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CHRISTIN NICHOLS: I’m Fine

Selten klang schlechte Laune so charmant: CHRISTIN NICHOLS empfiehlt sich mit ihrem Debüt „I’m Fine“ schon mal für das Indie-Pop-Album des Jahres. Halb in Deutsch und halb in Englisch gesungen, zitiert sie die „Neue Deutsche Welle“ ebenso wie britischen Postpunk im besten THE SMITHS-Stil. „Ich möchte, dass es euch schlecht geht!“ Eine Aufforderung, die man in diesem Fall gern annimmt.

Wer von CHRISTIN NICHOLS noch nie etwas gehört hat, der hat sie vielleicht schon mal gesehen. Sie ist Schauspielerin, hat an den wichtigsten deutschen Bühnen gespielt: am Berliner Ensemble, der Volksbühne Berlin, aber auch am Schauspiel Leipzig. Und sie war im „Tatort“ sowie in unzähligen anderen Fernseh-Produktionen zu sehen. Eine Frau mit roten Haaren und einem Gesicht, das sich einprägt. Charismatisch, unverkennbar. Charakterdarstellerin. Und eine Frau mit einer interessanten Biographie: Deutsch-Britin, die in Spanien aufwuchs, in einem Wanderzirkus auftrat. Tonnenweise Charisma. Sie ist cool, sie ist unverkennbar. Und, das ist ein Glücksfall: Sie ist auch Musikerin.

Bisher war CHRISTIN NICHOLS als Teil der Elektro-Punk-Band PRADA MEINHOFF bekannt. Grelle Stimme, tanzbare Beats, schön “aggro”: auch ein wenig „Hipster“-Attitüde. Schon auch ein bisschen Berlin-Mitte. Muss man mögen. Doch nun geht das Allround-Talent andere Wege. CHRISTIN NICHOLS hat ein Solo-Album aufgenommen, das anders ist. Melodischer, eingängiger und wirklich verdammt gut. Das liegt auch an ihren britischen Wurzeln, die mehr als einmal durchschimmern. Und das sind im Zweifel: THE CURE, THE SMITHS. Das ist britischer Wave-Rock und Post-Punk. Aber auch die „Neue Deutsche Welle“, Elektropop und Grunge. Gepaart mit deutschen und englischen Texten, verströmt das so viel Charme wie lange kein Album mehr, das hierzulande aufgenommen wurde. Ein verführerischer Cocktail.

Schlecht gelaunt und Spaß dabei

Wobei man sagen muss, CHRISTIN NICHOLS macht es uns zunächst nicht leicht, sie zu mögen. Die Texte kommen teils melancholisch, teils aber auch schlecht gelaunt und herrlich angepisst daher. Als ausgestreckter Mittelfinger. Vieles auf diesem Album sendet die Botschaft: Ich will doch eigentlich gar nicht gemocht werden! Fuck You! Lass mich nur in Ruhe. Die Apokalypse ist schon da: Und DU bist mit Schuld daran! Wobei die Apokalypse hier nicht als großes Inferno erscheint, sondern als – teils zynische – Alltagsbeobachtung. „Die Hölle sind die anderen!“, wusste schon Jean-Paul Sartre. Die Hölle: Das ist im Zweifel Bielefeld.

Der Titelsong „I’m Fine“ ist ein toller Einstieg. Einer der wenigen Songs auf dem Album, die komplett in Englisch gesungen sind. Und eine einschmeichelnde Wave-Pop-Nummer, mit hallenden Gitarren und einschmeichelnder Stimme. SIOUXIE AND THE BANSHEES drängen sich als Verweis auf. Und natürlich ist auch „I’m Fine“ eine Lüge. Sie lieben dich nur, wenn du zu scheinen vermagst: nicht in all den anderen Momenten. Schaue nie hinter die Fassade. Die Gitarren sind herrlich flirrend, der Bass pulsiert. Das Schlagzeug setzt einen simplen, aber tanzbaren Rhythmus. Ein Hit! Ist so. Die Stimme ist angenehm, sexy, infektiös. Man möchte diesen Songs sehr schnell auf alle „Lieblingssong“-Bestenlisten des Jahres setzen. Sofern man diesen Sound zu schätzen weiß.

Song Numero zwei, „Today I choose Violence!“, empfiehlt sich dann als Feminismus-Hymne des Jahres. Darin bürstet NICHOLS so ziemlich jedes Klischee, das man von besorgten Männern bei Twitter und Facebook zum Thema Gender und Sexismus lesen kann, gegen den Strich. „Muss es jetzt eigentlich Frau*innen heißen?“ Oder: „Ja, dann denk mal drüber nach, was du für Signale sendest, wenn du dich so anziehst!“ Einst schrieb die Hardcore-Katholikin Birgit Kelle zum Thema sexuelle Belästigung: „Dann mach doch die Bluse zu!“ Als ob ein sexy Outfit Berechtigung dafür wäre, dass Männer gaffen, grapschen und vergewaltigen dürfen.

CHRISTIN NICHOLS kennt da nur einen Ausweg: „Today I choose Violence!“ Für unqualifizierte Kommentare gibt es eben ordentlich aufs Maul. Ich sehe schon, wie die BILD-Redaktion in ihrem neuen TV-Format Viertel vor Acht darüber diskutiert: „Darf man sich so ausdrücken? Sollte man die Sorgen der Bürger nicht ernst nehmen?“ oder alternativ: „Gibt es Rassismus gegen Weiße? Ich fühle mich als Mann Mitte 50 diskriminiert!“ Dafür gibt es natürlich auch aufs Maul. Das alles packt NICHOLS in herrlich schlechtgelaunten, aber dennoch verführerisch klingenden Gitarren-Pop. Sprechgesang in der Strophe: im Refrain sehen wir uns erneut an britischen Wave-Rock erinnert, SMITHS-Referenzen inklusive.

Yes: Gerade, wenn NICHOLS ziemlich schlechte Laune verbreitet, uns anpisst und gegen das Schienbein tritt, macht diese Musik verdammt viel Spaß. Das sind die stärksten Momente des Albums: gestählt durch die melancholische „No-Future“-Attitüde des Postpunk, die doch auch viel Lebenshunger und Sehnsucht und Drängen verspricht. So ist auch „Sieben Euro Vier“ ein ziemlicher Hit.

„Kein Auto/ keine Perspektive/ Ich hab kein Haus/ Und keine Liebe/ Ich hab keinen Sex-Appeal/ Und keinen Verkehr/ Ich hab kein Backup gemacht/ Und die Milch ist schon wieder leer:// Ich möchte, dass es euch schlecht geht/ So richtig schlecht geht/ So schlecht wie mir!“, singt NICHOLS. „Ich hab sieben Euro im Lotto gewonnen/ Sieben Euro vier!“ Die tragischen, kleinen Gewinne im Alltag. Die sich doch wie Verluste anfühlen. Da fühlt man sich umarmt: auf vergebliche, menschliche Art und Weise. Mensch: Sind das nicht die besten Alben? Wenn du dich verstanden fühlst: Aber man dir auch (sofern du ein Mann bist) ordentlich in die Eier tritt?

„Ich möchte heut kein Eisbär sein/ Ich möchte ganz nach oben: Ich will den Fame, ich will den Fame: Wir sind verloren!“, heißt es dann im folgenden Song „Fame“. Auch dies eine bittersüße, melancholische, im Herzen sehr menschliche Wave-Pop-Nummer. Der Fingerzeig in Richtung „Neue Deutsche Welle“ und GRAUZONE ist naheliegend. Den Bass spielt und die Songs produziert hat Stefan Ernst, der – so verrät Discogs – auch an Produktionen von TARJA TURUNEN und von GAMMA RAY beteiligt war. Und der sich hier auch am Songwriting beteiligt hat. Kein Wunder, dass der Sound hier sehr gekonnt und ausgereift daher kommt. Wir haben es mit der Master Class zu tun. CHRISTIN NICHOLS ist einer der grandiosesten Persönlichkeiten, die der deutsche Film und Pop aktuell zu bieten haben: und Companion Stefan Ernst kann auch was.

Endstation Bielefeld

Dazwischen gibt es Songs, die die Metal-Gemeinde vielleicht weniger umarmen wird: und die doch sehr gut funktionieren. Wave-Pop mit eben: Pop-Appeal. Die richtig gut sind. „Die Welt dreht sich doch immer weiter/ Geht’s mal ein bisschen leichter?/ Mein Schatz? / So take a risk / Geh rein da / Und das Ganze bitte zeitnah”, singt NICHOLS in „Take a Risk“. Und sie spendet Trost: „Wenn ich scheiter/ So hab ich es doch probiert!“

Hier gibt es elektronische Rhythmen, 80s-Retro-Style, aber auch wieder: Gitarren mit viel Hall, dieses Postpunk-Feeling. „Viel zu viel gesehen/ Viel zu oft gescheitert: Baby, I got News for you!“ Hey: Das ist gut. So richtig gut! Auf diesem Niveau – ich schwöre – hat man deutschsprachigen Indie-Pop schon lange nicht mehr gehört. Ihr wollt noch eine Reminiszenz? Okay: Das ist in Ansätzen „Phillip Boa and the Voodooclub“-Niveau. Und keinen Deut schlechter.

Und dann gibt es einen Song wie „Bielefeld“. Das ist vielleicht einer der schönsten Songs, den ELEMENT OF CRIME nie aufgenommen haben. „Hurra wir leben noch, es hilft ja sowieso nichts…/ Ich hab mir noch ein Bier bestellt/ Kann es nicht mehr trinken, weil:/ Endstation Bielefeld!“ Zuhause angekommen, “wo genau ist das denn”? Am Ende bricht der Song aus, wird wild und punkig. Und dann wieder diese einschmeichelnden Wave-Pop-Gitarren.

Mein Gott: Vielleicht ist CHRISTIN NICHOLS die größte Indie-Pop-Sensation seit WIR SIND HELDEN. Es wäre ihr jeder Erfolg zu gönnen. Und man fragt sich, worin sie jetzt besser ist. Ob als Schauspielerin, dieses unglaublich markante, charismatische Gesicht mit den roten Haaren. Oder als Musikerin. Christin, wir lieben dich für alles, was du tust: auch wenn die Tatort-Drehbücher natürlich viel, viel schlechter sind als deine Musik. Das hier ist ein sehr gutes Album: Das man gehört haben sollte.

Veröffentlichungstermin: 21.01.2022

Label: FREUDENHAUS RECORDINGS

CHRISTIN NICHOLS “I’m Fine” Tracklist

1 I’m fine (Video auf Youtube)
2 Today I choose violence (Video auf Youtube)
3 Malibu
4 Sieben Euro Vier
5 Fame
6 Neon
7 Take a risk
8 Phoenix
9 I see you
10 Kein Grund zu schreien
11 Koma
12 Bielefeld

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