Beinahe hätte der Verfasser diese Rezension mit demselben Lamento begonnen, wie zu „Endless Twilight Of Codependent Love“. Aber die Gesamtsituation ist nach wie vor unverändert: SÓLSTAFIR hatten sich selbst überlebt, das letzte Album war so kraft- und zahnlos, dass es Entsetzen verursachte, während die Band live noch immer gnadenlos ablieferte – und dabei nicht zufällig selbst das alte Material bevorzugte. Das spricht natürlich Bände und ließ hoffen, dass die Isländer sich wieder auf ihre wahren Qualitäten fokussieren würden. Entsprechend gespannt wurde „Hin helga kvöl“ erwartet, das sowohl Befreiungsschlag als auch ein weiterer Rohrkrepierer werden könnte.
Gerade Bandchef Aðalbjörn Tryggvason hat sich in den vier Jahren seit „Endless Twilight Of Codependent Love“ fleißig ausprobiert: Crusten mit BASTARÐUR, schwelgen mit ISAFJØRD, alles war möglich. Vielleicht ist das ein Grund, warum „Hin helga kvöl“ überraschend gestrafft ist und die Songs so fokussiert daher kommen. Und ganz am Anfang steht da wieder ein SÓLSTAFIR-Moment, der pure Gänsehaut erzeugt. „Hún andar“ wird kurz atmosphärisch eingeleitet, dann dominieren leidenschaftliche Gitarren, ein treibender Basslauf und simple, aber wirkungsvolle Grooves, die den Boden für Aðalbjörn Tryggvasons eigenwillige Stimme bilden, in der so viel Emotion liegt. Mit diesem „Ótta“-Moment legen SÓLSTAFIR die Messlatte äußerst hoch an, erreichen dieses Niveau im Verlauf von „Hin helga kvöl“ aber nur selten wieder. Und doch ist das Quartett mit dem achten Album wieder eindeutig auf dem richtigen Weg.
Auf dem richtigen Weg: SÓLSTAFIR fahren auf „Hin helga kvöl“ ein strafferes und abwechslungsreicheres Programm als zuletzt.
Der Titel „Hin helga kvöl“ – das heilige Leiden – verspricht Epik und Pathos, umso überraschender, dass SÓLSTAFIR damit ihr bisher kompaktestes Album vorlegen. In weniger als 50 Minuten, mit vergleichsweise kurzen Songs wie dem launigen, von Classic Rock durchtränkten „Blakkrakki“, scheinen SOLSTAFIR selbst die Nase voll von den elendig langen Intros der Songs ihrer letzten beiden Alben zu haben. Und dass mit dem roh geholzten Titelsong und „Nú mun ljósið deyja“ zwei Black Metal-, respektive Black ’n‘ Roll-Songs auf „Hin helga kvöl“ stehen, ist durchaus überraschend. Während das Titelstück in Sachen Songwriting eher wenig beeindruckt, ist zweiterer dank schroffer Melodien ein kompakter Ohrenschmeichler.
Schwerer hat es das siebenminütige, längste Stück des Albums. „Sálumessa“ ist ein düsterer, leiser Song mit viel ziellosem Pathos und scheitert leider ebenso, wie die ähnlich gearteten Songs des Vorgängers; die Pianoballade „Freygátan“ macht das mit seinem subtil kernigen Finale zumindest etwas besser. „Vor ás“, nach dem Opener der beste Song des Albums, macht das wieder wett, da er mit viel Bauchgefühl Rock ’n‘ Roll mit Melancholie verbindet. „Grýla“ ist mehr im Midtempo angesiedelt, profitiert aber auch von diesem größenwahnsinnigen Rock and Roll-Momentum, dem sanften Mittelteil und einem wuchtigen, epischen, aber zu kurzen Finale. Das ist jetzt positiv gemeint: Diese Songs sind irgendwie erwartbar und in ihrer Erwartbarkeit purer Fanservice von SÓLSTAFIR.
Viel Fanservice und ein wenig Langeweile: Auf „Hin helga kvöl“ haben SÓLSTAFIR verstanden, dass ihr Talent nicht im Post Rock liegt.
„Hin helga kvöl“ bietet von allem etwas, wie eine Rundreise zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten Islands. Songs, die sich aus jeder Schaffensperiode der Band speisen, was letzten Endes darauf hinweisen könnte, dass die kreative Krise der Band eben noch nicht ausgestanden ist. Das zeigt sich auch beim Gesamteindruck: Die vergleichsweise kurzen Songs tun SÓLSTAFIR gut, wie sie zusammengestellt und aneinandergereiht wurden, wirken sie ein wenig konfus. Dass gerade nach dem Black Metal-Song „Nú mun ljósið deyja“ mit dem düsteren, von Gastsänger Sigurjón Kjartansson getragenen und mit Saxophon erweiterten „Kuml“ mit ANGELO BADALAMENTI-Atmosphäre das Album am Ende einen weiteren Bruch erlebt, wirkt wie eine Vollbremsung – und „Kuml“ kommt somit leider nicht so recht zur Geltung.
Zumindest in Sachen Sound ist „Hin helga kvöl“ sensationell: Der erdige, organische Sound ist roh und schroff, aber auch sehr dynamisch, sodass die Band direkt und authentisch klingt, wie lange nicht. Die Produktion fängt nicht nur die Liveenergie der Band gut ein, sondern spiegelt sich auch im kunstvoll-rauen Artwork wider. Um die Klischeeformulierungen des letzten Reviews weiter zu wälzen und die Entwicklung der Band zu zeigen: „Hin helga kvöl“ hat deutlich mehr Licht als Langeweile und Momente, in denen wieder klar wird, warum man SÓLSTAFIR liebt, selbst wenn die Musik nicht so intensiv ist, wie es der Titel des Albums verspricht. Und doch sind da Songs, die nicht ins Bild passen, oder viel zu langatmig wirken. Sei es drum: Aðalbjörn Tryggvason und seine Band, eingespielt und souverän agierend wie eh und je, haben das beste Album der letzten zehn Jahre parat. Mit „Ótta“, „Svartir Sandar“ oder „Köld“ kann sich „Hin helga kvöl“, ob seiner Unentschlossenheit und dem einen oder anderen Ausfall, indes nicht messen.
Wertung: 6,5 von 9 Golden Circle-Touren
VÖ: 8. November 2024
Spielzeit: 48:26
Line-Up:
Aðalbjörn Tryggvason – Guitar, vocals
Sæþór Maríus Sæþórsson – Guitar, Backing Vocals („Kuml“)
Svavar Austmann – Bass
Hallgrímur Jón Hallgrímsson – Drums, backing vocals
Gastmusiker:
Halldór Á. Björnsson – Piano
Borgar Magnason – Double Bass („Freygátan“)
Jens Hanson – Saxophone
Sigurjón Kjartansson – Vocals („Kuml“)
Erna Hrönn Ólafsdóttir – Vocals („Vor ás“)
Label: Century Media Records
SÓLSTAFIR ”Hin helga kvöl” Tracklist:
1. Hún andar (Official Video bei Youtube)
2. Hin helga kvöl (Official Video bei Youtube)
3. Blakkrakki (Official Video bei Youtube)
4. Sálumessa
5. Vor ás
6. Freygátan
7. Grýla
8. Nú mun ljósið deyja
9. Kuml (forspil, sálmur, kveðja)
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