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Jahresrückblick 2022 von Mirko Wenig

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1. ETHEL CAIN: Preacher’s Daughter

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ETHEL CAIN hat das intensivste Album des Jahres aufgenommen. Und dieses Debüt ist ein kleines Wunder. Erst 24 Lenze zählt die Trans-Frau aus Florida, macht fast alles selbst, unterstützt wurde sie bei den Aufnahmen lediglich von einem Freund. Ihr Sound ist bombastisch und reduziert zugleich: American Gothic und Folk Noir bilden das Grundgerüst, die Melodien sind beim ersten Hören melancholisch und einschmeichelnd. Doch davon darf man sich nicht täuschen lassen. Es ist ein Konzeptalbum über Schmerz und Gewalt, auch über Sex: die grausame Lebensgeschichte einer Frau, die in einem pietistischen Milieu aufwächst, von Zuhause weg läuft, schließlich in den Händen eines psychopathischen Kannibalen endet. Es ist eine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum: CAIN selbst wuchs in den Südstaaten der USA auf, als Trans-Frau in einem Trump-Wähler-Milieu.

So mischen sich schwere Drone-Gitarren in die dunklen Balladen, lässt CAIN die teuflische Ambient-Nummer „Ptolemea“ als geisterhaftes Intermezzo beginnen, aber als dröhnenden Doom Metal mit hallenden Drums enden. Nein, auf einen Stil festklopfen lässt sie sich nicht. „American Teenager“ kommt als luftiger Folk Pop daher, den letzten Werken von Taylor Swift nicht unähnlich. Aber ein verdammt guter Song! „Gibson Girl“ ist eine gnadenlos verschleppte RnB-Nummer über toxischen Sex. „You wanna fuck me right now/ You wanna see me on my knees/ You wanna rip these clothes off/ And hurt me// And if you hate me/ Please don’t tell me/ Just let the lights bleed/ All over me“, singt CAIN. Mit fortschreitender Spieldauer werden die Stücke düsterer und verstörender, hört man Insekten schwirren und verzerrte Stimmen, die durch eine Nebelwand aus dem Jenseits hallen. Gelegentlich wird die Musikerin auch den Genres Sadcore und Dream Pop zugeordnet: “Southern Trauma Core” wäre vielleicht der passendere Begriff.

CAIN macht es dem Hörer nicht zu leicht. Gern streckt sie ihre ausladenden Kompositionen auf sieben bis neun Minuten. Eine harmonische Ballade wie „Western Nights“ hat eine wunderschöne Melodie, die Stimme einschmeichelnd über dem Piano, ist aber zugleich geprägt von flehender Traurigkeit. Sie flieht mit ihrem Liebhaber auf dem Motorrad auf einen Road Trip, er prügelt sich in Bars, der Sex ist brutal und lieblos. Sie kann nicht von ihm lassen. Das schwül-erotische „Family Tree“, ein Höhepunkt des Albums, mischt romantische Bilder mit Szenen von Gewalt: Sie fleht ihren Lover an, sie auf einem Schimmel mit hinunter zum Fluss zu nehmen, um sie reinzuwaschen. Denn sie selbst ist nicht nur Opfer, sondern auch Täterin. „I’ve killed before and I’ll kill again/ Take the noose off, wrap it tight around my hand/ They say heaven hath no fury like a woman scorned/ And baby hell don’t scare me, I’ve been times before“, singt CAIN. Mit jeder enttäuschten Beziehung, mit jedem geplatzten Traum kehrt die Erzählerin aus ihren Kurzepen in die Hölle zurück: bis sie diesen Ort nicht mehr verlassen wird.

Eine sinnlichere und erotischere Stimme hat man in diesem Jahr nicht gehört: ihr Stimmumfang reicht von dunklem Sprechgesang bis hin zu glockenklarem Vibrato. Attitüde hat CAIN mehr als jede Black-Metal-Band. Gern spielt die Musikerin mit sakralen Symbolen, da brennt auch schon mal eine Kirche. „God loves you, but not enough to save you./ So, baby girl, good luck taking care of yourself“. Das alles ist ausgereift komponiert und gut getextet, so verführerisch wie abgründig. Im abschließenden „Strangers“ besingt sie aus der Ich-Perspektive, wie sie als „Tiefkühlbraut“ von ihrem mörderischen Liebhaber verspeist wird. EMMA RUTH RUNDLE, NICK CAVE und LANA DEL REY bekommen Konkurrenz: Wer CAIN auf ihren Social-Media-Kanälen folgt, wird feststellen, dass sich dahinter eine sehr humorvolle Person verbirgt. Es ist ein Jammer, dass es dieses Album nicht auf physischem Tonträger gibt. Trotzdem: Anhören und staunen! Lange wird sie kein Geheimtipp mehr bleiben.

2. AUTHOR & PUNISHER: Krüller

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AUTHOR & PUNISHER ist eigentlich Musik für Leute, die sagen: “Das neue Album ist Scheiße, da hat sich eine Melodie eingeschlichen”! Seit 2004 schon bastelt der Maschinenbau-Ingenieur Tristan Shone mit allerlei selbstgebautem Equipment an seiner eigenen Vision des Sci-Fi-Industrial-Metal, bestehend aus kakophonischem Lärm, synthetischen Flächen, Drone-Geräuschen und schmerzverzerrtem Gesang. Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, schleppt sich durch einen Morast aus Öl und Blut, während Cyclone-Zombies an den Beinen zerren und das Sperrfeuer von Kampfdrohnen in den Ohren trommelt: Es ist der ideale Soundtrack für die Apokalypse.

Nun ist etwas passiert, was sich auf dem vorherigen Album bereits angedeutet hat. Shone hat tatsächlich ein halbwegs melodisches Album aufgenommen! Er wühlt nicht nur im Gedärm der Maschinen, es zeigen sich nachvollziehbare Songs und Harmonien. Auf “Krüller” werden Erinnerungen an Bands wie ALICE IN CHAINS wach (Man höre “Maiden Star”), wenn auch zwischen eisernen Lefzen zerfetzt. Da zeichnen die Synthies neoklassische Strukturen, die an Soundtracks wie Bladerunner erinnern. Schönheit dringt durch das Stachdeldrahtgeflecht. Und für harmonieliebende Menschen ist diese Musik nicht mehr der unbesiegbare Endgegner.

So zeigen sich Songs wie das eröffnende “Drone Carrying Dread” direkt, ich wage das Wort gar nicht in den Mund zu nehmen: zugänglich. Manchmal klingt das sogar, als hätten die verstorbenen Helden der Grunge-Bewegung in der Unterwelt eine neue Band gegründet, um uns in diesen bitteren, von Krieg und Krise zerfressenen Zeiten einen mutmachenden Gruß zu schicken. Bewegen wir uns, bei der immer kürzeren Abfolge an Katastrophen und Brutalitäten, nicht selbst längst in einer apokalyptischen Welt?

Das ist nämlich eine bittere Pointe dieses Albums. Shone muss gar keine fernen Zukunftsszenarien zeichnen, um uns mit in den Höllenschlund zu reißen. Zwar sind die Texte an Science-Fiction-Autor*innen wie Olivia Butler geschult. Aber einige seiner Zeilen lesen sich wie Kommentare auf das aktuelle Zeitgeschehen. Shone, keine Frage, ist ein politisch denkender Mensch: So ist der Song “Blacksmith” zum Beispiel den schwarzen Frauen der US-Bürgerrechtsbewegung gewidmet. Und Bürgerkriegs-Szenarien werden geweckt, wenn er in “Centurio” einen römischen Legionären wieder auferstehen lässt, nur um ihn anschließend zu begraben: “Wiedergeborener Zenturio/ Amerikanische Läsion/ Verlorener Zenturio/ Wut auf den Straßen/ Fäulnis in der Saat/ Jeder ist verletzt/ Krieg, den niemand braucht/ Plünderung der Hallen/ Verzweifelte Befreiung/ Sieh, wie er fällt/ Gib den Frieden zurück.

Nein: Harmonie hat Shone auch mit seinem neuen Album nicht im Sinn. Entsprechend ist dieser Sound immer noch so brachial, so zäh und quälend, dass ungeübte Hörer weinend zusammenbrechen werden. Dagegen sind viele andere Bands unter dem Banner “Industrial Metal” Schlagermusik (Liebe RAMMSTEIN-Fans, fühlt Ihr Euch etwa angesprochen?). Die schönste Beschreibung für dieses melodische Inferno fand ein Punkrock-Magazin: “Cyborg music driven by metal fingers, but the human heart is still intact”.

3. BRUTUS: Unison Life

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Niemand im Rock-Genre spielt derzeit so Schlagzeug wie Stefanie Mannaerts! Niemand spielt so präzise, so variabel und so wuchtig wie die akademisch geschulte Drummerin. Würde sie ein rein instrumentales Soloalbum aufnehmen, auf dem nichts zu hören wäre außer Snares, TomToms und Cymbals, ich würde es begeistert kaufen. Und auch ihr Schreigesang ist einzigartig. An diesem entscheidet sich seit je, wer devoter Anhänger der Band ist und wer genervt die Austaste sucht: Sie wandelt zwischen Zerbrechlichkeit und leicht übersteuertem Kreischen, nicht selten klingt die Stimme kratzig, rau und jenseits der Belastungsgrenze. Aber Fakt ist auch, dass man kaum mehr Emotionen mit einer menschlichen Stimme transportieren kann. So flehend, so wütend und voller Inbrunst, dann wieder den Hörer mit sanften Melodien umscheichelnd: Wer bitte schafft das sonst noch auf so nachdrückliche Art?

BRUTUS aus Belgien haben auf ihrem dritten Album “Unison Life” die Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Noch immer durchwirbeln sie den Hörer mit ihrem Tsunami aus überbordenden Gefühlen und überwältigen ihn mit einer Klangwand, vor der selbst Hollywood-Komponist Hans Zimmer ehrfürchtig niederknien würde. Dass sie dies als Trio schaffen, nur mit Gitarren, Schlagzeug, Bass und Gesang, ist beeindruckend. Was hier an turmhoch flirrenden Gitarrenwänden, treibenden Rhythmen und Nackenbrecher-Hardcore-Riffs auf den Hörer niederbricht, muss man erst einmal verarbeiten. Und doch hat sich gegenüber den Vorgängern etwas verändert: Die Kompositionen sind zugänglicher, nicht selten schälen sich schöne Melodien aus dem brachialen Gewitter. So sind Songs wie „What Have We Done“ oder das aggressiv nach vorn preschende „Dust“ tatsächlich kleine Hits. Zartheit trifft auf Urgewalt: Hier werden Bulldozer auf einem rohen Ei balanciert. Genre-Debatten sind müßig. Ist das nun Progressive Metal, Post Hardcore, Alternative oder Art Punk? BRUTUS sind BRUTUS. Und haben hiermit vielleicht DAS Metal-Album des Jahres vorgelegt!

4. WORMROT: HISS

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Ja ja, ich kenne die Debatten. Ist das hier noch Grindcore – oder schon Pop? In einem Genre, das außer „Knüppel aus dem Sack“ wenig duldet, reichern WORMROT ihre Wutausbrüche mit Violinen und Klargesang an, bieten jazzige Rhythmen und biegen auch mal in Richtung Alternative Hardcore ab, wie wir ihn zuletzt von TURNSTILE zu hören bekamen. „Ausverkauf“ rufen da jene, für die sich Grindcore stets anhören muss, als habe man eine Klospülung betätigt. Alles Quatsch. Trotz aller Harmonien hat die Band aus Singapur das galligste Album des Jahres veröffentlicht. Sie führen letztendlich fort, was die Urväter NAPALM DEATH dem Grind ins Fährtenbuch schrieben: stets offen zu sein, sich nicht von irgendwelchen Genre-Erwartungen limitieren zu lassen. Das hier ist Grindcore, der auch auf größeren Bühnen funktionieren würde. Das hier ist die beste Hass-Platte des Jahres! Und vielleicht die ehrlichste Pop-Platte. Möge uns die Band nach dem Weggang von Sänger Arif erhalten bleiben!

5. FANTASTIC NEGRITO: White Jesus Black Problems

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Seit Jahren liefert der in den westlichen USA beheimatete Xavier Amin Dphrepaulezz alias FANTASTIC NEGRITO phantastische Platten ab, die ganz tief in der Ursuppe des Rock and Roll rühren: Blues, Soul, Funk, Gospel und R&B verbindet er zu einem Sound, den man im weitesten Sinne als „Roots Rock“ bezeichnen kann. Doch seine Musik sticht heraus. Sie ist funkelnder und wilder als jene der Konkurrenz, die Hammond-Orgeln klingen verspielter und neckischer, die weiblichen Backing-Chöre tönen süßer. Auch seiner Stimme legt er keinerlei Fesseln an. Von tief knurrendem Blues-Gesang bis zu hohem Falsetto wird hier alles geboten, oft auch innerhalb eines Songs. Dazu eine exzellent groovende Rhythmus-Section und Arrangements, die bis ins kleinste Fingerschnippen ausgefeilt sind. Diese übersprudelnde Kreativität hat ihm bereits zwei Grammys eingebracht – auch vorliegendes Album ist wieder ein Gourmet-Happen in Sachen erdiger, aber schillernder Rockmusik.

„White Jesus Black Problems“ ist ein Konzeptalbum, auf dem Dphrepaulezz eine schier unglaubliche Familiengeschichte zum Ausgangspunkt macht. Im Jahr 1759 verliebt sich in Virginia eine schottische Dienstmagd in einen dunkelhäutigen Sklaven, der auf einer Baumwoll-Plantage schuftet: eine verbotene Liebe, sie mündet in ein Gerichtsverfahren und in eine Verurteilung. FANTASTIC NEGRITO ist der Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel des Paares.

Doch diesen schweren Stoff über Rassismus und die dunkle Geschichte Amerikas packt der Musiker in eine bunte Rock-Operette voller euphorisierender Melodien. Fast schon beschwingt kommen bittersüße Roots-Hymnen wie „Highest Bidder“ daher, „They Go Low“ ist eine funkige Nummer mit infektiösem Refrain, „Man With No Name“ verbindet Louisiana-Blues mit schrillem 70s-Glam-Rock. Die Klammer dieses Albums sind Liebe und Hoffnung. Selten klang Musik mit politischer Botschaft unverkrampfter. Eine sympathische Schrulligkeit trägt dazu bei, dass Dphrepaulezz auch für die Indie-Szene anschlussfähig bleibt: Nein, hier klingt nichts antiquiert, die Musik passt wunderbar in die heutige Zeit. Nebenbei ist der 54jährige noch ein exzellenter Gitarrist.

6. SPANISH LOVE SONGS: Brave Faces, Etc.

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What happened to Punkrock? Dieses Album ist ein Monolith der Bitterkeit. Und ich habe Verständnis für jeden, der mir sagt, es sei unhörbar. SPANISH LOVE SONGS haben den druckvollen Emo-Punk ihres letzten Albums „Brave Faces Everyone“ von 2020 deutlich entschlackt und in ein akustisches Gewand gekleidet, das gelegentlich auch mit kleinen elektronischen Spielereien aufwartet. Wo aber bei anderen Bands eine Art Lagerfeuer-Atmosphäre entsteht, hat es hier den gegenteiligen Effekt. Die Songs klingen in den Neuinterpretationen umarmender und pathetischer, die Melodien hymnischer – und erdrückend schwermütig. So singt Frontmann Dylan Slocum mit zitternder und zerbrechlicher Stimme (sie kippt auch manchmal ins Weinerliche) Zeilen wie „We are losers forever“ oder „Cause half our friends are dead./ The other half are depressed.“ Begleitet wird er von sanften Pianos, sehr zurückgelehnten Drum-Patterns und harmonischen Chorgesängen, die sich aber nie in den Vordergrund drängen. Die Gitarren sind zwar meist elektrisch verzerrt und hallend, haben hier aber die Funktion, die Balladen mit melodischen Mustern zu verzieren wie einen kunstvollen Trauerschleier.

Diese Traurigkeit! Hier wird Moll nicht häppchenweise serviert, sondern als extragroße Portion mit einem Aufschlag bitterer Sahne. Kein Album klang in diesem Jahr so niederschmetternd. Und doch auch angenehm. Denn das Ganze würde nicht funktionieren, wären Songs wie „Routine Pain“, „Generation Loss“ und „Losers“ (diese Titel sagen eigentlich alles) nicht kleine Perlen, die hier liebevoll und behutsam neu arrangiert werden. Das gelingt nicht in jedem Moment, manchmal legt sich der Pathos grabesschwer auf die Arrangements. Aber doch sehr oft. Die Texte zeichnen das Bild einer Generation, die sich, ermattet und resigniert, von Job zu Job schleppt, gegen den sozialen Abstieg kämpft, gegen Depressionen und Tablettensucht: wem fällt es schwer, hier nicht nur amerikanische Zustände wiederzufinden, sondern auch deutsche? Es ist eine Generation, für die das Leben teils unerträglich geworden ist. SPANISH LOVE SONGS wären keine Punk-Band, wäre nicht doch hin und wieder ein Aufbäumen zu spüren: etwa, wenn sich der Gesang flehend und leicht grollend über die instrumentale Kulisse erhebt. Man darf auch den feinen Humor nicht übersehen, den Slocum in seine Texte packt. „Self-Destruction (As a Sensible Career Choice)“ ist zum Beispiel ein Song betitelt.

“Brave Faces” ist ein ideales Lebenskrisen-Album, das mir in manch dunklem Moment 2022 Trost gespendet hat. Warum? Ich weiß es nicht. Weil die dunklen Töne manchmal den meisten Trost spenden: und wenn es das Gefühl ist, mit seinen Problemen nicht allein zu sein? Oder ist es die Katharsis, die sich daraus ergibt, in bitterer Galle zu baden? Julia Engelmann würde vielleicht dichten: „Man muss durch das Tal der Tränen gehen, um wieder Konfetti zu sehen“. KATATONIA haben im Kampf um den Titel „traurigste Band der Welt“ einen ernstzunehmenden Gegner gefunden.

7. EMILY WELLS: Regards to the End

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Fällt das Wort „Progressive“, denke ich nicht zuerst an jene Bands, die im Prog Rock der 70s fischen und schlimmstenfalls über Zauberer und Zwerge singen. Progressive ist zum Beispiel das hier: Musik, die komplex ist, aber offen, im Grunde schwer greifbar, mitunter collagenhaft. Ein Abenteuer auf verschlungenen Pfaden. Und hoch emotional. Orchestraler Pop, der aber auch in der Avantgarde Kunst wühlt, sich anfühlt wie der Gang durch eine New Yorker Kunstgalerie verschiedenster Epochen, während sich die eigenen Traumata in den Gemälden spiegeln.

Mit „Regards to the End“ legt die 41jährige EMILY WELLS bereits ihre zwölfte Veröffentlichung vor. Eine Multi-Instrumentalistin und Sängerin, in klassischer Komposition geschult. Sie arbeitet mit Loops und wabernden Synthies, lässt dann wieder ein Flügelhorn erklingen, Geigen und Bläser. Obwohl ihre Stimme gelegentlich an Kate Bush erinnert, manchmal elfenhaft schwebt, hat diese Musik nichts weltabgewandtes, sondern ist auch politischer Kommentar: aber nicht, ohne die Sinnlichkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Körpers zu vergessen. Wells schafft ein Requiem für die Opfer der ersten Aids-Welle, als diese Diagnose noch sicheres Todesurteil war und Ausgrenzung bedeutete. Ihre Melancholie paart sich mit Wut und Begehren. „Ich bin nur ein Feuer“, singt sie, „…und ich brenne alles nieder, was in meiner Sicht ist!“ In ihren Songs variiert sie oft wenige Grundmotive, sie bleiben skizzenhaft und sind dennoch erhaben. „Schönheit, aus dem Schmutz geboren“, schrieb die Nerd-Fibel Pitchfork.

8. BLACK MIDI: Hellfire

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Apropos: Waren wir gerade beim Thema „Progressive“? An „Hellfire“ von BLACK MIDI führt in diesem Jahr kein Weg vorbei. Nicht, weil das Londoner Trio mit mathematischer Genauigkeit und Finesse musiziert: das auch. Sondern, weil da mehr ist. BLACK MIDI präsentieren ihre Fingerfertigkeiten mit diabolischem Grinsen, die Texte, oft mit boshaftem Sprechgesang vorgetragen, sind abgründig. Ein Konzeptalbum über die Hölle: Frontmann Geordie Greep erzählte vor Veröffentlichung des Albums, dass er dabei auch an eine Simpsons-Folge dachte, in der sich Homer im Fegefeuer wiederfand. Witz ist folglich eine weitere Konstante: in diesem Fall Aberwitz.

Ihr Streifzug durch die Hölle ist ein Streifzug durch die Genres. Ganz gleich, ob sie Prog Rock zitieren, Punk, Speed Metal, Flamenco oder Mariachi: Das alles wird selbstbewusst und stilsicher dargeboten. Ist das anstrengend? Auf jeden Fall. Ist das ein Vergnügen? Selbstverständlich, wenn auch nicht für alle Hörer. Kein Album für Puristen? Doch, denn mit ähnlichem Aberwitz kann man diesen Sound bestenfalls bei Frank Zappa hören. Oder DEVIN TOWNSEND, der Wahnsinn ähnlich überzeugend in Szene setzt. Im Song „Sugar/Tzu“ muss ein Wrestler nach dem tödlichen Ausgang eines Kampfes im Gefängnis Millionen Briefe verheirateter Frauen lesen: Der Text lässt offen, ob es sich um einen Albtraum handelt. Ein ganz fieses Hörvergnügen: eben ein Survival Trip durch die Hölle.

9. OCEANS OF SLUMBER: Starlight and Ash

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Ich gebe es ja zu: eigentlich ist „Starlight and Ash“, das mittlerweile fünfte Album von OCEANS OF SLUMBER, eine kleine Enttäuschung. Auch auf früheren Alben war der progressive Extreme-Metal der Texaner geprägt von der Stimme Cammie Beverlys: die Frontfrau singt so ausdrucksstark wie leidenschaftlich und bringt jede Menge Soul in den Sound ein. Definitiv eine der besten Sängerinnen, die das Metal-Genre zu bieten hat. Unpassend schienen mir auf den Vorgänger-Alben hingegen so manche Blastbeat-Attacke und so mancher Death-Metal-Growl. Umso mehr freute ich mich, dass die Band auf ihrem neuen Werk einen rockigeren Weg einschlägt und frühere Ausflüge in den Death Metal hinter sich lässt, denn eingängige Nummern wie „Suffer the Last Bridge“ schienen mir stets am stärksten.

Aber das Songmaterial zündet nicht so wie erwartet, das Tempo ist oft getragen, weshalb mitunter die Dynamik fehlt, auch Füllmaterial hat sich eingeschlichen. Warum sich das Album dennoch auf meiner Bestenliste findet? Trotz der genannten Schwächen sind OCEANS OF SLUMBER weiterhin ein außergewöhnliches Hörerlebnis, der Gesang bleibt Weltklasse, und mit etwas Geduld entpuppt sich das Album als gute Kost für nächtliche Spaziergänge in melancholischer Stimmung. Erneut beweist die Band auch ihre Könnerschaft in Sachen Cover-Versionen: „House of the Rising Sun“, der oft durchgenudelte Oldie der Animals, verwandelt sich in ihren Händen in eine stimmungsvolle Folk-Ballade mit schwermütiger Violine. Weiterhin eine Band mit zentnerweise Potential: das sie erneut nicht voll abruft. AVATARIUM, die auf ähnliche Weise ausdrucksstarken Frauen-Gesang mit getragenen Rhythmen und doomig-schweren Gitarren verbinden, haben wohl in diesem Jahr mit „Death, Where Is Your Sting“ das bessere Album aufgenommen. OCEANS OF SLUMBER bleiben für mich das größere Versprechen für die Zukunft.

10. BLOODY HEELS: Rotten Romance

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Dieses Album, im Sommer erschienen, ist in den Szene-Magazinen komplett untergegangen. Die Rezensionen waren wohlwollend, aber nicht überschwänglich, und so droht die Band übersehen zu werden. Das ist Jammerschade, denn die Jungs aus dem lettischen Riga liefern etwas, was in ihrem Genre Seltenheitswert hat: Wiedererkennungswert. Sie reichern Glam Metal und Hard Rock mit einem Gothic-Touch an, rühren auch modernen Alternative dazu, es finden sich Spuren progressiven Ami-Metals darin. Sänger Vicky White (jaja, albernes Pseudonym) hat ein charismatisches Organ, das trotz rauchigem Raspelns zielsicher die Oktavenleiter in höchste Höhen erklimmt. Und dann wieder in tieferen Stimmlagen angenehm croont.

Statt Party-Hymnen gibt es hier Songs, die einen melancholischen Grundton haben, aber auch die abgründige Erotik einer Band wie THE CULT verströmen: Musik, die eher nach samtenen Kissen klingt als nach Haarspray-Overkill. Songs wie „Dream Killers“ sind bärenstarkes Kraftfutter, „The Velvet“ ist die beste Goth-Ballade, die Billy Idol nie geschrieben hat, „Mirror Mirror“ erinnert an die Hardrock-Phase von ARMORED SAINT. Ungewöhnlich die Harmonien im Refrain von „Crow’s Lullaby“. Die Produktion: bombastisch und wuchtig. All die Einflüsse klingen nicht nach Stückwerk, sondern organisch und rund: BLOODY HEELS-Sound. Wer wissen will, was diese Band auszeichnet, vergleiche das aktuelle Album mit dem Vorgänger „Ignite The Sky“ von 2020, denn dort ging die Band noch weit konventioneller zu Werk. Hier haben wir ein modernes, ausgefeiltes Hard-Rock-Juwel, das viele hochgelobte Mitbewerber alt aussehen lässt. Beeindruckend! Nur gemerkt haben das noch nicht so viele.

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2022 war für mich ein spannendes Jahr: Selten zuvor habe ich so viele neue Menschen kennengelernt, Begegnungen, aus denen sich teils neue Freundschaften ergaben, selten habe ich so viel erlebt. Aber auch: Schlaflose Nächte, Zukunftssorgen, zu viele gerauchte Zigaretten; aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Emotional teils eine wahnwitzige Achterbahn-Fahrt, und es ist keine neue Erkenntnis, das sich das Seelenleben auch auf den Musikgeschmack auswirkt: Wer meine Jahres-Bestenliste auf einer Metaebene analysiert, wird darin mehr Innerlichkeit erkennen, viel Melancholie, aber auch Chaos, Grenzgänger und musikalische Extreme. Und ich habe in meinem Leben einiges geändert, ja ändern müssen. Die wichtigste Entscheidung: Seit Mitte Mai trinke ich keinen Alkohol mehr, nachdem der Konsum in Corona-Zeiten komplett aus der Bahn geriet. Ohne professionelle Hilfe wäre ich nicht davon losgekommen.

Viele Rezensionen, die ich 2021 für VAMPSTER schrieb, sind tatsächlich mit einem ordentlichen Pegel entstanden: Erschreckend ist, dass man es ihnen nicht anmerkt, denn ich funktionierte auch nach sieben Bier noch gut. Die Glorifizierung von Alkohol-Exzessen im Metal ist ein eigenes Thema, das an dieser Stelle nicht erschöpfend abgehandelt werden kann. Mein teils intensives Nachtleben hat sich durch den Verzicht trotzdem nicht geändert, denn die schöne Erkenntnis ist, dass man auch mit 0,0 Promille in Clubs, auf Konzerte und auf Festivals gehen kann. Man trifft mich auch heute noch gelegentlich früh um sieben im Flowerpower, Leipzigs berüchtigter Absturz-Kneipe. Aber seid gewarnt: Egal, was Ihr mir anvertraut. Ich bin jetzt einer der Wenigen dort, die sich am folgenden Tag noch an die Inhalte der Gespräche erinnern können. Gefährlich! Ich werde natürlich taktvoll sein und Euch Eure eigenen peinlichen Geschichten am folgenden Tag nicht auf die Nase binden.

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Ich bin auf die dunkle Seite gewechselt und habe SPOTIFY für mich entdeckt. Und keine Sorge: Nach wie vor kaufe ich mir die wichtigsten Alben auf Vinyl oder CD. Es gibt gute Gründe, weshalb wir den Streaming-Dienst hier selten verlinken: vor allem die teils unterirdische Bezahlung der Musiker und Komponisten. Aber natürlich hat es Vorteile, fast alle neuen Alben -und viele Klassiker- jederzeit und überall zur Verfügung zu haben.

Die Art, Musik zu hören, ändert sich durch SPOTIFY, und zwar nicht zum Besseren. Das kann ich auch an meinem eigenen Streaming-Verhalten beobachten. Der Schwerpunkt liegt eher auf einzelnen Songs statt auf Alben (das Playlist-Prinzip), die Aufmerksamkeits-Spanne nimmt durch das Überangebot ab. Es ist kein Geheimnis, dass viele Pop-Titel heute auf Streaming-Hörgewohnheiten zugeschnitten werden: Sie verraten ihr Geheimnis fast komplett in den ersten 30 Sekunden, verzichten auf lange Intros und sich steigernden Spannungsaufbau. Auch aus finanzieller Sicht lohnt es sich für die Interpreten eher, kurze Titel zu schreiben statt längere, da sich die Höhe der Vergütung an der Zahl der Streams pro Song orientiert. So wirkt sich das Streaming bereits auf den Kompositions-Prozess aus.

Aus journalistischer Sicht aber ist SPOTIFY ein Totalausfall, zumindest nach meinem Empfinden. Die Möglichkeiten, Interpreten zu verlinken und in Text-Formate einzubetten, sind wenig attraktiv. Und redaktionell wird BANDCAMP tausendmal besser betreut. Deshalb will ich hier einige Playlists empfehlen, die ich in liebevoller Recherche-Arbeit zusammengestellt habe: und die mir nicht ganz unwichtig sind. Wahrgenommen wurden sie bisher nicht. Sollte das so bleiben: okay, ich mache das ja auch für mich. Sollte sich das ändern: umso besser ;-).

Mirkos 2022-SPOTIFY-PLAYLISTS:

FEMALE PIONEERS IN SOUL, ROCK + BLUES. Gern übersehen und teils vergessen: Die Pionier-Funktion von -oft afroamerikanischen- Musikerinnen für die Rockmusik. Der Schwerpunkt liegt hier auf den 40er bis 70er Jahren. Doch manche der Musikerinnen waren auch schon in den 20er Jahren aktiv.

FEMALE ANGER: Weibliche Wut. Eine Playlist mit wütenden und anklagenden Songs und ein Streifzug durch verschiedene Genres. Ja: auch Hip Hop ist dabei, Pop (ganz wunderbar: “Don’t Hurt Yourself” von Beyonce) und natürlich Punk. Eine feministische Playlist.

DIVERSITY IN HEAVY ROCK + METAL. Eine Playlist, die keiner näheren Begründung bedarf. Metal-Songs aus allen Teilen der Welt mit vielen Genre-sprengenden Grenzgängern.

Women in Metal and Extreme Music – Female Singers. Eine Hardrock-, Psychedelic- und Metal-Playlist, die -ich erwähne es gern- fast ohne Symphonic Metal und Feenstaub auskommt. Weil es darum geht, Szene-Klischees zu brechen statt zu bedienen.

Music Festivals: MORE WOMEN ON STAGE! Female Rock + Indie. Rock-Festivals werden -das ist bekannt- immer noch brutalst von männlichen Acts dominiert. Veranstalter rechtfertigen es auch damit, dass sie keine Bands mit Musikerinnen oder Solo-Künstlerinnen finden. Hier sind mehr als 400 derzeit aktive Acts, die von Frauen angeführt werden: aus den Bereichen Indie, Alternative, Folk, Country, Punk und Metal. Darunter viele Newcomer*innen mit Debüts. Aber man kennt viele Acts doch noch gar nicht? Stimmt. Und deshalb kann man ihnen keine Bühne bieten? Leute, ich habe Rammstein in ihren Anfängen vor wenigen hundert Fans auf einem Thüringischen Acker spielen sehen! Damals kannte die auch noch keiner.

HEAVY BUT SENSITIVE: Es soll Menschen geben, die harte Gitarrenmusik noch immer mit Machismo verwechseln. Das ist natürlich Quatsch. Diese Playlist zeigt eine andere Seite vornehmlich männlicher Musiker: Innerlichkeit, Verletzlichkeit, Sensibilität. Viele der Acts bewegen sich in der Schnittmenge von Metal, Prog und Goth. Es wäre eine Überlegung wert, ob da schon eine eigene Bewegung entstanden ist (“It’s time to raise the flag of depth!”).

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