Es sei eine ihrer utopischeren Botschaften, erklärt ORPHANED LAND-Sänger Kobi Farhi einem sorgsam lauschenden Publikum. Nur sehe die Wirklichkeit oftmals doch viel tragischer aus, als es sich der Song „All Is One“ ausmalt. Diese Einheit der Religionen, dieses Ideal eines friedlichen Zusammenlebens ist ein nobles Ziel, das aber auch an diesem Montag zunächst von der Realität eingeholt wurde.
Aufgrund der aktuellen Situation habe man erhöhte Sicherheitsvorkehrungen getroffen, ist auf dem Schild am Eingang des Münchner Backstage zu lesen. Einlasskontrollen mit Metalldetektor und striktes Rucksackverbot in der Halle mögen der universalen Friedensbotschaft ORPHANED LANDs gegenläufig sein, aufgrund der zunehmenden antisemitischen Anfeindungen gleichwohl die vernünftige Vorgehensweise.
“A heaven you may create” – ORPHANED LANDs Tourmotto scheint heute wichtiger denn je
Schmerzen dürfte diese Ausgangslage die israelische Progressive Metal-Band wohl selbst am meisten: Seit mehr als drei Dekaden schon setzt sich das Quintett für die Verständigung der Völker und Religionen ein – und sieht sich nun vor einer Art Scherbenhaufen. Krieg und Terror in der Heimat sowie Sicherheitsbedenken ausgerechnet in Deutschland. Dass ORPHANED LAND überhaupt hier sind, ist also eigentlich wichtiger denn je.
Vor dieser Lage tritt schlussendlich sogar das nachzuholende 30-jährige Bandjubiläum als auch die Zwei-Dekaden-Feier zum Meisterstück „Mabool“ (2004) in den Hintergrund. Das Motto der Tour hat Bedeutenderes im Blick: „A heaven you may create“ – eine bessere Welt liegt allein in unseren Händen.
Den Grundstein hierfür legen ORPHANED LAND derweil nicht alleine: Mit SCIENCE OF DISORDER, LONE SURVIVORS sowie NEST OF PLAGUES hat man ein vielseitiges, wenngleich etwas irritierendes Vorprogramm im Schlepptau. Musikalisch ist selbiges nämlich nicht nur erstaunlich modern, sondern zugleich deutlich härter unterwegs. Zumindest auf den ersten Blick eine seltsame Kombination, welche darüber hinaus offenbar auch keine besondere Zugkraft ausübt.
NEST OF PLAGUES
Denn als um halb acht die Ungarn NEST OF PLAGUES den Abend einläuten, können wir unseren Platz vor der Bühne im Prinzip frei wählen. Dass zur frühen Stunde keine fünfzig Leute den Weg ins Backstage gefunden haben, beschäftigt die Formation indes nicht im Geringsten. Bassist und Sänger Dániel Ivanics zeigt sich vielmehr bei bester Laune und noch dazu überaus dankbar, hier und jetzt auf den Brettern stehen zu dürfen.
Mit knackigem Groove Metal, der sich auch vor einigen Alternative-, Nu- oder sogar Deathcore-Spitzen nicht verschließt, weiß der Frontmann schließlich um das Live-Potenzial seiner Band, welches sich nach anfänglichen Berührungsängsten der bayerischen Landeshauptstadt schnell zu entfalten beginnt. Mit klassischem Nu-Metal-Vokabular – man denke etwa an CRAZY TOWN – setzen NEST OF PLAGUES in „Circle“ einem verstorbenen Weggefährten ein Denkmal, bevor „Blackened Sky“ dem rauen Gesang Ivanics ein paar Blastbeats entgegenstellt. Donnernde Breakdowns und satte Riffs halten das Set darüber hinaus kurzweilig genug, um schon nach kurzer Zeit die Münchner:innen für sich zu gewinnen. Einzig zu sehen gibt es währenddessen nicht allzu viel, steht die Band doch die meiste Zeit über im Dunkeln, wenn nicht gerade die grellen Blitz- und Stroboskop-Effekte unsere Augen malträtieren.
Fotogalerie: NEST OF PLAGUES
LONE SURVIVORS
Eine Viertelstunde nur dauert der Changeover, ehe sich progressiv-internationales Flair breitmacht. Wenngleich MESHUGGAH als Urväter des Genres hier und da vor allem in Form der getragenen Lead-Gitarre grüßen, sind es wohl doch eher MONUMENTS sowie PERIPHERY, welche sich LONE SURVIVORS als Vorbilder auserkoren haben. Zwar erinnern uns die ruhigeren Momente passagenweise auch an TESSERACT, zumeist jedoch leben die Franzosen von der Dynamik, die das abgehackte Djent-Riffing in Verbindung mit härteren Ausbrüchen mit sich bringt.
Dass Sänger Arthur Rohou in den leisen Passagen nicht immer perfekt im Sattel sitzt, wollen wir derweil bereitwillig entschuldigen: Weil die Band im Laufe ihres Auftritts immer wieder über technische Probleme mit dem In-Ear-Monitoring klagt, teils wild in Richtung Mischpult deutet, und weil die Performance des Frontmann stellendweise schlicht beeindruckend ist. Vornehmlich die ganz hohen Passagen im Stile Spencer Sotelos (PERIPHERY) gehen unter die Haut und versöhnen uns so mit dem zwar transparenten, doch etwas druckarmen Soundmix, dem es leider an Bass fehlt.
LONE SURVIVORS erteilen mehr als nur eine Mathe-Lektion
Die Balance aus progressiven Arrangements, Härte und Zugänglichkeit gelingt nichtsdestotrotz, weshalb wir das erste Mal in unserem Leben Einspruch erwägen, als Frontmann Rohou die „Mathe-Lektion“ für beendet erklärt und dafür leichter verdauliches Material in Aussicht stellt. Dass sich dieses letzten Endes kaum als Easy Listening entpuppt, sondern die Extreme ähnlich geschickt gegeneinander ausspielt wie „The Circle Of Thoughts“ zuvor, soll uns somit nur recht sein.
Fotogalerie: LONE SURVIVORS
SCIENCE OF DISORDER
Breite Schultern, markante Tattoos und ein Mikrofonständer im Eisenketten-Look. Das erste Aufeinandertreffen mit SCIENCE OF DISORDER kann durchaus einschüchternd sein, zumal die Schweizer mit massivem Sound und massig Groove nicht unbedingt zartbesaitete Naturen zu sein scheinen. So jedenfalls unser anfänglicher Eindruck, den wir allerdings keine Viertelstunde später gerne revidieren wollen.
Das Quintett kann zweifellos auf den Putz hauen, wenn sich „Sickness“ in Richtung SOULFLY bewegt, lässt zwischendrin aber immer wieder ein freundlicheres Gesicht durchblitzen. So ist der sonst tough wirkende Frontmann Jérôme Thomas mit einer überraschend vollen Singstimme gesegnet, wie er in „Rabid Dogs“ in kleinen Dosen demonstrieren darf. Anonsten führt der Sänger zwar mit wenigen, dafür umso sympathischeren Worten durchs Set. Trotz Schweizer Pass sei sein Deutsch etwa eher „ein bisschen Scheiße“, weshalb er besser auf Französisch weiterreden werde: Liebenswerter kann man das schleppende „Des Rêves Noirs“ mit seinen unheilvollen Spoken-Word-Passagen wohl nicht ankündigen.
Melodisch und mächtig zugleich mischen SCIENCE OF DISORDER die Backstage Halle auf
Dass hier das Backdrop zwischendurch im Tausch für den Windows-Sperrbildschirm verschwindet, trübt die Atmosphäre nicht im Geringsten. Zumal der Fauxpas nur eine Passworteingabe später fix behoben ist. Auch die technischen Probleme zum Ende des 40-minütigen Sets bekommen SCIENCE OF DISORDER zeitig in Griff, sodass sich Shouter Jérôme nicht allzu lange auf seine Stand-up-Fertigkeiten verlassen muss. Melodisch und mächtig zugleich ebnet der Death- / Groove-Metal-Mix somit in zuverlässiger Weise den Weg für die Hauptattraktion des Abends.
Fotogalerie: SCIENCE OF DISORDER
ORPHANED LAND
Wie sehr ORPHANED LAND in der bayerischen Landeshauptstadt herbeigesehnt wurden, lässt sich unschwer an der plötzlichen Bewegung in der Halle erkennen. Waren die Münchner:innen bislang noch weit verstreut in allen Ecken zu finden, bildet sich nun doch ein enthusiastisch aufgelegter Pulk vor dem Bühnenrand. Diesem Einsatz ist es dann auch zu verdanken, dass der vergleichsweise spärlich besuchten Veranstaltung mit den ersten Tönen von „The Simple Man“ erquickendes Leben eingehaucht wird.
So zeigt sich die Zuschauerschaft im Folgenden gleichsam textsicher als auch engagiert, als Sänger Kobi Farhi für das umjubelt aufgenommene „The Kiss Of Babylon“ deren ganze Stimmgewalt einfordert. Die Fäuste schießen später auch im ungewohnt harten „We Do Not Resist“ empor, öffneten sich im Schlüsselsong „All Is One“ aber zuvor bereits in symbolträchtiger Weise. „A clenched fist becomes an open hand“, heißt es dort nicht ohne Grund. Denn die Spaltung im Heimatland war infolge der massiven Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 wohl nie größer, während eine friedfertige gemeinsame Zukunft im Mittleren Osten plötzlich wieder in weite Ferne gerückt ist. Auch deshalb habe man sich entschlossen, allen Widrigkeiten zum Trotz auf Tour zu gehen: Wenn nicht jetzt ein Zeichen setzen, wann dann?
Mit charismatischer und bewegender Darbietung lassen ORPHANED LAND ihre Musik sprechen
Beim Münchner Publikum rennt Farhi damit offene Türen ein, wie der lautstarke Beifall nahelegt, weshalb es zugleich so bitterlich schade ist, dass ORPHANED LAND heute Abend wohl vorwiegend jene erreichen, die ihr Ideal ohnehin schon teilen. An der Wirkung dieses Auftritts ändert das natürlich nichts, insbesondere da die Band in erster Linie die Musik sprechen lässt, anstatt belehrende Töne anzuschlagen. Hinzufügen muss man Stücken wie „In Propaganda“ oder dem bewegend vorgetragenen „Let The Truce Be Known“ ohnehin nichts. Was Kobi Farhis fabelhafter Gesang nicht vermag, transportieren die visuellen Untermalungen im Hintergrund, die mal aus Musikvideo, mal aus Songtexten bestehen.
Wobei wir ehrlicherweise gestehen müssen, dass jene Visuals für uns schnell zur Nebensache werden, zu vereinnahmend ist die ruhige und doch charismatische Darbietung des Frontmanns, der im schwarzen Gewand und auf nackten Sohlen mal rhythmisch mit den Fingern schnippt, mal elegant über die Bühne tänzelt. Und doch überlässt der Musiker hin und wieder seinen Kollegen das Rampenlicht, wenn etwa Gitarrist Idan Amsalem in „All Knowing Eye“ ein wunderbares, emotionales Solo zum Besten gibt oder im altbewährten „El Meod Na’ala“ die Bouzouki zupft.
Viele Höhepunkte, aber ein kurzes Vergnügen: ORPHANED LAND verabschieden sich früher als erwartet
Selbige gibt im akustisch vorgetragenen „In Thy Never Ending Way“ den Ton an, wo ORPHANED LAND ihr Publikum erneut rekrutieren, um dem zerbrechlichen Arrangement einen passenden Chor zu schenken. Solch in sich gekehrte Augenblicke fanden schon vorher ihr Gegenstück im tanzbaren „Sapari“, wo der weibliche Klargesang leider nur per Backing-Track verstärkte, bevor die Stimmung im grandiosen „Ocean Land (The Revelation)“ ihren vorzeitigen Höhepunkt erreichte.
An solchen mangelt es während der Show keineswegs und doch hätten wir gerne mehr davon gehabt: Nach der Zugabe “Norra El Norra“, dem das Outro von „Ornaments Of Gold“ angehängt wird, verabschieden sich ORPHANED LAND nach nicht einmal 70 Minuten aus der Millionenstadt. Obgleich hier noch ein letztes Mal ausgelassen mitgesprungen werden darf, ist das doch etwas mager. Schließlich liegt es heute auf der Hand, weswegen der überwältigende Großteil der Besucher:innen die Reise nach München auf sich genommen hat: Mit zwei bis drei Songs mehr hätten die Oriental-Metal-Vorreiter wohl nicht nur uns eine große Freude bereitet.
ORPHANED LAND bringen vermeintlich Gegensätzliches zusammen
Schließlich wartet auf uns nun der unangenehme Teil des Abends: Die Rückkehr in die harte und mittlerweile sogar nasskalte Realität, welche schon zu Beginn der Veranstaltung ihre unschönen Spuren hinterließ. Was Sicherheitsbedenken und das nagende Unbehagen im Hinterkopf uns wie allen anderen im Münchner Backstage jedoch nicht nehmen können, ist dieses eine Quäntchen Idealismus. Die vielleicht naive oder gar utopische Hoffnung, dass noch nicht alles verloren sei. Zumindest, solange es Künstler:innen wie ORPHANED LAND gibt, welche das vermeintlich Gegensätzliche zusammenbringen, um am Ende vielleicht doch eine bessere Welt zu hinterlassen: einen Himmel, den wir alle geschaffen haben.
ORPHANED LAND Setlist – ca. 70 Min.
1. The Simple Man
2. The Kiss Of Babylon (The Sins)
3. All Is One
4. In Propaganda / All Knowing Eye
5. Sapari
6. Ocean Land (The Revelation)
7. We Do Not Resist
8. Let The Truce Be Known
9. El Meod Na’ala
10. In Thy Never Ending Way
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11. Norra El Norra / Ornaments Of Gold
Fotogalerie: ORPHANED LAND
Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)