Groß zu erklären, dass die niederländische Black Metal-Szene die derzeit aufregendste der Welt ist, hieße sprichwörtliche Eulen nach Athen tragen. Denn alles, was in diesem Dunstkreis erscheint, ist pures Gold. TURIA, NUSQUAMA, IMPERIAL CULT, FLUISTERAARS sowieso (hier sei nochmals auf deren sensationelles, neues Album hingewiesen), und spätestens jetzt auch ISKANDR. Als „Obscure Heathen Black Metal“ labelt das Label die Musik, aber so richtig obskur sind ISKANDR nicht. Viel mehr liegt die Originalität der Musik in der weitergedachten Treue, die Mastermind O alias Omar K. in die Musik gibt. Als grobe stilistische Eckpfeiler dienen sicherlich BATHORY und auch neuere Helden wie PRIMORDIAL, dazwischen sind kleinere folkige und minimal progressive Elemente enthalten. Aber immer wieder zeigen sich ISKANDR als Einheit, die in den Details viel verbirgt.
Die Niederlande schlagen wieder zu: Auch ISKANDRs zweites Album „Vergezicht“ ist aufregend.
Das ist mal stürmisch und leidenschaftlich, dann wieder heavy und bedrohlich und dazwischen mal verspielt und selten sogar ein bisschen verträumt. ISKANDR beherrschen dieses Spektrum mit traumwandlerischer Sicherheit und schreiben so lange Stücke, bei denen jede Idee, jeder Teil, jedes Element die notwendige Aufmerksamkeit erfährt. „Vergezicht“ hat einen langen Atem. Und genau das ist es, was ein episches „Heathen“ Black Metal-Album auch braucht, um nicht zu langweilen, vor allem wenn es sechs Songs in über einer Stunde Spielzeit sind. Und natürlich: vielerlei Einflüsse. Wenn das Presseinfo von KING CRIMSON spricht, mag das übertrieben sein (obwohl, sind wir nicht alle von ihnen inspiriert?), die teilweise Nähe zu NEUROSIS kann man immerhin spüren, wenn schon nicht unbedingt hören.
Dass ISKANDR trotz aller Ambivalenz so gut funktionieren, liegt daran, dass die Basis stimmt. Die Riffs sind prägnant und zwingend, und das Zusammenspiel mit Schlagzeuger M. Koops (FLUISTERAARS) erzeugt ein solides Bandfeeling. Es ist auch M. Koops, der ISKANDRs Musik ihre Power verleiht, denn seine Energie ist auch bei FLUISTERAARS das Besondere. ISKANDR präsentieren sich in den Midtempo-Passagen, als auch wenn sie rasant unterwegs sind, sehr kraftvoll – und sind immer zwingend. Tatsächlich ist das Intensivste, das auf „Vergezicht“ zu finden ist, „Gewesten der Tijd“, das sich nach einem kurzen Intro zu einem Doom-Monster mit dissonanten Gitarren und beschwörendem Goth-Gesang auftürmt. Zu einem melodischen Solo steigert sich das Stück sanft in Sachen Geschwindigkeit, bis nach einem krassen Schnitt das Album mit rasanten Riffs, Blast Beats und Geschrei endet. Ein Wahnsinn.
„Vergezicht“ bedeutet „Aussicht“, und so wirkt das Album auch. ISKANDR überblicken ihre Musik und halten gleichzeitig eine Innenschau.
In diesem Stück, wie auch bei allen anderen gilt, dass ISKANDR eine Menge Details verstecken. Immer wieder sind da Chöre, Klavier, Orgeln und mehr – das alles steht aber im Dienste der jeweiligen Komposition und versucht nie krampfhaft, die Songs in eine progressive Richtung zu schieben. So zeigt sich O als erfahrener Songwriter, dem das große Ganze wichtiger ist, als sich zum Virtuosen aufzuspielen. Stattdessen setzt er auf Tiefe in den Details. So sind die einzelnen Songs jeder für sich sehr charakteristisch und zeigen eine eigene, kleine Welt auf. Und statt auf heidnische Klischees zurückzugreifen, sind ISKANDR ganz bei sich, „Vergezicht“ bedeutet „Aussicht“, und so wirkt das Album auch. Auf einer Anhöhe stehend, die Welt überblickend einerseits, andererseits ist diese „Aussicht“ aber auch eine Innenschau.
„Vergezicht“ ist sehr lange und ausufernd, ist aber stets ausgewogen und somit wirkt es zu keiner Sekunde ermüdend. ISKANDR zeigen auch hier songschreiberisches Geschick, denn die Ausgewogenheit der Stücke passt sich auch im Albumverbund gut an. Kurz, es bleibt über die gesamte Spielzeit hinweg spannend. Und weil die Intensität nicht ständig am Anschlag ist, findet sich hier vielleicht ein weiterer Grund, warum „Vergezicht“ so gut fasziniert: Es hat Raum sich zu entfalten, kann atmen und gibt von Mal zu Mal neue Facetten von sich preis. Hier tun sich auch Parallelen zu THE RUINS OF BEVERAST auf, die den Spagat zwischen Epik, Experiment und Energie ähnlich gut hinbekommen.
Klarheit und Ideenflut: ISKANDR schaffen auf „Vergezicht“ den Spagat zwischen Epik, Experiment und Energie.
Beim abschließenden „Het Slot“, das für sich gut funktioniert, ist dann aber manchmal beim Hören des Albums die Luft doch raus. Das fünfzehnminütige Stück wirkt nach fünf unglaublich intensiven Stücken, auch trotz der rasanten Stellen etwas gesättigt, vielleicht ist aber auch nur der Rezipient müde nach so einer Flut an Ideen, die zuvor auf ihn eingeprasselt sind. Als wäre O sich dem gewahr, lässt er das Album langsam etwas proggig und psychedelisch und eben doch obskur ausklingen. Gerade in den ersten fünf Stücken sind ISKANDR so zwingend intensiv, dass sie so wie wenig anderes in diesem Jahr unter die Haut gehen. Dass die beiden letzten Stücke dieses Niveau nicht halten können, zieht vielleicht einen halben Punkt ab, stört aber letzten Endes nicht wirklich. Wichtig ist nämlich, dass „Vergezicht“ einen Sog entfaltet, von dem man sich als Freund von stilistisch offenem Black Metal einsaugen lassen darf, selten hat sich in diesem Jahr ein Album nachhaltiger in Herz und Hirn geschraubt. Das Fazit bleibt eindeutig, die Niederlande haben wieder zugeschlagen. Und so kommt auch das Artwork nicht von ungefähr: ISKANDR hissen die Fahnen, und das ganz zu Recht. „Vergezicht“ ist ein erstaunliches Album.
Wertung: 5 von 6 Anträge auf niederländische Staatsbürgerschaft
VÖ: 27. September 2021
Spielzeit: 63:45
Line-Up:
O. – Vocals, Electric Guitars, Acoustic Guitars, Bass Guitar, Electric Organ, Orchestra Chimes, Choir Vocals, Tambourine, Trumpet, Piano
M. Koops – Drums
Label: Eisenwald
ISKANDR „Vergezicht“ Tracklist:
1. Gezag
2. Bloeddraad (Official Video bei Youtube)
3. Gewesten der Tijd
4. Baken (Official Audio bei Youtube)
5. Verbod
6. Het Slot