil: TYR sind eben eine Metal-Band. Und gerade die „klassische Form“ des Metal lebt und lebte auch von ihrer Überwältigungsstrategie. Damn, könnte ich mir diesen Gedanken bitte patentieren lassen: Heavy Metal in der Reinform ist Hollywood für die Ohren. Ist Hymne, ist mitreisendes Gemeinschaftserlebnis, ist Pomp und Mitgröl-Effekt. IRON MAIDEN, JUDAS PRIEST: Wer fragt da nach Subtilität? Die in die Höhe gestreckte Faust hat viel mit der Heldenreise zu tun, die in so vielen Hollywood-Filmen kompetent beschworen wird. Wir sitzen vor der Leinwand und wir selbst werden zu den -oft tragischen- Helden, zu Cary Grant oder James Steward oder Leonardo DiCaprio. Die Titanic ist am Sinken und wir klammern uns verzweifelt an das letzte Stück Balken, das uns das Leben retten könnte. Melodische, doppelläufige Gitarren: schon immer eine Stärke der Nordlichter.
Diese Dramatik beherrschen TYR. Und das leider superb. Man höre sich einen bittersüßen Song wie „The Lay of Thrym“ an: im Original schon ein Hit, hier aufgewertet durch fette, fette Chöre. Ein Song gegen Despotismus: „Jeder Mann kann dich vom Thron stoßen/ Es wird kein Platz für dich sein/ In der Liga der freien Nationen“, singen sie. Wer denkt da nicht an Putin? Das ist eben auch ein Fakt: Die historischen Schlachtgemälde von TYR lassen auch Raum für zeitgenössische Interpretationen. Sie sind nicht nur als kitschige Verbeugungen vor einer oft verklärten Mythologie zu lesen. Auch das unterscheidet die Band von anderen Mitstreitern. Sie lassen Raum, über die Wikinger-Mythologie hinauszudenken und thematisch in das Hier und Jetzt zu weisen.
Der Mehrwert? Eben der Pomp, der sich ganz wunderbar in die Kompositionen der Färöer Band einfügt. „Trondur I Gøtu“: wieder ein geiler, mächtiger Metal-Song, der hier mit viel Pomp und Chören -kein Scheiß- aufgewertet wird. Trondur: eine Figur aus der Färinger-Saga, die menschliche Abgründe thematisiert. Eine Saga, die im 13. Jahrhundert entstanden ist und auf einer historischen Person beruht. Es geht viel um Intrigen, um Verwandte, die Verwandte erschlagen: Es ist ein bisschen auch die Abel- und Kain-Geschichte. Es sind urmenschliche Ängste und Konflikte. Spätestens in solchen Momenten sollten wir dann das Bierhorn nehmen und weit von uns werfen: TYR sind nicht irgendeine Viking-Metal-Band. Sie sind tatsächlich auch: Kulturboten der Färöer Inseln. So wie auch das Hollywood-Kino deshalb erfolgreich ist, weil es urmenschliche Themen in einem packenden Gewand präsentiert. Eifersucht, Liebe, Tod, Versagen. Der Überlebenskampf. All das ist hier da.
Abzüge in der B-Note
Und nein: Auch dieses Live-Album ist nicht perfekt. Es fällt auf, dass der Gesang von Heri Joensen nicht in jedem Moment mit der perfektionistischen, bombastischen Orchestrierung mithalten kann. Er singt teils unsauberer als auf den Studio-Alben, trifft nicht alle Höhen. Manchmal schneiden die Soli in Momenten rein, wo sie eher gegen das Orchester anspielen als den Sound begleiten. Macht aber auch nichts, weil es sich eben um ein Live-Dokument handelt. Und da wären wir doch wieder beim Viking-Metal: Seit wann erwarten wir hier grenzenlose Perfektion? Wollen wir nicht auch die rauen Momente? Manchmal ist die Orchestrierung eben doch auch einfach „too much“. Gerade dann, wenn TYR doch wieder bierselige Harmonien -haha- über den Hörer ausschütten, treffen sich Pomp und Songs nicht mit dem notwendigen Ernst, kommt ein bisschen das Gefühl auf, dass hier Orchester und Band auch ein bisschen aneinander vorbei spielen.
Macht nichts, denn die folkigen Momente gewinnen durch die neuen Arrangements, viele Songs gewinnen gegenüber der Studio-Version tatsächlich hinzu. Die sperrigen Momente wirken weniger sperrig, die majestätischen Momente wirken majestätischer, der Pomp tut vielen Songs gut, wenn man ausblendet, dass es eben doch Pomp ist. Und auch ein bisschen aufgeblasen. Die Chöre bei „Ragnars Kvæði“? Überwältigend. Und dann haben die Nordeuropäer Metal-Hits wie “Blood of Heroes“ oder „By The Sword In My Hand“ in der Hinterhand. “Hold the Heathen Hammer High”: Superbe Nummern, superber Kitsch. Eben einprägsam. Überwältigend. Hollywood. Netflix. IRON MAIDEN? Nichts weniger als das!
Und immer, wenn die Band eher ruhige Momente präsentiert, folkige Balladen: so etwa in „Sunset Shore“, funktioniert die Melange aus Melancholie, Folk und Pomp sehr gut. Eben keine bierseligen Songs, die man erst ab drei Promille geniesen kann. Dann präsentieren sich TYR als moderne Folk-Metal-Band, die doch eher an Neo-Romantik und impressionistischen Soundmalereien geschult ist. Ein bisschen Sibelius, der ja eigentlich Finne ist. Und auch die Idee von Bands wie WARDRUNA klingt mitunter durch: dieses Archaische, das eben doch für Netflix relevant ist.
Natürlich: Hater werden auch hier den Kitsch erkennen, das Aufgeblasene, das Verklärende. Es ist trotzdem raffinierter, gut gemachter Metal. Eine Band wie MANOWAR würde mehr als einmal bei dieser Soundkulisse ehrfürchtig das Haupt neigen: Weil sie das so rund und mit dieser Kompetenz eben auch gern hinbekommen hätten. Schlachthymnen mit einer gewissen Subtilität: und einer großen Portion Milchschaum auf dem Latte Macchiato. Massiv! In Ansätzen ziemlich geil. Empfohlen sei allen Nostalgikern die CD-Version, die METAL BLADE als Doppel-CD mit beigelegter DVD zum normalen Album-Preis veröffentlicht. Hier gibt es viel Stoff für einen runden Preis. Ich muss mir noch schnell einen Patch für meine Kutte bestellen.
Line-Up:
Heri Joensen: Vocals & Guitar
Gunnar H. Thomsen: Bass
Tadeusz Riechmann: Drums
(und gefühlt 100 andere Musiker!)
Produktion: Kristof Hartmann
Veröffentlichungstermin: 18. März 2022
Label: Metal Blade Records
TYR “A Night at the Nordic House” Tracklist
01. Hel’s Prelude
02. Gates of Hel
03. Grindavísan
04. Sunset Shore
05. Ragnars Kvæði
06. Gavotte from Suite in G Minor
07. Blood of Heroes
08. Ramund Hin Unge
09. Hold the Heathen Hammer High (Live-Mitschnitt bei Youtube)
10. The Lay of Thrym
11. Tróndur í Gøtu
12. Mare of My Night
13. Turið Torkilsdóttir
14. Fire and Flame
15. Torkils Døtur
16. Ormurin Langi
17. By the Sword in My Hand (Live-Mitschnitt bei Youtube)
18. Álvur Kongur