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EMILY WELLS: Regards to the End

EMILY WELLS ist die Wunderwaffe des Avantgarde Pop: Sie malt gespenstig abgründige, zugleich betörend schöne Sound-Miniaturen, die nicht von dieser Welt sind, aber tief im Unterbewusstsein graben. Angst, Tod und Aktivismus sind auf ihrem neuen Album „Regards to the End“ präsent. Die Musik hat die Multi-Instrumentalistin fast im Alleingang eingespielt.

Es gibt Alben, die packen dich und rütteln dich ordentlich durch. Die bewegen, sind intensiv, zugleich nicht fassbar. Sie fühlen sich an wie „Frau Welt“: eine mittelalterliche Allegorie für das Schöne, das zugleich hinabzieht und in den Abgrund reißt. Eine betörend anmutige Frau, aber wenn du sie umarmen willst, dann stellst du fest: ihr Rücken ist voller Eiter und voll grässlichem Ungeziefer. In der mittelalterlichen Welt war das Warnung, sich den weltlichen Gelüsten nicht hinzugeben. Aber so einfach ist das mit der Verführung eben nicht. Du hältst dieses Halbwesen fest umarmt und du genießt es, weil das Leben nie nur aus den schönen Momenten besteht. Sondern, weil du dich verstanden fühlst, den Schmutz und die Verderblichkeit zu schätzen weißt. Lust und Liebe sind ohne den Tod nicht zu haben.

Willkommen in der Welt von EMILY WELLS. Eine US-amerikanische Multi-Instrumentalistin, 31 Jahre alt. Klassisch geschult im Gesang und an den Instrumenten. Auch ihr jüngstes Album „Regards to the End“ hat die Texanerin fast im Alleingang eingespielt. Und es ist eine beeindruckende Zahl an Instrumenten, die die Musikerin hier auffährt: neben Gesang auch Gitarre, Schlagzeug, Violine, Cello, Piano, Bass, Viola, Synthesizer, Blech- und Holzbläser. Die dann doch auch von anderen Musikern aufgenommen wurden, nachdem das Multitalent ihre Musik in Corona-Zeiten fast im Alleingang ausgetüftelt hat, die Noten an Musiker*innen dieser Welt weiterschickte.

EMILY WELLS: Ätherische Songs, geerdet

Was ist das also für ein Album, das ich hier vorstellen will? Die Begriffe sind schnell zur Hand. Art-Pop, Neoklassik, Singer-Songwriter. Teils betörend schöne Klänge, die manchmal auch etwas weltfern anmuten, mit viel Hall und ätherisch tief. Das Soundbild ist warm und voller Wohlklang. Nur wird man den Songs mit diesen Kategorien nicht gerecht. Die Songs sind zugleich weltzugewandt, sie sind sehr geerdet. EMILY WELLS ist nicht nur Musikerin. Sie ist auch Aktivistin.

Da gibt es diese helle, wohlig einschmeichelnde Sopran-Stimme. KATE BUSH ist sicher eine Referenz, der geisterhafte Gesang von MARISSA NADLER in den tieferen Stimmlagen. Da gibt es viel umarmende Melancholie und eingängige Harmonien, die sich an Folk und Pop anlehnen.

„Regards to the End“ ist bereits das elfte Studioalbum der Musikerin: auf früheren Veröffentlichungen hat sie oft mit der Loop-Station gearbeitet. Das spiegelt sich auch in den Song-Strukturen wider. Die Songs sind repetitiv, die Melodien beim ersten Hören sehr einfach gehalten. WELLS arbeitet viel mit Wiederholungen, sie variiert die Grundmotive nur wenig: Sie schichtet Schicht für Schicht übereinander, verlässt sich auf die Kraft der einfachen Melodie. Und doch gibt es eine Dynamik in den Songs, zumal die neoklassische Instrumentierung dann doch oft ein Gegengewicht schafft, komplexe Kontraste. Fast wallend türmen sich die Bläser manchmal auf, flirrend dazwischen grätschend. Oft werden die Instrumente auch elektronisch verfremdet.

Nicht Disharmonie ist das Rezept, mit dem WELLS eben doch eine sehr zeitgenössische, moderne Vision von Musik schafft. Die Songs bleiben schön, die Melancholie ist nie erdrückend. Es ist, vielleicht: Körperlichkeit. Es ist das Subversive einer Umarmung, es ist die Unverschämtheit, mit der man -ob all der aktuellen Krisen- Hoffnung einfordert in einer Welt, die oft am Fatalismus scheitert. Das Recht zu leben und zu lieben. “…der Körper und die Verkörperung bzw. Körperlichkeit sind für mich sehr zentrale Elemente meines Albums“, erzählt sie im Interview mit gaesteliste.de. Sie vergleicht ihre Musik mit dem Moment, wenn mit dem Verzehren einer Oblate beim christlichen Abendmahl der Körper von Jesus empfangen wird: Sie selbst ist in einer streng religiösen Familie aufgewachsen.

Denn ja: WELLS ist auch wütend. Als sie die Leadsingle “Love Saves the Day” schrieb, dachte sie an David Buckel, einen Anwalt für LGBT-Rechte und Umweltaktivisten, der sich vor vier Jahren im New Yorker Prospect Park selbst anzündete und an den Brandwunden verstarb. „Ich bin nur ein Feuer“, singt sie, „…und ich brenne alles nieder, was in meiner Sicht ist!“ Die Musikerin definiert sich als queer, nun hat sie sich von vielen Künstlerinnen und Künstlern inspirieren lassen, die zu Zeiten aktiv waren, als Aids noch ein sicheres Todesurteil gewesen ist. Das Cover zeigt ein Foto von Alvin Baltrop, der schwules Leben und Ausgrenzung in New York mit seinen Fotografien einfing. Auch der Aktivist und Musiker David Wojnarowicz hat sie zu diesem Album inspiriert. Ein Künstler, der 1992 an AIDS starb und selbst das Sterben vieler an AIDS Erkrankter mit seinem Werk begleitet hat.

Das unterscheidet EMILY WELLS von vielen vergleichbaren Künstler*innen: so entrückt ihre Songs auch anmuten mögen, so sehr sie ätherisch in einen fremden Kosmos verweisen, gibt es auf diesem Album nichts Schwärmerisches, nichts feenhaftes, keine weltabgewandten Klischees. Die Musikerin referiert auf den Aktivismus derjenigen, die in den 80er Jahren für die Anerkennung von an AIDS erkrankten Menschen gekämpft haben. Das spiegelt sie in Klima-Aktivismus und -noch immer- Repressionen gegen die LGTB-Community. Es ist Protest-Musik: aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern betörend schön.

Der Tod ist allgegenwärtig: und auch die Hoffnung

Ja, EMILY WELLS packt ihren Aktivismus, ihre Weltzugewandtheit in bezaubernden, betörenden Kunstpop. In große, aber einfache und abgründige Songs, die beim zweiten Hören komplexe Momente offenbaren. “Wirf ein bisschen Gras aus”, singt sie in “David’s Got a Problem”, beim ersten Hören ein sanftes Wiegenlied. “Dann leg dich ins Unkraut.” Niederlegen zum Sterben?

Schon der Albumtitel verweist darauf, dass der Tod ein allgegenwärtiges Thema ist: auch der eigene. „Schönheit, die aus Abfall gewonnen wird“, so fasst die Nerd-Bibel PITCHFORK die Musik in Worte. Schönheit, die aus der Konfrontation mit dem Tod, mit Unterdrückung und Ausgrenzung gewonnen wird. Und doch ist da Hoffnung, die empor gereckte Faust: Man muss genau hinhören, um auch das Kämpferische des Albums zu erkennen. “Alle meine Äcker, die feuchten, die trockenen”, singt sie: “Sie sind alle verschlungen worden.” Das Bild für einen sterbenden Körper.

Und dennoch: “ich würde zurückgreifen auf die Idee, dass Kunst zu machen ein hoffnungsvoller Akt ist”, sagt WELLS im Interview mit gaesteliste.de. “Auf jeden Fall hat mich dieses Projekt weniger zynisch und weniger hoffnungslos gemacht. Und ein anderer Aspekt ist, dass ich mit diesem Album vielleicht jemanden auf die Künstler, die ich besinge, aufmerksam machen könnte. Denn die AIDS-Aktivisten dieser Phase machten so viele unterhaltsame, farbenfrohe, ausdrucksstarke, originelle Protestaktionen und wir können viel von ihnen lernen”. WELLS kämpft mit ihrer Musik gegen den Tod an.

In den Zwischentönen sind Abgründe spürbar

Die Arrangements hier sind üppig, bombastisch: und doch zugleich sehr reduziert, geradezu minimalistisch. Nur in den Zwischentönen sind die Abgründe spürbar. Aber doch sind sie da. Die einfachen Melodien werden mit dem Arpeggio der Synths und der Bläser gebrochen: Sorry, nicht meine Idee, das habe ich so gelesen. Passt aber ganz wunderbar, um das Gehörte zu beschreiben: auch ein häufiges Stilmittel von Johann Sebastian Bach (natürlich ohne Synthesizer). Ein raffiniertes, beeindruckendes Album!

Und Tiefe. Schon der Opener „I’m Numbers“ zeigt das Faszinierende dieses Album auf: Bläser und wabernde Synthies, Schwere, Streicher. Dann Loops, eine betörende Pop-Nummer entfaltet sich, diese anmutige und schöne Stimme: „Ich möchte Rücken an Rücken mit jemandem liegen, der mich anbetet/ Mit jemandem, der mich anbetet,/ Und wenn du dich mir für immer anbietest, werde ich etwas nehmen, werde ich dir etwas nehmen/ (…) Ich bin eine Nummer, bis ich es nicht mehr bin!“ Verlangen, Begehren, Zweifel: Und die Hoffnung, mehr zu sein als nur die Liebschaft für eine Nacht.

Das folgende “Two Dogs Thetered Inside”: wieder Begehren, wieder Zweifel. Eine wabernde, traurige Synthie-Pop-Nummer. “Zwei Hunde angebunden im Inneren,/ mein Herz ein Kämpfer/ Sieh, wer ich bin in der Höhle des Löwen?: (…) Ich versuche, den Lebenden oder den Toten zu vertrauen/ Komm schon, tu mir weh, komm schon, tu mir weh!”, singt Wells. Aktivismus mischt sich mit den Erfahrungen persönlicher Verletztheit. Die Liebe: Ist auch Bedrohung, weil sie im Zweifel schmerzt oder gar vernichtet. Existentielle Notwendigkeit: oder eine zombiehafte, alles auslöschende Erfahrung. Das ist groß.

Aber es fällt schwer, einen Song herauszuheben. Zu sehr lebt dieses Album von seiner melancholischen, abgründigen Stimmung. Zu sehr ist das hier eine sehr kompakte, runde Sache. Immner wieder gibt es Überraschungen, durchbricht eine Klarinette oder ein fulminantes Bläser-Arrangement die Melancholie. Immer wieder gibt es einen Blick auf eine bessere Zukunft: “Love Saves the Day” ist ein Song betitelt. Das Betörende kommt überraschend reflektiert daher: und nichts geht an Tiefe verloren.

veröffentlicht am 25. Februar 2022
Label: Thesis & Instinct

Album bei BANDCAMP

Line-Up:

EMILY WELLS: Vocals, Guitars, Synths, Programming, Drum Programming,
Violin, Viola, Cello, Piano, Bass

Produced, Written, Arranged, and Recorded by EMILY WELLS

 

Emily Wells “Regards to the End” Tracklist

1. I’m Numbers 04:37
2. Two Dogs Tethered Inside 03:31
3. All Burn, No Bridge 05:03
4. Come On Kiki 04:09
5. David’s Got a Problem 04:41
6. Love Saves the Day 06:28
7. Oracle at Dog 02:49
8. Arnie and Bill to the Rescue 05:19
9. The Dress Rehearsal 04:46
10. Blood Brother 03:53

Mehr im Web: emilywellsmusic.com

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