Ein Jahr, ein verdammtes Jahr. Ein Jahr der Trauer, der Unsicherheit, der wachsenden Aggression, der Krisen und Katastrophen. Ein Jahr, in dem sich die Welt weiter dreht, egal was ihre Bewohner mit den opponierenden Daumen, die „Liminal Animals“, darauf treiben, und wie sie jene formen. Ein Jahr, in dem einer das Wolfsrudel verließ und schließlich sein Leben beendete. Tore Ylvizaker starb in der Nacht nach seinem 54. Geburtstag, am 16. August 2024. Da waren ULVER schon fertig mit den meisten neuen Songs, obwohl mittels fragwürdiger Salamitaktik erst die Hälfte veröffentlicht war. Und, es war nicht das letzte Mal, dass Ylvizaker bei ULVER mitwirkte, denn dieser zog sich in den letzten Jahren aus dem Kollektiv zurück. Ein heftiger Einschnitt, denn seit 26 Jahren war Ylvizaker der Kollaborationspartner von Kristofer Rygg bei ULVER. Der das Soundbild der Band eher im Hintergrund prägte, sich auf Produktion, Technik und Komposition fokussierte. Der, den der Verfasser für immer mit den Soundscapes von „Perdition City“, „A Quick Fix Of Melancholy“ und „Teachings In Silence“ verbinden wird.
Obwohl ULVER der fürchterlichen Nachricht wegen auf „Liminal Animals“ quicklebendig wirken, fühlt es sich an, als wäre ein Teil der Band mit Tore Ylvizaker gestorben. Doch ULVER predigen und praktizieren seit jeher die Erneuerung, denn die Norweger sind größer als die Summe ihrer Teile; so zynisch das auch klingen mag. Was die Band mit den ersten beiden Stücken „Ghost Entry“ und „A City In The Skies“ veröffentlichten, hatte schon eine andere Atmosphäre wie noch „Flowers Of Evil“. Ohne dass man es wusste, waren ULVER Ende 2023 bereits eine andere Band. Dabei ist das äußerst kompakte Synthpop-Stück „Ghost Entry“, tanzbar und elegisch, mit einem Kristoffer Rygg, der gut wie selten bei Stimme ist. „Ghost Entry“ ist eigentlich die perfekte Fortführung des Konzeptes der letzten beiden Studioalben.
ULVER zeigen mit „Liminal Animals“, dass sie größer als die Summe ihrer Teile sind – stilistisch, aber traurigerweise auch personell.
Doch die erste Vertrautheit täuscht. Ab „A City In The Sky“ emanzipieren sich ULVER von den letzten beiden Alben, es ist organischer, rockiger, irgendwie erwachsener – sogar mir Chor! –, zwischen CURRENT 93 und GENESIS vielleicht? Allerdings funktioniert der Song nicht in seiner Gänze, es fehlt die Gravitas, der Impetus, das Momentum. Unverschämt gut geht das Stück dennoch ins Ohr und in die Beine. Doch dass eine kleine stilistische Anpassung anfällt, ist mehr als überfällig. Immerhin: Niemals zuvor gab es zwei aufeinander folgende ULVER-Alben, die gleich klangen. Zum dritten Mal das durchexerzieren würde sich – so sehr der Verfasser die Pop-Phase von ULVER liebt – falsch anfühlen. Nochmal: Diese Band ist dem steten Wandel unterworfen, durch und durch Lykantropen eben.
Die Stücke von „Liminal Animals“, die noch am ehesten in die Poprichtung gehen – das wuchtige „Hollywood Babylon“ und das großartig geschriebene „The Red Light“ – wirken reifer, organischer, besser ausgearbeitet, mehr nach einer eingespielten Band, an der nun auch Dauergast-Gitarrist Stian Westerhus größeren Anteil hat. Das liegt sicherlich auch am etwas weniger polierten und dynamischeren Mix, doch ULVER präsentieren hier einige der besten eingängigen Songs, die sie bis dato geschrieben haben, obwohl die lyrische Seite eine sehr zeitgemäße und bittere ist. Dass Kristoffer Rygg auch hier gesanglich brilliert, ist nur folgerichtig.
Pop trifft auf Experiment trifft auf die typisch elegische Melancholie der Norweger: „Liminal Animals“ zeigt trotz Schwächen umfassend, was ULVER können.
Das Beste, das ULVER anno 2024 präsentieren, sind die durch und durch melancholischen Stücke, die wie ein Bindeglied der Pop-ULVER zu „Shadows Of The Sun“ funktionieren: „Forgive Us“, das diese typisch-elegische Art hat, die einfach nur ULVER können und mit einer herzzerreißenden Jazztrompete von Nils Petter Molvær ergänzt wurde und zum Weinen schön ist, fließt über in das Instrumental „Nocturne #1“, das genau die Qualitäten hat, die in den frühen 2000ern für die größte Gänsehaut sorgte. Wenig überraschend, dass hier Erinnerungen an „Not Saved“ entstehen. Somit sind gesichert fünf von neun Stücken schlicht exzellent und zeigen, dass ULVER auch ohne stilistischen Bruch die kompositorische Arbeit für sich spannend und interessant halten können.
Neben dem nur guten „A City In The Skies“ stehen zwei weitere Stücke auf „Liminal Animals“, die nicht so recht funktionieren wollen: „Locusts“ wirkt lust- und ziellos, hat keine wirkliche Linie, keinen großen Chorus, keine Momente, die haften bleiben. „Nocturne #2“ setzt die herzzerreißende Melancholie des ersten Teils nicht fort, sondern experimentiert in dunklen, krautigen Stilistiken, die ULVER per se gut drauf haben, dieser GOBLINoide, JOHN CARPENTEReske Jam zeigt, dass nach „ATGCLVLSSCAP“ die Experimentierfreude nach wie vor in den Osloern steckt. Und doch: Irgendwie wirkt das Stück ein wenig fehl am Platz, es fehlt auch die Intensität, die anderen der Tracks innewohnt. Besser funktioniert das Experimentieren mit dem pulsierenden „Helian (Trakl)“, das hypnotisch, mit einer exzellenten Basslinie und einem großartigen Groove arbeitet. Ein simples Fundament für eine sehr nokturne Reise, mit tiefem Sprechgesang durch das Sterben und den Untergang. Verglichen mit Trakls Worten ist das abgründige Stück indes – glücklicherweise – geradezu subtil, und doch wirkt es wie ein Abschied auf ihren ehemaligen Mitmusiker.
„Liminal Animals“ ist ein Statement: ULVER bleiben ULVER, auch ohne Tore Ylvizaker.
Die DNA ULVERs ist intakt, ob mit oder ohne Tore Ylvizaker. Vielleicht, weil er zusammen mit Rygg den Grundstein gelegt hat und sein Geist weiterhin in der Musik lebt. Vielleicht, weil sich das musikalische Gesamtbild in den letzten 26 Jahre so erweitern konnte, dass ULVER grenzenlos sind und bleiben. Diese Freiheit spielen sie aus, aber mit Maß und Ziel. „Liminal Animals“ ist durch und durch ULVER, aber eher die Summe dessen, was die Band in den vergangenen 20 Jahren auszeichnete, und weniger eine Neudefinition – vielleicht gerade, weil Tore Ylwizaker fehlt. Kristoffer Rygg, Ole Alexander Halstensgård und Jørn H. Sværen führen die Tradition von ULVER fort, freilich ist es Rygg, das Gesicht von ULVER, der über seine einmalige Stimme den Gesamtsound formt und prägt. Nein, ein schlechtes Album können ULVER nicht veröffentlichen, und somit ist „Liminal Animals“ seiner exzellenten Songs wegen auch ein zu Herzen gehendes Stück Musik, das den Verfasser seit den Anfängen vor einem Jahr begleitet und vielleicht deshalb etwas inkonsistent geraten ist und somit nicht zum Besten zählt, das die Wölfe erschaffen haben. Für Freund*innen zutiefst melancholischer Musik führt selbstredend kein Weg am achtzehnten Album der Band vorbei.
Wertung: 7,5 von 9 Gefährlichste Tiere der Welt
VÖ: 29. November 2024
Spielzeit: 51:14
Line-Up:
Ole Alexander Halstensgård
Kristoffer Rygg
Jørn H. Sværen
Gastmusiker:
Stian Westerhus – Guitar, Bass, Strings, Backing Vocals)
Ivar Thormodsæter – Drums
Anders Møller – Percussion, Choir
Nils Petter Molvær – Trumpet
Sara Khorami – Choir
Astra Eida Rygh – Choir
Sisi Sumbundu – Choir
Torgeir Waldemar Engen – Choir
Label: House Of Mythology
ULVER „Liminal Animals“ Tracklist:
1. Ghost Entry (Official Video bei Youtube)
2. A City in The Skies
3. Forgive Us
4. Nocturne #1
5. Locusts
6. Hollywood Babylon
7. The Red Light
8. Nocturne #2
9. Helian (Trakl)
Mehr im Netz:
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