Man kann MOONSPELL viel vorwerfen: Dass sie Poser sind, dass ihr Pathos gerne mal die Grenze zum Kitsch mit Anlauf überspringt, dass sie in der Vergangenheit auch mal gerne ihr Fähnchen in den stilistischen Wind gehängt haben und dass sie immer wieder nach Kalkül vorgehen. Was man ihnen aber nicht vorwerfen kann: Stillstand, Eindimensionalität, mieses Songwriting, fehlende Magie und dass sie einen schlechten Sänger haben. Und wenn sie mit Alben mit der Klasse von „The Antidote“ (das ich erst viel später zu schätzen gelernt habe), „Night Eternal“ oder „Extinct“ auftrumpfen, bin ich ihnen immer wieder treu ergeben. OK, ein bisschen guilty pleasure war schon auch immer dabei, aber hey, das gehört zu MOONSPELL wie falsche Eckzähne zu einem Hammer-Vampirfilm.
Nach dem völlig überbordenden Album „1755“, das mich persönlich herb enttäuschte, suchen MOONSPELL wieder einen Kontrast und veröffentlichen mit „Hermitage“ ein Album, das viele irritieren dürfte – obwohl es eigentlich wieder typisch MOONSPELL ist. Wer sich 30 Jahre lang ums verrecken nicht stilistisch limitieren will, schafft so einen Spagat. Und genau deshalb war ich auch in großer Vorfreude, Hauptsache weg von diesem Kitsch namens „1755“. Und siehe an, stilistisch gesehen trafen die drei Vorabsingles meinen Geschmack, aber sie berührten mich nicht. Mein ewiges Lieblingsalbum „Sin/Pecado“ bleibt unangetastet. Aber dann wächst „Hermitage“ doch. Und es entwickelt sich zu einem wertvollen Beitrag in der Diskografie der Band. Hauptsächlich dank eines Songs – aber dazu später mehr.
Mit „Hermitage“ verabschieden sich MOONSPELL vom überbordenden Bombast des Vorgängers
MOONSPELL orakelten in den letzten Monaten, dass sie alt geworden seien und mancher mag sich sorgen, dass sie bald in Rente gehen könnten (hier sind wir wieder beim Kalkül der Portugiesen), und es ist eindeutig, dass „Hermitage“ ein vergleichsweise introvertiertes Album geworden ist. Da mag mit hineinspielen, dass die Mammuttour mit ROTTING CHRIST Ende 2019 an manchen Stellen für Ernüchterung gesorgt hat, andererseits aber auch die Trennung mit Urdrummer Mike zur Folge hatte. Gebrochen klingen MOONSPELL anno 2021 nicht, viel mehr, als müssten sie ihr Feld neu abstecken. Von Aufgabe keine Spur.
Und das machen sie mit großer Hingabe. Brutale Eruptionen gibt es auf „Hermitage“ kaum, dafür viele leise Momente. Ein bisschen proggy ist es hier und da geworden, aber maßgeblich ist, dass da endlich wieder Platz ist. Platz für gefühlvolle Momente, Platz für Entwicklung und auch für Fernando Ribeiros Singstimme. Statt Orchesterbombast ist hier wieder eine Band zu hören, bis zu dem Punkt, dass die Keyboards von Pedro Paixão wie vor zwanzig Jahren klingen. Was auch wie in den guten, alten Zeiten klingt: Die Leadgitarren von Ricardo Amorim sind auch wieder mit der Leidenschaft getränkt, wie zu den besten Zeiten von MOONSPELL. Daneben hat sich Fernando Ribeiro noch ein Stückchen weiter entwickelt – seine Vocals sind so gut wie nie, selbst in höheren Lagen.
MOONSPELL sind anno 2021 ruhiger, aber auch weniger gefällig. „Hermitage“ will erarbeitet werden.
Einerseits sind das also gute Voraussetzungen, andererseits ist „Hermitage“, das aus Entfremdung von der Realität geboren ist, nicht sehr gefällig. Es will erkämpft werden und sich nicht anbiedern. Das ist in der Karriere von MOONSPELL selten der Fall, zuletzt war es so beim kalten Industrialalbum „The Butterfly Effect“, aber da war es eher ein Fall von bewusster Abgrenzung. In seiner Fülle ist „Hermitage“ ein gutes Album geworden. Die anfangs enttäuschenden Vorabsingles fangen an zu wirken, wenn auch eher subtil. „The Greater Good“ beginnt als brodelnde, treibende Nummer mit sanftem Gesang und entwickelt sich zu einem großen Chorus hin, den MOONSPELL eigentlich noch größer können. Ab dann gibt es mal Hits zu hören, wie die Gothic Metal-Nummer „Common Prayer“, die Ballade „All Or Nothing“ und „The Hermit Saints“, die MOONSPELL trotz allem mit angezogener Handbremse zeigen. Sprich, das können sie schmissiger. Der Titelsong ist klar der Schwachpunkt des Albums, hier gibt es ein Standardriffs, Keyboards, Monotonie, Gebrüll – ein Wurmfortsatz von „1755“.
Und dann sind da die versteckten Juwelen: „Apoptheghmata“, das finster brodelnd mit einem trashig-schaurigen Gruselflair aufwartet. „Without Rule“, das souverän irgendwo zwischen klassischem Doom Metal, Progrock und typischen MOONSPELL-Trademarks balanciert und erst auf den zweiten, dritten oder gar vierten Eindruck seine Stärken ausspielt. In der Mitte steht dann das absolute Highlight des Albums – ein subtiles Highlight: „Entitlement“ fußt auf einer unfassbar schönen Leadgitarre mit brillantem Gesang und lässt erahnen, wie „Sin/Pecado“ klingen würde, wenn es 2021 erschienen wäre. Das anschließende, luftige Instrumental „Solitarian“ greift diese Stimmung noch einmal auf, garniert das mit den schönsten Kitsch-Synthies der Marke „Irreligious“ überhaupt und lässt uns nochmal die glorreichen Neunziger fühlen.
Mut und Leidenschaft – MOONSPELL bündeln ihre Stärken für ein Album mit viel Licht und ein klein wenig Schatten
„Hermitage“ ist also eine echte Entdeckungsreise und es entfaltet sich von Durchlauf zu Durchlauf weiter. So ein herausforderndes Werk haben MOONSPELL seit „The Antidote“ nicht mehr geschrieben. Nach gewisser Eingewöhnungszeit wirkt das Album trotz der vielen Facetten sehr rund und zeigt sowohl die Instrumentalisten als auch Sänger Fernando sozusagen grenzenlos. Der neue Drummer Hugo Ribeiro fügt sich mit seinem Spiel gut ins Gesamtbild ein. Hier darf auch die starke Produktion von Jaime Gomez Arellano erwähnt werden: MOONSPELL sind zeitgemäß in Szene gesetzt, aber ohne Anbiederung an Produktionstrends.
MOONSPELL bleiben weiter ein Chamäleon im Bereich des düsteren Metals. Gerade weil „1755“ aber ein Publikumsrenner war, wird es „Hermitage“ nicht leicht bei denen haben, die eher auf Metalbombast stehen. Mehr zu bieten hat das dreizehnte Album der Portugiesen aber ohne jeden Zweifel, wenn auch erst nach gewisser Reifezeit. Wobei vermutlich eher das Publikum von MOONSPELL reifen muss, als die Musik. Ach ja, was man MOONSPELL 2021 nicht vorwerfen kann: Fehlenden Mut.
Wertung: 8 von 10 Erdlöcher
VÖ: 26. Februar 2021
Spielzeit: 52:24
Line-Up:
Fernando Ribeiro – Vocals
Pedro Paixão – Keyboards, Samples, Programming
Ricardo Amorim – Guitars
Airea Pereira – Bass
Hugo Ribeiro – Drums
Produziert von Jaime Gomez Arellano
Label: Napalm Records
MOONSPELL „Hermitage“ Tracklist:
1. The Greater Good (Official Video bei Youtube)
2. Common Prayers (Official Video bei Youtube)
3. All Or Nothing (Official Video bei Youtube)
4. Hermitage
5. Entitlement
6. Solitarian
7. The Hermit Saints (Video bei YouTube)
8. Apophthegmata
9. Without Rule
10. City Quitter
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