CHIMAIRA: Chicks-Band? Album-Band? Hauptsache lange Lieder…

Rob und Mark über die neue Ernsthaftigkeit, ob lange Songs langweilig sind, und dass sie noch nie Kokain gesehen haben, aber dafür schon Groupies…

Eine der vielversprechendsten Bands der so genannten NWOAHM sind sicherlich CHIMAIRA. Nicht nur, dass sie tiefer im traditionellen Metal verwurzelt sind als die meisten ihrer Konkurrenten, nicht nur weil sie wirklich fantastische Konzerte spielen können und das rote Meer der Metal-Heads durch Sänger Mark Hunter immer im Griff haben. Sie haben mit Rob Arnold noch einen Ausnahme-Gitarristen und genialen Songschreiber an Bord. Also wurde es Zeit, zur Veröffentlichung des neuen selbstbetitelten Albums mit genau diesen beiden ein Gespräch zu führen über den Wunsch eine Album-Band zu werden, Texte und Leiden auf der Bühne und, ähem, Groupies…

Im Info der Plattenfirma steht, diese Platte sei euer “Master Of Puppets”. Ich hatte eher den Eindruck, es könnte euer “Peace sells…” sein. Wie denkt ihr darüber? Seid ihr froh über solche Vergleiche?

Mark: Jede dieser Platten ist ein Klassiker und deshalb sind diese Vergleiche eine Ehre. Wir haben sehr hart an diesem Album gearbeitet, und wenn die Vergleiche schon in dieser Kategorie gesucht werden, ist das toll. Wir wollten auch ein Album, das an die Zeit erinnert, in der man noch nicht darauf bedacht war, eine schmissige Radio-Single zu veröffentlichen.

Du spielst schon darauf an, dass die Szene trendy geworden ist. Wolltet ihr euch bewusst abheben von den momentanen Trends in der Metalszene, wie Metalcore?

Mark: Weniger. Wir wollten uns in der Hauptsache musikalisch und als Songwriter weiterentwickeln. Aber wir bemerken bestimmte Trends in der Szene und möchten uns davon fernhalten. Das wird ja auch schon genug ausgeschlachtet und es gibt genug Bands, die das auch sicher besser können als wir.

Der Vergleich mit MEGADETH drängte sich für mich auch auf wegen der Fokussierung auf Gitarren-Leads und der technischen Hochwertigkeit des Albums sowie eines leicht melancholischen Untertons…

Rob: Das ist natürlich ein Wahnsinnsvergleich für mich als Gitarrist. Es ist aber tatsächlich so, dass die Leads sehr wichtig sind und es gibt auch diese Melancholie.

Die Songs sind auch länger geworden…

Rob: Das stimmt. Wir haben uns nicht mehr beschränkt. Wenn man einen Song schreibt und merkt, er braucht eben noch einen bestimmten Part, haben wir ihn angefügt. Und wenn sich daraus noch ein weiterer Part entwickelt, bitte schön. Es hat keinen Sinn, sich limitieren zu lassen. Das Format von fünf bis sieben Minuten, das die Songs dieser Platte haben, ist genau die Zeit, die die Songs brauchen, um die entsprechenden Inhalte rüberzubringen.

Mark: Bisher hatten wir auch immer Beschränkungen von außen, die uns sagten, dass wir kürzere Songs machen sollen für Videos oder das College Radio, das in den USA sehr wichtig ist. Das gab es dieses Mal nicht. Wir schrieben die Stücke so, wie sie sein müssen. Wenn irgendwer einen Song kürzen will, um ein Video zu machen, kann das nur noch nachher geschehen. Beim Schreiben hat uns das nicht mehr beeinflusst.

Wie groß ist der Einfluss der Plattenfirma denn im Moment?

Mark: Es ist schwierig für sie. Wir haben sie sehr lange keine Aufnahmen hören lassen. Sie wurden richtig ängstlich und fragten immer, wie es denn klingen würde und ob es so wie das letzte Album sei, denn das war ja das was sie wollten. Wir sagten ihnen, es würde nicht im Geringsten wie das letzte Album klingen und alle Songs seien sehr lang. Die Antwort war: “Lange Lieder sind langweilig.” Und wir sagten: “Für euch vielleicht. Ihr wolltet, dass wir eine gute Platte machen, also vertraut uns.” Und das haben sie schließlich getan. Als wir ihnen die fertige Platte gaben, waren sie begeistert. Es war also richtig, dass sie sich nicht einmischen konnten.

Seid ihr jetzt auf dem Weg zu einer Album-Band, weg von einer Song-Band?

Mark: Auf jeden Fall! Ich vergleiche das immer gerne mit einem Buch. Man muss es erst einmal von Anfang bis Ende lesen, bevor man sagen kann, welche Stellen einem am besten gefallen. Bei einer Platte ist es genauso. Die ersten zehn Mal sollte man sie am Stück hören, um den Gesamteindruck zu bekommen.

Wie wichtig ist es für euch, dass ihr an den Alben gemessen werdet und die Leute nicht nur sagen: “Ah, das sind die mit dem einen Song” oder “Die kenn ich von dem und dem Soundtrack”?

Rob: Sehr wichtig! Natürlich ist es auch wichtig, dass bestimmte Songs zu Trademarks werden, wie “Pure Hatred” bei uns.

Heißt das Album deshalb auch schlicht “Chimaira”? Als Selbstdefinition?

Rob: Ja. Zum ersten Mal klingt die gesamte Band so, wie es sein soll. Wir haben alle unsere Positionen innerhalb der Band gefunden und stimmen zu hundert Prozent überein in dem was wir tun.
Wir möchten, dass die Leute uns eines Tages so erkennen, wie man zum Beispiel SLAYER erkennt. Selbst, wenn man den Song noch nie gehört hat, erkennt man nach wenigen Sekunden: Fuck, that´s Slayer! Das wäre super!

Habt ihr auch etwas an der Art des Songwriting geändert?

Rob: (überlegt) Eigentlich nicht. Irgendwer kommt an mit einer Idee und wir spielen damit rum. Im Grunde haben wir es schon immer so gemacht.

Mark: Der Unterschied ist aber, dass wir uns dieses Mal viel mehr Zeit gelassen haben. Auf der letzten Platte hatten wir ein Instrumentalstück, in das wir sehr viel Arbeit gesteckt hatten. Wir haben jedes kleine Detail ausgearbeitet und immer wieder verbessert. Und das war die Grundlage für das Songwriting für dieses Album. Wir haben bei jedem Song jedes Detail ausgearbeitet. Jedes Riff und jeden Drumbeat. Alles hat die volle Aufmerksamkeit und Konzentration bekommen. Es war verdammt viel Arbeit.

Wann hattet ihr den überhaupt die Zeit dafür, ihr wart in den letzten zwei Jahren doch quasi permanent auf Tour…

Rob: Wir haben insgesamt schon mehr Zeit für dieses Album gebraucht, aber vor allem haben wir die vorhandene Zeit besser genutzt. Früher hatten wir immer mehr Songs als wir dann schließlich aufgenommen haben. Dieses Mal haben wir uns auf die fertigen Songs konzentriert und eben viel Detailarbeit gemacht. Die Konzentration galt mehr dem Ganzen, als den einzelnen Songs. Wir haben uns viel mehr Gedanken gemacht über die Verbindungen zwischen den Songs und ihren Platz im Gesamtbild der Platte. Viel mehr Theorie.

Hatte das Touren da nicht auch Einfluss? Lernt man dort nicht am besten, wie ein Song wirklich funktioniert?

Rob: Ja, absolut. Zum einen schweißt das die Band zusammen, man wird tighter und kennt sich besser. Zum anderen hat man aber auch Zeit zum Nachdenken. Man sieht andere Bands und wie sie arbeiten. All das hat uns enorm weitergebracht. Jede Band kann ein paar pumpende Riffs zusammenhauen, das ganze fett produzieren und eine Weile klingt das auch gut. Aber wirklich Bestand hat ein Song nur, wenn er eine gute Struktur hat. Das ist das wirklich Wichtige. Das haben wir gelernt, auch wenn wir auf dem Weg zum richtig guten Songwriter erst am Anfang stehen.

Das Album wirkt auf jeden Fall viel erwachsener und durchdachter…

Rob: Manchmal vielleicht zu durchdacht.

Habt ihr schon Lieder davon auf Konzerten gespielt? Und wie waren die Reaktionen?

CHIMAIRA-Frontmann Mark Hunter
“Wir sind im Grunde ein Hund, der seinem Schwanz nachjagt.” – Mark Hunter über den Versuch, den Live-Sound im Studio einzufangen und dann live erneut heavier zu klingen als auf Platte.

Mark: Wir haben den Opener schon oft live gespielt. Letztes Jahr an Weihnachten haben wir ihn zum Beispiel auf einem Konzert in London gespielt. Meistens ist es ja so, dass das Publikum bei neuen Liedern eher etwas verloren rumsteht, aber bei diesem Songs gibt es in der Mitte einen Part, in dem nur die Gitarre das Riff spielt, und man konnte die ganze Halle schreien hören. Das war wirklich fantastisch. Von da an wussten wir, dass der Songs nicht so schlecht sein kann.

Die Produktion des Albums erinnert auch eher an ältere Platten, ohne wirklich altmodisch zu klingen. Aber es ist kein moderner, basslastiger Sound. War das auch Absicht, als Mittel der Abgrenzung?

Rob: Wir haben das Album zwar auch mit modernster Technologie aufgenommen, aber wir haben schon versucht es pur zu halten. Es sollte so echt wie möglich klingen, eben damit es anders klingt.

Mark: Der Sound sollte die Authentizität eines Live-Konzertes haben. Die Energie und die Nähe. Bisher klangen wir live immer heavier als auf Platte. Diese Mal wollten wir genau das einfangen, besonders bei den Drums. Sie sollten dir wirklich ins Gesicht springen. Jetzt sind wir nur gespannt, ob wir es schaffen, die Songs live noch einmal heavier klingen zu lassen. Wir sind im Grunde ein Hund, der seinem Schwanz nachjagt.

Die Produktion unterstützt in dem Sinne die Gewichtung der Platte. Der Sound lenkt nicht von den Songs, von den Riffs ab.

Rob: Wir sind eine Riff-orientierte Band und dort liegt definitiv der Schwerpunkt der Platte. Wenn die Produktion die Essenz der Platte unterstützt, hat der Produzent einen sehr guten Job gemacht. So sollte es sein.

Mark: Wir haben auch viel Zeit auf den Gitarrensound verwandt. Es sollte keinen Matsch geben. Da die Riffs so wichtig und auch so technisch sind, sollten sie einfach klar und kraftvoll klingen. Das gilt aber im Endeffekt für jedes Instrument. Auf welches Instrument du dich auch konzentrieren möchtest, du kannst es.

Das gefällt mit persönlich sehr gut. In den letzten Jahren hatte ich immer mehr den Eindruck, das Riff geht im Sound unter und damit verloren. Der Sound und der Druck wurden wichtiger als der Song.

Mark: Genau! Eben das wollten wir nicht.

Hat sich denn auch im persönlichen Verhältnis der Bandmitglieder untereinander etwas verändert in der letzten Zeit? Abgesehen vom Drummerposten…

Mark: Zwei Drummer zu verlieren hatte schon einen gewissen Einfluss (lacht). Das Touren hat uns aber näher zusammengebracht. Auf der Bühne hat man ein unglaubliches Hochgefühl und man denkt es ist das absolut Beste. Jetzt machen wir uns mehr Gedanken, wie wir genau dieses Gefühl den Zuschauern besser vermitteln können, damit jeder glücklich aus dem Konzert geht und uns in guter Erinnerung behält. Was die Drummer angeht, gab es da Dinge, die wir nicht kontrollieren konnten. Auf Dauer zieht so etwas die ganze Band runter. Wir wollten aber weiterkommen. Wenn du negative Dinge in deiner Band hast, kannst du dich aber nicht entwickeln.

Gab es auch etwas, das ihr am Leben als professioneller Musiker total desillusionierend empfandet? Etwas, das ihr euch so nicht vorgestellt hattet?

Rob: Natürlich. Die gesamte Wahrnehmung von Musik ändert sich, wenn du selber spielst und Konzerte gibst. Wenn ich mir Bands heute angucke, achte ich immer auf die ganzen Kleinigkeiten drum herum und begutachte das Equipment. Ode erwische mich dabei, wie ich nur die Lightshow ansehe und checke, welche Lichter sie benutzen oder so etwas. Ich habe etwas das Fan-Sein verloren und eine größere Aufmerksamkeit für das Technische entwickelt. Das geht vielen Musikern so und manchmal bedaure ich das richtiggehend. Man wird so kritisch.

Mark: Manchmal hört man eine Platte einer Band, die man schon als Kind gehört hat und denkt dann Sachen wie: “Diesen Part hätte ich anders gemacht”. Und dann fragt man sich: “Mein Gott, wie kannst du so was denken?!”

Das letzte Konzert, das anders war, war MACHINE HEAD im letzten Jahr. Wir sind mit den Jungs ja befreundet, also bin ich hin und dachte vorher: “Na toll, du wirst wieder nur darauf achten, wie sie live im Gegensatz zur Platte klingen und was für Sachen sie benutzen.” Aber irgendwie war ich dann doch wieder ein fünfzehnjähriger Fan im Moshpit und es war großartig. Und das hat mir den Impuls gegeben, dass unsere Konzerte genau so sein müssen. Dass selbst vermeintlich abgeklärte Musiker wie wir wieder zu Fans werden und jeder loslassen kann und Spaß hat.

Eine schwere Aufgabe! Ich würde gerne noch über die Texte sprechen. Wovon handelt der Song “Save Ourselves”, wovor sollt ihr gerettet werden? Im Text heißt es “Feel us… we´re stronger…”. Geht es um die Band und ihre Position?

Mark: Als ich das erste Mal den Song hörte, hatte ich gleich dieses “Here we are!”-Gefühl. Allen Gefühlen, die einen runterziehen, als Band, aber auch als Person, gegenüber zu treten und sie zu überwinden, das ist die Botschaft des Songs. Ein positiver Arschtritt.

Sprecht ihr über die Texte innerhalb der Band?

Rob: Nicht wirklich. Jeder macht sich da seine eigenen Gedanken.

CHIMAIRA-Gitarrist Rob Arnold
“Wir haben immer ‘Behind the Music’ auf VH1 geguckt und uns alles gemerkt, das wir also besser nicht tun sollten, es sei denn wir wollen die Band zerstören. Wie etwa drei Pfund Kokain nehmen vor der Show, oder so.” – Rob Arnold weiß, wen man besser nicht zum Vorbild nehmen sollte.

Da ihr euch ja sehr gut kennt, ist es doch vielleicht möglich Rückschlüsse aus den Texten auf die Situationen zu ziehen, die sie inspiriert haben…

Rob: Nicht immer. Bei manchen Sachen habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon er da gerade singt. Dann frage ich auch nicht. Oder ich mache mir meine eigene Interpretation.

Mark: Das ist auch manchmal echt überraschend, welche verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten es gibt. Innerhalb der Band und auch von außerhalb, von Fans oder Journalisten. Die Jungs in der Band können sicher mit den meisten Sachen noch etwas anfangen, bei manchen ist das aber auch gar nicht möglich. Das Schlimmste in dieser Richtung war ein Fan, der mir sagte, wie sehr ihm meine Texte gefallen und besonders ein spezieller Song, in dem es seiner Meinung nach um das und das ging. Ich musste aber leider sagen, dass es um etwas komplett anderes ging und das hat ihn richtig aufgeregt. Da habe ich beschlossen, den Leuten mit ihren Interpretationen immer Recht zu geben (lacht).

Ist es denn so wichtig, die ursprüngliche Inspiration zu erkennen, oder ist es nicht viel mehr wichtig eine Interpretation zu finden, die für den Hörer etwas bedeutet, die ihn berührt?

Mark: Genau. Es ist schön, wenn jemand etwas wirklich versteht, aber es ist auch gut, wenn jemand eine eigene Interpretation findet, die ihn mit dem Song verbindet. In beiden Fällen heißt das für mich, dass ich gute Arbeit geliefert habe. Wenn ich auf der Bühne stehe, und die Leute singen meine Texte, dass ich nur noch das Mikro in die Menge halten muss, das ist fantastisch.

Haben denn Texte für dich eher dokumentarischen, realitätsbezogenen oder poetischen Charakter?

Mark: (überlegt) Beides. Manche sind eher künstlerisch, wenn ich versuche kreativ zu sein, manche sind eher direkt auf den Punkt. Auf dieser Platte sind sicher achtzig Prozent der Texte eher realitätsbezogen. Es geht um bestimmte Dinge, die auch angesprochen werden und fassbar sind. Es geht um Situationen und Leute, die real sind.

Wie in “Pray For All” mit der nächsten Zeile: “…the lifes you ruined…”?

Mark: Genau. Es gibt solche Leute, denen man nur noch den Mittelfinger zeigen und ein “Fuck you!” sagen möchte. Das gilt aber auch für Situationen. Diese Elemente ziehen sich aber durch alle unsere Platten bisher. Letztens hat noch jemand einen Text von mir über eine bestimmte Person in einer Art und Weise interpretiert, die ich nie für möglich gehalten hätte und die nicht sehr nett war. Ich habe ihn mir daraufhin noch einmal angeguckt und es steckte wirklich drin. Man konnte es so sehen, obwohl es nicht so gemeint war. Das ist schon manchmal merkwürdig.

Gab es denn schon mal eine Reaktion von jemandem, der sich in deinen Texten erkannt hat, aber wirklich schlecht weggekommen ist?

Mark: Naja, vielleicht. Ich bin da nicht so sicher. Wenn man einen bösen Text über jemanden schreibt, hat man ja auch meistens keinen Kontakt mehr zu der Person, da ja Dinge vorgekommen sind, die nicht korrekt waren. Es ist mir aber auch schon passiert, dass mich Leute direkt angesprochen haben und gefragt haben, warum ich so etwas über sie schreibe. Ich sagte dann: “Because you fucked up!” Denn das war der Grund. Das ist dann etwas, womit diese Person, aber auch ich klar kommen müssen. Manche Dinge können einfach nur auf diese Art gesagt werden. Wenn ich sie dann geschrieben und gesungen habe, fallen sie von mir ab und regen mich nicht mehr auf. Manchmal muss ich mich dann entschuldigen. Aber es ist trotzdem der beste Weg mit Erfahrungen und Situationen umzugehen, die einen aufregen und fertig machen.

Rob: In Zukunft werden wir dann vorsorglich für jeden Song einen zweiten Entschuldigungssong machen. (lacht)

Durchlebst du denn diese Emotionen immer wieder, wenn du den Song singst?

Mark: Ja. Wenn ich die Texte schreibe, visualisiere ich viel. Und wenn ich sie singe, habe ich oft die Augen geschlossen und tue dasselbe. Ich stelle mir die Sachen wieder vor und das ist manchmal sehr hart. Für fünf oder sechs Minuten konzentriere ich mich dann auf etwas, das schmerzlich ist und sehe es vor meinen Augen. Wenn ich sie dann aber nach dem Song wieder öffne, ist es weg und belastet mich nicht mehr.

Ist das nicht auch mental sehr anstrengend?

Mark: Oh ja, absolut. Es gab Zeiten in der Vergangenheit, in denen ich nach dem Auftritt zusammen gebrochen bin, weil es einfach so anstrengend war. Manchmal brach ich in Tränen aus, denn diese ganzen negativen Gefühle vermischt mit den so positiven, die man während des Konzertes bekommt, waren einfach zu viel für mich.

Kannst du dann ein Konzert überhaupt richtig genießen? Oder haben die anderen in der Band dann den Spaß und du den Zusammenbruch?

Mark: Oh nein, es ist trotzdem toll!

Rob: Die Reaktionen der Fans sind zum Teil aber auch euphorisch. Wir haben letztens zum ersten Mal in Mexiko gespielt, es gab zwei ausverkaufte Konzerte in Mexiko City und die Fans waren so laut, dass man uns kaum hören konnte. Wir haben nur gegrinst auf der Bühne.

Mark: Oh ja, er hat die ganze Zeit wie bescheuert gelacht. Wir hatten vorher wirklich etwas Angst, denn vor dem Konzert hörten wir die Fans schon im Backstageraum. Und es klang eher wie ein Aufruhr, denn wie ein Konzert. Wir dachten schon: “Mein Gott, wo haben wir uns da reingeritten?!” Aber dann war es fantastisch. Das ist das Gefühl, das dich weitermachen lässt. Die Verbindung zu unseren Fans ist sehr gut, wir versuchen sie so oft wie möglich persönlich zu treffen, nach den Konzerten noch mit ihnen abzuhängen. Wir möchten nicht sechs Rockstars sein, die irgendwo in anderen Sphären schweben.

Könnt ihr von der Band leben?

Mark: Ich würde es nicht leben nennen. Wir haben keine Day-Jobs mehr. Wir haben aber keine Villen oder Ferraris. Wir leben noch bei den Eltern und haben gar kein Auto. Aber das ist es uns wert. So lange wir uns auf die Musik konzentrieren können und nicht noch nach der Tour bei McDonalds arbeiten müssen, ist das sehr gut für uns.

Ich denke, dass man der neuen Platte all das durchaus anhören kann. Die ganze Hingabe und die ganze Reife, die ihr durch all das was ihr eben beschrieben habt, erreicht habt. Daher vermutlich auch die Vergleiche mit den Klassikern…

Rob: Danke, Mann. Das ist genau das, was wir mit der Platte erreichen wollten.

CHIMAIRA - Albumcover des selbstbetitelten neuen Albums
Das schlichte Cover-Artwork des neuen Albums wurde von Sänger Mark Hunter konzipiert.

Ist das sehr schlichte, aber gute Cover mit den zwei Schädeln auch schon Ausdruck dieser Haltung? Mark, du zeichnest ja auch für die Art Direction verantwortlich…

Mark: Ja, ausgeführt hat es allerdings ein Künstler. Das ganze Booklet soll dieses Konzept weiter ausführen.

Der Song “Lazarus” handelt von dem Selbstmord eines Freundes. Wie nähert man sich einem solchen Thema?

Mark: Es handelt sich um jemand, mit dem ich aufgewachsen bin. Es war mein Drum-Lehrer, ich habe mit Drums angefangen. Im Grunde danke ich ihm im Text dafür, dass er mir ein so guter Freund war. Ich konnte mich nie richtig verabschieden und das tue ich in dem Song. Bisher hat immer der richtige Song gefehlt, um diesen Text schreiben zu können. Ich bin sehr stolz auf diesen Song, denn alles ist perfekt und stimmig. Die Gitarren und die ganze Musik stimmen mit dem Text hundertprozentig überein. Den Text habe ich auch seiner Mutter geschickt und sie war sehr gerührt und dankbar. Viele haben so etwas erlebt und können sich damit identifizieren. Ein paar Freunde von mir, die ähnliches erlebt haben, haben mir schon gesagt, dass sie der Text berührt hat und das ist sehr schön für mich.

Musste dieser Text dann warten, bis die Musik die nötige Tiefe erreicht hatte, um ihn zu tragen?

Mark: Genau. Das Thema beschäftigt mich schon, seit es vor elf Jahren passiert ist. Aber erst als dieser Song da war, habe ich gespürt, dass es der Song für diesen Text ist. Die Musik war schon vor dem Text fertig, das ist sie bei uns immer. Ich höre dann den Song und schaue, was er in mir auslöst. Bei diesem Song kam alles von damals wieder hoch und es war der Moment es zu verarbeiten.
Wenn Rob einen Song schreibt, denkt er vermutlich an Barbecue und fröhliche Leute. Bei mir löst er dann Vorstellungen von Leiden und Schmerz aus. Wir ergänzen uns also sehr gut (lacht).

Rob: Das stimmt im Grunde sogar. Die Vorstellungen, die ich mir mache, wenn ich einen Song schreibe, unterscheiden sich von seinen, wenn er den Text schreibt. Aber trotzdem stelle ich immer wieder fest, wie gut es zusammenpasst. Also ergänzen wir uns wirklich.

Werdet ihr den Song live spielen?

Mark: Ja, das denke ich schon. Vielleicht am Schluss des Konzertes.

Damit du dann zusammenbrechen kannst…

Mark: (lacht) Ja, genau. Der Song ist auch am Ende der Platte und die Leute fragen jetzt schon: “Wie konntet ihr am Ende einen so depressiven Song nehmen?” Das wäre doch auch live cool. Erst Superstimmung, dann dieses Lied und alle sind schlecht drauf (lacht).

Es gibt Psychologen, die sagen, dass Selbstmord die egoistischste Tat überhaupt ist. Würdet ihr dem zustimmen?

Mark: (überlegt lange) Ja und Nein.

Rob: Ich denke nicht. Die Person nimmt sich immerhin das Leben und fügt sich den größten Schaden zu.

Aber allen anderen auch.

Mark: Das trifft in manchen Fällen sicherlich zu. Ich denke, wenn jemand todkrank ist und Schmerzen hat, ist es sicher nicht egoistisch, denn er erlöst alle anderen auch, selbst wenn es erstmal schmerzhaft auch für sie ist. Wenn jemand den Willen zu Leben verloren hat, kann man ihm nicht mehr helfen.

Rob: Oft ist auch der Grund, dass Menschen sich und allen anderen ihr Dasein und ihren Schmerz, nicht nur körperlicher Art, nicht mehr zumuten wollen.

Auch das kann psychologisch als egoistisch gesehen werden, denn die Person denkt, über das leben der Anderen mit entscheiden zu können und als einzige die Wahrheit zu kennen. Auch wenn die eigene Wahrnehmung noch so verzerrt ist.

Mark: Das ist tatsächlich schwierig. Ich kann es nur verstehen, wenn jemand ohnehin krank ist und sterben wird. Dann ist es für ihn auch eine zusätzliche Qual, seine Angehörigen wegen seines Zustandes leiden zu sehen. Die Erwartung des Todes ist oft schlimmer als der eigentliche Tod. Denn dann kann man sich an all die guten Dinge erinnern und die Person lebt weiter, aber in ihren guten Momenten und nicht mehr in den Qualen der Krankheit.

Das ist auf jeden Fall richtig. Es gab in den letzte Monaten ja eine Diskussion in den USA über Sterbehilfe, ausgelöst durch den Fall einer Wachkoma-Patientin und den Streit zwischen Eltern und Ehemann, ob ihr Leben weiter künstlich erhalten werden soll. Was denkt ihr darüber?

Mark: Oh Mann, das ist eine verdammt harte Frage… So etwas habe ich persönlich noch nicht erlebt und es ist schwer darüber zu urteilen, da man ja nie die ganze Geschichte kennt. Nur nach den Berichten der Medien ist es schwierig, etwas zu sagen. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich in einer solchen Situation wäre. Keiner weiß, ob sie weiterleben wollte oder nicht. Das ist sehr hart. Lass uns lieber beim Metal bleiben.

CHIMAIRA 2005
CHIMAIRA sind keine Chick-Band: “Wir sind ja nicht gerade die hübscheste Band der Welt. Aber ein Groupie flachzulegen ist auch nicht gerade etwas, auf das man stolz sein kann.”

Okay. Also reden wir über die schillernde Karriere der Band. Nach zwei Alben erschien eure erste DVD. Das ist ein beeindruckendes Tempo. Kam es euch manchmal etwas schnell vor?

Rob: Es war genau zur richtigen Zeit. (lacht)

Mark: Wir wussten, dass eine längere Zeit bis zum nächsten Album vergehen würde, und wir wollten etwas veröffentlichen. Als Lebenszeichen. Ursprünglich sollte es nur die EP sein, die mit der DVD erschien. Aber der Freund, der die DVD letztendlich gemacht hat, hat das Projekt immer weiter fortgeführt. Als wir es am Ende wieder gesehen haben, fanden wir es fantastisch und wollten es veröffentlichen. Es ist anders als die meisten DVDs, wo einerseits das Konzert und zum anderen ein paar Szenen sind, wo die Musiker sich hinter der Bühne zum Affen machen. Wir machen uns aber für anderthalb Stunden zum Affen. Das ist doch toll. (lacht)

Früher hat es Jahre gedauert, bis eine Band ein Video veröffentlicht hat und auch dann waren es nur die ganz großen Bands…

Mark: Das stimmt. Heute ist das einfacher. Aber es verbindet auch mehr. Die Fans haben mehr Zugang zu uns als Personen und sehen, dass wir auch nur Typen wie sie sind. Auch die Fans in Ländern, in denen wir noch nicht gespielt haben. Oder Fans, die aus anderen Gründen nicht zu den Konzerten kommen können. So können sie sich ein anderes Bild von uns machen. Außerdem erfahren die Leute dann, wie es wirklich ist, in einer Band zu sein. Es gibt nicht nur die großen Stars und ihr mysteriöses Leben, es gibt auch Konzerte mit uns vor 300 Leuten. Die Basis.

Es gibt heute einen anderen Zugang zu Rockstars. Es ist echter, aber dafür auch weniger glamourös. Fehlt da aber nicht auch ein bisschen Faszination?

Mark: Das stimmt. Früher hätte keine Band so etwas gemacht. Aber wir sind ehrlich in unseren Texten und deswegen sind wir auch ehrlich in unserem Auftreten. Wir wollen nicht auf einem Podest stehen. Die Fans sind heute auch intelligenter und durchschauen Unehrlichkeit. Wir sind normale Typen, die gerne Metal spielen und versuchen so gut wie möglich zu sein.

Rob: Wir hätten auch gar keine Chance mehr, einen solchen Idol-Status aufzubauen wie Bands in den 70ern. Außerdem haben wir kein Geld für schnelle Autos und Privatjets.

Wärt ihr denn gerne solche Rockidole?

Rob: Natürlich, das klingt ja alles nicht wirklich schlecht! (lacht)

Mark: Wahrscheinlich wäre es dann in Wirklichkeit doch nicht unser Ding. Außer für Jim (Lamarca – Bass – der Verf.). Der denkt wirklich, er spielt bei LED ZEPPELIN. (beide lachen)

Rob: Wir haben immer “Behind the Music” auf VH1 geguckt und uns alles gemerkt, das wir also besser nicht tun sollten, es sei denn wir wollen die Band zerstören. Wie etwa drei Pfund Kokain nehmen vor der Show, oder so.

Mark: Für manche mag das funktionieren, für uns sicher nicht. Ich habe sogar noch nie Kokain in echt gesehen. Nur im Fernsehen.

Rob: Da siehst du, wie naiv und jung wir sind! (lacht)

Aber Groupies habt ihr schon mal gesehen…

Rob: Die sind ja auch nicht zu übersehen. Das ist das, was den alten Rock´n`Roll noch am Leben erhält! (lacht) Natürlich nicht mehr so wie in den 80ern oder wie im Fernsehen. Wir sind auch keine “Chick-Band”.

Mark: Wir sind ja nicht gerade die hübscheste Band der Welt. Aber ein Groupie flachzulegen ist auch nicht gerade etwas, auf das man stolz sein kann.

Fotos: Roadrunner Records

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