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BETWEEN THE BURIED AND ME: Colors II

Mit dem Sequel des Meilensteins “Colors” (2007) fahren BETWEEN THE BURIED AND ME alle Geschütze auf: Indem sie Wendungen und Stilbrüche zum Teil eines großen Ganzen werden lassen, finden sie trotz überbordender Kreativität einen Weg, den roten Faden leuchten zu lassen. Progressiver wird’s dieses Jahr nicht mehr.

Tabula Rasa. Wir starren auf ein leeres Dokument und ringen nach Worten. Versuchen unsere Gedanken zu sortieren, nachdem wir 80 Minuten lang gescheitert sind, dem Gehirnfasching eine Struktur zu verleihen. Eigentlich haben wir das ja schon hunderte Male getan, aber im Fall von „Colors II“ ist der Buchstabensalat im Kopf schwer zu entwirren. Das liegt zum Teil an der Erwartungshaltung: Der im Gegenzug selbst ganz unerwartet angekündigte Nachfolger des Mammutwerks „Colors“ (2007) hat seinerseits große Fußstapfen zu füllen, gleichzeitig aber 14 Jahre später die besten Chancen exakt das zu tun.

Immerhin sind BETWEEN THE BURIED AND ME in den vergangenen anderthalb Dekaden als Songwriter weiter gereift, spieltechnisch waren sie ohnehin immer absolute Spitzenklasse. Und das bringt uns in die Bredouille, wenn auch in der bestmöglichen Art und Weise: Die US-Amerikaner haben das Sequel im Geiste vollgepackt mit Details, Querverweisen, Zitaten und einem Maß an Kreativität, das wir schlicht und ergreifend nicht adäquat in Worte fassen können.

“Colors II” verfolgt einen ähnlichenen Aufbau wie der quasi-Vorgänger

Colors“ sei „eine Achterbahnfahrt, von der man nie genug kriegen kann“, konstatierten wir seinerzeit. Teil zwei müsse dann eigentlich der komplette Rummelplatz sein – zumindest, wenn wir uns auf die klassischen Regeln für Fortsetzungen berufen. Doch „höher, schneller, weiter“ ist nicht unbedingt der Ansatz, den BETWEEN THE BURIED AND ME verfolgen wollen. Vielmehr entspringt der Gedanke des Sequels aus einer ähnlichen Mentalität wie anno 2007: Man habe sich erneut mit dem Rücken zur Wand gesehen und den Drang verspürt, etwas Besonderes zu schaffen, erklärte Gitarrist Paul Waggoner hierzu gegenüber MetalSucks.net. Der Druck und die Erwartungshaltung, irgendwann einen neuen Meilenstein abzuliefern, ist nachvollziehbar und scheint auch die Konzeption des Albums beeinflusst zu haben.

Tatsächlich verfolgt „Colors II“ einen ähnlichen Aufbau wie der quasi-Vorgänger: der schüchterne Auftakt „Monochrome“, die unberechenbare Dramaturgie der teils ausladenden Tracks samt verrückter Einschübe wie Air Horns („The Double Helix Of Extinction“), Cartoon-Sounds („Prehistory“) oder 80s Drums („Never Seen / Future Shock“), und schließlich das große Finale „Human Is Hell (Another One With Love)“, das sich in puncto Spannungsverlauf und Atmosphäre am damaligen Closer „White Walls“ orientiert. Das alles sind aber lediglich Ankerpunkte oder grobe Orientierungshilfen, um als Hörer nicht sofort den Kopf in den Sand zu stecken.

BETWEEN THE BURIED AND ME lassen Wendungen und Stilbrüche zum Teil eines großen Ganzen werden

Denn BETWEEN THE BURIED AND ME fordern uns auch diesmal wieder alles ab: Aufmerksamkeit, Ausdauer und Geduld. Bei 80 Minuten Spielzeit, die vor komplexen Arrangements und kreativen Ideen nur so strotzen, entdecken wir selbst auf der zehnten Odyssee noch neue Feinheiten. Während im eruptiven „The Double Helix Of Extinction“ die Percussions etwa umgehend ins Ohr springen, schält sich der röhrende Synth-Unterbau erst nach und nach ins Bewusstsein.

Doch so krass die Gegensätze auch innerhalb der einzelnen Songs sein mögen, niemals reißen uns die US-Amerikaner aus dem Kopfkino. Vielmehr forcieren BETWEEN THE BURIED AND ME diesen Flow, indem sie die zwölf Stücke nahtlos ineinanderfließen lassen. Von diesem geschlossenen Charakter profitiert „Colors II“, weil Wendungen und Stilbrüche so zum Teil eines großen Ganzen werden. Die beiden Extreme – progressive wie vertrackte Death Metal- bzw. Hardcore-Ausbrüche und sanfte bis zuckersüße (Art)-Rock-Melodien – kann das Quartett auf diese Weise noch besser gegeneinander ausspielen, was bisweilen an eine Symbiose aus „Coma Ecliptic“ (2015) und „The Parallax II: Future Sequence“ (2012) im farbenfrohen Gewand erinnert.

BETWEEN THE BURIED AND ME finden auf “Colors II” einen Weg, den roten Faden leuchten zu lassen

Besonders gut zu erkennen ist das in „Revolution In Limbo“, wo die verspielten Gitarren nach dem harten Auftakt schnell Platz machen für eine offene Klanglandschaft, die im Hintergrund von Hammond- bzw. Hausorgel-Sounds getragen wird, während Sänger Tommy Rogers gesanglich und lyrisch den Bogen zu „Lay Your Ghosts To Rest“ (aus: „The Parallax II“) spannt. Dass Drummer Blake Richardson nach einem Break in der zweiten Hälfte einen Flamenco-Rhythmus auspackt, ist indes lange nicht die ausgefallenste Idee des Quintetts.

Was beim ersten Kontakt mit BETWEEN THE BURIED AND ME allgemein als Chaos aufgenommen wird, entschlüsselt sich auf „Colors II“ allerdings schneller als gewöhnlich – und gerade hier liegt die Kongenialität des Mammutwerks: Die Kompositionen opfern nichts an Komplexität und finden doch einen Weg, den roten Faden leuchten zu lassen. So schafft es die Band, im treibenden „Fix The Error“ ihre Hardcore-Einflüsse zur Schau zu stellen und den Song mit einem wunderbaren Solo im „Colors“-Stil zu veredeln, während Bassist Dan Briggs im Hintergrund komplett am Rad dreht. Dass nebenbei noch die drei Gastschlagzeuger Mike Portnoy (DREAM THEATER), Navene Koperweis (ex-ANIMALS AS LEADERS) und Ken Schalk (ex-CANDIRIA) mit Soli versorgt werden, nehmen wir an dieser Stelle nur noch mit einem anerkennenden Nicken entgegen. Wir merken an: Zu diesem Zeitpunkt ist gerade mal ein Viertel der Spielzeit verstrichen.

Auch gegen Ende gehen BETWEEN THE BURIED AND ME noch nicht die Ideen aus

Die gute Nachricht jedoch ist, dass BETWEEN THE BURIED AND ME ihre besten Ideen noch gar nicht verpulvert haben. In „Prehistory“ finden sich rückwärts abgespielte Blast Beats, nachdem „Stare Into The Abyss“ mit seinen Ambient-Klanglandschaften gezeigt hat, zu was Tommy Rogers am Keyboard mittlerweile fähig ist. „Bad Habits“ schließlich vermählt klassische Progressive Rock-Vibes mit dem Geist von „The Great Misdirect“ (2009), während immer wieder Zitate des „Colors“-Ausnahmesongs „Ants Of The Sky“ aufblitzen.

Solche Rückverweise gibt es auch in „Turbulent“ und „The Future Is Behind Us“, wo Tommy Rogers fordert, genau den geschlossenen Kreis zu durchbrechen, den seine Band schon 2007 auf „Colors“ moniert hatte („White Walls“): ein Symbol für die Band und ihre Rolle in der Musikindustrie sowie den künstlerischen Drang, sich zu entwickeln und Neues zu schaffen. Warum also ein Sequel, möchte man fragen, schließlich sind krumme Rhythmik und große Melodien wie in „Never Seen / Future Shock“ für eine Band wie BETWEEN THE BURIED AND ME, die seit jeher an der Speerspitze des Genres den Progressive Metal mitdefiniert, fast schon business as usual?

“Colors II” ist ein würdiges Sequel

Und genau das könnten wir „Colors II“ zum Vorwurf machen: Am Ende des Tages ist der zweite Teil schlicht nicht mehr so revolutionär wie der Meilenstein aus dem Jahr 2007. Doch muss er das wirklich sein? Die Kreativität sucht gerade im Blick zum Detail ihresgleichen, die spieltechnische Leistung ist einmal mehr meisterlich und selbst das Finale endet in Form des 15-minütigen „Human Is Hell (Another One With Love)“ mit einem Knall und der Frage, ob man dieses Feuerwerk in Worten überhaupt angemessen einfangen kann.

Deshalb zögern wir auch, denn die Versuchung ist groß, nochmal von vorne zu beginnen: mit einem leeren Blatt Papier. Tabula rasa. Die unzähligen Impressionen neu sortieren. Doch werden wir BETWEEN THE BURIED AND ME und diesem überbordenden Werk mit dem nächsten Entwurf wirklich gerecht? Vielleicht reicht am Ende auch eine spontane Erkenntnis, um dieses eindrucksvolle Werk in adäquater Weise zusammenzufassen: Das Magnum Opus hat ein würdiges Sequel gefunden.

Veröffentlichungstermin: 20.8.2021

Spielzeit: 78:52

Line-Up

Tommy Rogers – Vocals, Keyboards
Paul Waggoner – Guitar
Dustie Waring – Guitar
Dan Briggs – Bass, Keyboards
Blake Richardson – Drums, Vocals

Produziert von Jamie King und BETWEEN THE BURIED AND ME, Jens Bogren (Mix) und Tony Lindgren (Mastering)

Label: Sumerian Records

Homepage: https://www.betweentheburiedandme.com/
Facebook: https://www.facebook.com/BTBAMofficial

BETWEEN THE BURIED AND ME “Colors II” Tracklist

  1. Monochrome (3:15)⁣
  2. The Double Helix of Extinction (6:16)⁣
  3. Revolution In Limbo (9:13)⁣ (Audio bei YouTube)
  4. Fix The Error (5:01⁣) (Audio bei YouTube)
  5. Never Seen/Future Shock (11:42)
  6. Stare Into The Abyss (3:54)⁣
  7. Prehistory (3:08)⁣
  8. Bad Habits (8:43)⁣
  9. The Future Is Behind Us (5:22)⁣
  10. Turbulent (5:57)⁣
  11. Sfumato (1:09)⁣
  12. Human Is Hell (Another One With Love) (15:08)⁣
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