EVEREVE: Studioreport, 3.3.2001, Mannheim

Anfang März stellten EVEREVE der Medienöffentlichkeit erstmals ihr neues Album "e-Mania" vor, und somit das, das die Band selbst "Cyber Gothic Metal" nennt. Gar nicht so falsch: Der Nachfolger von "Regret" besticht durch alte Tugenden in einem modernen Gewand und mit gestrafften, durchweg knackigen Arrangements…

Sie haben bewegte Monate hinter sich, die Fünf von EVEREVE. Nach diversen Auftritten auf deutschem Boden absolvierte die Band ihre erste USA-Tour und feierte beachtliche Erfolge im Ausland. Doch die geschäftliche Liason mit Nuclear Blast zerbrach ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft mit VERMILION FIELDS-Sänger Benjamin Richter, der auf Regret noch Tom Sedotschenko ersetzte. Die Verbliebenen ließen sich dennoch nicht beirren, und es scheint gar, als hätten die Ereignisse des vergangenen Jahres den Zusammenhalt innerhalb der Band noch intensiviert und diese zu einem weiterem kreativen Kraftakt angespornt. e-mania haben EVEREVE das Album getauft, das in Kürze bei ihrem neuen Arbeitgeber Massacre Records erscheinen soll und das die Band Anfang März erstmals der Presse vostellte.

Egal, in welchen Teil der Journalistenrunde man seinen Blick schweifen ließ: Die Mienen derer, die sich in der Sitzecke des Frankenthaler Studios niedergelassen hatten, spiegelten gespannte Erwartung wider, hatten EVEREVE doch eine Überrschung angekündigt. Und als Produzent und Studioinhaber Gerhard Magin mit der Präsentation der ersten neuen Songs begann, war klar: Diese Band hat Mut. Den Mut zur Weiterentwicklung, den Mut, Experimente zu wagen und aus starren Genregrenzen auszubrechen. Waren die elektronischen Elemente auf Regret zwar effektiv, aber wenig vordergründig eingesetzt, so sind sie mittlerweile fest in den Bandsound integriert und tragen zu dessen Gesamtwirkung ebensoviel bei wie das klassische Gothic Metal-Instrumentarium, das – die Freunde harter Gitarren werden es mit Freuden vernehmen – nach wie vor nicht zu kurz kommt. Woran sich Fans der ersten Stunde werden gewöhnen müssen, ist die Tatsache, daß EVEREVE 2001 nicht mehr daran gelegen ist, ausschweifende Düster-Epen zu schreiben und längst die Freude am kompakten Songwriting entdeckt haben. Die zehn Stücke, die in den folgenden 40 Minuten den Raum füllten, belegten es eindrucksvoll.

Die ersten atmosphärischen Klänge, die aus den Boxen dringen, gehören zu `K.M.`, das sich nach wenigen Takten zu einem eingängigen, tanzbaren Songgebilde entwickelt, das als Grenzgänger zwischen den Polen Dark Wave und kräftigem Gothic Rock eine ausgezeichnete Figur abgibt. Und da ist sie auch schon, die Überraschung: Die klaren, dunklen Vocals stammen von keinem Geringeren als Keyboarder Michael Zeissl, der fortan auch den Posten des Lead-Sängers übernehmen wird. Beim folgenden `Pilgrimage`, in dem sich filigrane Synthesizer-Muster mit drohend-verhaltenen Riffs abwechseln und sich schließlich in einem explosiven Refrain entladen, stellt er sogleich unter Beweis, daß er eine erstaunlich breite Palette gesanglicher Ausdrucksformen beherrscht: Laute, rauhere Töne bereiten ihm ebensowenig Probleme wie sanfte Passagen in mittlerer Tonlage oder das schon umschriebene, klare, düster eingefärbte, sonore Wave-Timbre.

e-mania:`The Flesh Divine` beginnt mit schleppenden Gitarrenrhythmen und lasziv-lakonischer, weiblicher Erzählstimme. Das gemächliche Tempo wird beibehalten, Synthie-Chöre tragen die Atmosphäre des Stückes voran und alles mündet schließlich in einem melancholischem Refrain, der sich tief ins akustische Gedächtnis eingräbt und dort noch lange nachhallt. Das sirrende Elektroarrangement, das `Someday` einleitet, mag zwar nach EBM-Reminiszenz klingen, begleitetet letztlich aber einen energischen, modernen Gothic-Rocker durch abermals hitverdächtige vier Minuten Düstermusik. `This Is Not…` fasziniert nicht nur mittels interessanter Klangeffekte, sondern auch und vor allem dank seines ungewöhnlichen Aufbaus, der einen Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Sekunde des Songs schlägt. Nach dem bedächtigen Ausklang des Stückes reißt `Suzanne` den Hörer mit brachialen Riffattacken aus der Ruhe. Wirbelnde Rhythmen reißen ihn mit, bis sich sinistre Refrain mit ebensolchen Soundeffekten paart und das Spiel mit Dynamik auf die Spitze treibt. `Demons` wartet mit Industrial-nahen Untertönen auf, die jedoch ausreichend dezent in die Komposition eingebunden wurden, um ihr nichts von ihrer geschmeidigen Eingängigkeit in Moll zu nehmen, die sie zum potentiellen Club-Hit Nummer 3 reifen läßt. `Ligeia` hingegen bleibt eher futuristisch-dunkle Klangcollage als konventionelle Songstruktur, während das geradlinige `See The Truth` und das hymnische `T.o O.ur D.enial` noch einmal alles mobilisieren, was EVEREVE anno 2001 zu bieten haben: Harte Riffs, ebenso eingängige wie melancholische Melodieansätze jenseits jedes weinerlichen Sentiments, und packende, energische und vor allem moderne Arrangements nebst einer Hülle und Fülle ansprechender elektronischer Klangexperimente.

Nicht eben wenig also. Und selbst ohne einen Eindruck von der VISAGE-Cover-Version `Fade To Grey` (die dem Medien-Publikum an jenem Abend noch vorenthalten wurde, aber dennoch ihren Platz auf e-mania finden wird) gewonnen zu haben, mag folgende Aussage nicht übertrieben sein: Dieses Album wird EVEREVE – entsprechende Unterstützung seitens ihres neuen Labels Massacre vorausgesetzt – ein gehöriges Stück voranbringen. Ohne sich untreu geworden zu sein, hat die Band ihren Stil konsequent weiterentwickelt und ein modernes, klischeefreies Album des düsteren Gitarren-Genres geschaffen, das wohl nicht mehr jedem Fan der ersten Stunde liegen mag, das aber nicht nur mit kompositorischer Reife, sondern auch mit viel Liebe zum Detail und – nicht zu vergessen – zum (gelungenen) Experiment überzeugt. Während eine Band wie PARADISE LOST nur noch ziel- und stillos umherzuirren scheint und sich im ungelenken Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und innerem Wandel einer- und kommerzieller Erwartungshaltung andererseits immer mehr ins Abseits befördert, bleibt nach der Listening-Session der klare und nachhaltige Eindruck, daß EVEREVE ihren Weg gefunden haben: Kreativer Fort- statt kalkuliertem Rückschritt. Oder: Musikalischer Gehalt statt verbaler Attitüde…

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