Mehr als 18 Jahre sind vergangen, seit wir SEPULTURA zum ersten Mal live erlebten: 2006 noch im Vorprogramm von IN FLAMES füllen die Brasilianer das Münchner Zenith nun selbst als Headliner bis zur letzten Person. Dass die Show hier an Ort und Stelle restlos ausverkauft ist, hat jedoch neben dem 40-jährigen Bandjubiläum einen weiteren triftigen Grund. Nach vier Dekaden im Geschäft sagt die südamerikanische Thrash-Metal-Institution in der bayerischen Landeshauptstadt zum Abschied Servus. Nur leise will man beim letzten hiesigen Gastspiel dabei nicht in die Nacht verschwinden.
Ein umfassendes Best-of-Programm samt adäquater Tour-Produktion soll stattdessen den wehmütigen Anlass zur groß angelegten Feier machen: „Celebrate Life Through Death“ lautet das Tourmotto, dem sich mit JINJER, OBITUARY und JESUS PIECE gleich drei weitere Acts angeschlossen haben, um dem einflussreichen Lebenswerk SEPULTURAs aus gänzlich unterschiedlichen Ecken Respekt zu zollen.
JESUS PIECE
Als bodenständig und fast schon nüchtern könnten wir den Auftakt umschreiben. Kein Intro, kein Backdrop, keine Sperenzchen auf der Bühne: Lediglich die laut pfeifenden Gitarren läuten den Abend ein, der allerdings sogleich mit einem Paukenschlag startet. Statt Samthandschuhen gibt es die blanke Faust gegen den Kiefer, wenn JESUS PIECE das Wort ergreifen.
Kompromisslos wie unerbittlich donnert der metallische Hardcore der US-Amerikaner durchs Zenith, bedient sich auch mal am Death Metal und zelebriert seine brachialen Beatdown-Parts mit Feuereifer. Auf den Brettern geht es dementsprechend ungehalten zu, wobei vor allem Shouter Aaron Heard kaum zu halten ist. Stücke wie das eröffnende „Tunnel Vision“ finden in der sich beständig füllenden Halle durchaus ihre Abnehmer, insgesamt aber scheint abseits der kleinen Pit-Fraktion die Reaktion der Münchner:innen etwas reserviert.
JESUS PIECE geben die Marschrichtung vor
Klar, nicht wenige sind der Mode nach zu urteilen allein wegen des Headliners angereist. Dass noch dazu der Mix in Teilen der Halle arg unausgegoren scheint – sogar zwischen den knackigen Stücken verwandelt die Akustik die wenigen Worte Heards in ein unverständliches Kauderwelsch -, hilft natürlich beim Freunde Machen ebenso wenig. Nicht der geschmeidigste Start in den Abend, doch einer, der uns richtig einnordet: Gekämpft wird heute auch im Folgenden mit harten Bandagen.
Fotogalerie: JESUS PIECE
OBITUARY
Gewohnt sind wir das von OBITUARY ohnehin, die eine Viertelstunde später auf bewährte Methoden setzen: Das instrumentale „Redneck Stomp“ eröffnet nicht ohne Grund das 45-minütige Set, wie die Reaktion im Zenith offenbart. Die Fäuste schießen scharenweise nach oben und spätestens als Fronter John Tardy für „Threatening Skies“ lässig, aber bestimmt auf die Bretter schreitet, herrscht so etwas wie Ausnahmestimmung.
Die US-Amerikaner mögen Helden alter Schule sein, dürfen sich heute jedoch gleichzeitig als Idole der Jugend feiern lassen. Dabei ist vor allem eines kaum von der Hand zu weisen: Obwohl auf der Bühne eigentlich wenig bis gar nichts passiert, haben OBITUARY das Zenith fest im Griff. John Tardy mag dabei in einer Dreiviertelstunde in etwa so viele Meter zurücklegen wie sein Vorgänger Aaron Heard in einem Song, doch an Bühnenpräsenz macht dem Veteranen niemand etwas vor. Jedes Wort, jede Geste trägt der Shouter mit Bestimmtheit vor und würzt diese Souveränität mit einer dicken Ladung Authentizität.
DIe größte Stärke OBITUARYs ist ihr unverfälschtes und bodenständiges Auftreten
OBITUARY haben neben den groovenden „The Wrong Time” und “Dying Of Everything” vom gleichnamigen aktuellen Album natürlich mit „Chopped In Half“ oder „Slowly We Rot“ auch einige Klassiker im Gepäck. Die wahre Stärke des Quintetts ist indes sein unverfälschtes wie bodenständiges Auftreten, dem in München völlig zurecht die verdiente Wertschätzung entgegengebracht wird. Da ist es nur konsequent, dass auch der Sänger die Starallüren im Backstage-Raum lässt: Noch während uns seine Kollegen im erwähnten „Slowly We Rot“ den Kopf abschrauben, reicht der Frontmann die gedruckte Setliste ans Publikum weiter, um dann mit Kaltgetränk in der Hand unaufgeregt von dannen zu ziehen – sympathisch!
OBITUARY Setlist – ca. 45 Minuten
1. Redneck Stomp
2. Threatening Skies
3. By The Light
4. The Wrong Time
5. Deadly Intentions
6. Chopped In Half
7. Turned Inside Out
8. Solid State
9. War
10. Dying Of Everything
11. Slowly We Rot
Fotogalerie: OBITUARY
JINJER
JINJER mögen in den letzten fünf Jahren einen nahezu kometenhaften Aufstieg erlebt haben, automatisch zum Selbstläufer macht dieser Umstand ihr Münchner Gastspiel jedoch nicht: Was denn die nun kommende Band für Musik mache, werden wir während des Umbaus gefragt. Er habe von der Formation noch nie zuvor gehört, so der freundliche Metalhead im SEPULTURA-Shirt. Potenziell hartes Pflaster also für die Ukrainer und zugleich die große Chance, den Hörerstamm nochmals zu erweitern.
Kompromisse eingehen will das Quartett hierfür derweil genauso wenig wie den Weg des geringsten Widerstands einschlagen: Der größte Hit „Pisces“ bleibt heute in der Schublade, während sich JINJER über weite Strecken von ihrer härtesten Seite zeigen. „Sit Stay Roll Over“ fegt zum Auftakt humorlos über das Zenith hinweg, bevor das bislang unveröffentlichte „Fast Draw“ und das mächtige „Colossus“ einen ähnlich erbarmungslosen Ansatz verfolgen.
JINJER sind hervorragend eingespielt
Shouterin Tati wirbelt unterdessen quasi als Alleinunterhalterin über die Bühne: Ihre Mitstreiter halten sich wie gewohnt bevorzugt im Hintergrund auf, um stattdessen die Instrumente sprechen zu lassen. Eingespielt sind JINJER natürlich hervorragend, so dass selbst die Zuschauerschaft schnell Blut zu lecken scheint: Crowdsurfer sichten wir eigentlich das komplette Set über, besonders stark fällt der Strom nach vorne aber in der aktuellen Single „Someone’s Daughter“ aus, das wie das folgende „Kafka“ und der Hit „Perennial“ zwischendurch Tatis gesangliche Fähigkeiten hervorhebt.
Dass JINJER beim tendenziell alteingesessenen Publikum überhaupt auf so viel Resonanz stoßen würden, hätten wir nicht erwartet. Wobei wir für diese Beobachtung natürlich keineswegs Allgemeingültigkeit einfordern: Dem neugierigen Fan neben uns wird es wohl schon nach der ersten Viertelstunde zu viel – erst beim Headliner sollen sich unsere Wege wieder vor der Bühne kreuzen.
JINJER Setlist – ca. 50 Min.
1. Sit Stay Roll Over
2. Ape
3. Fast Draw
4. Retrospection
5. Teacher, Teacher
6. Colossus
7. Someone’s Daughter
8. Kafka
9. Copycat
10. Perennial
11. Rogue
Fotogalerie: JINJER
SEPULTURA
Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis die Halle in Euphorie explodiert: Die unverkennbaren Percussion-Schläge zum Auftakt lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die knapp 6.000 Fans im Münchner Zenith exakt auf ein Ereignis hin gefiebert haben. Für den nach heutigem Stand letzten Auftritt vor bayerischem Publikum lösen SEPULTURA die Handbremse somit ohne langes Vorgeplänkel. Der Megahit „Refuse / Resist“ versammelt das Zenith direkt hinter dem Quartett, indem die titelgebenden Worte in nahezu ohrenbetäubender Lautstärke durch die alte Werkshalle schallen.
Sieger des Abends nach nur einem Song scheint für die Brasilianer indes nicht genug zu sein. „Territory“ setzt ein weiteres Mal auf die Rückendeckung der Fans, bevor in „Slave New World“ das Backdrop fällt und einen stattlichen LED-Screen offenbart. Die dort gezeigten Visuals sehen zwar hier und da arg nach KI-Fabrikation aus, werden aber geschickt mit Kameraaufnahmen der Live-Show verwoben, sodass sie den einzelnen Stücken einen individuell maßgeschneiderten Anstrich verpassen. Durchdringende Augen etwa blicken in „Attitude“ auf das Publikum herab, bevor Sänger Derrick Green erstmals das Wort ans Publikum richtet.
Zwischen vielen Klassikern vergessen SEPULTURA ihr aktuelles Album nicht
Ein herzliches „Servus, München!“, reicht derweil aus, um auch die letzten Herzen noch für sich zu gewinnen. Im Anschluss mit „Means To An End“ den ersten von insgesamt drei Songs des aktuellen Albums „Quadra“ (2020) hinterherzuschieben, ist zu diesem Zeitpunkt ein cleverer Schachzug. Denn obgleich die unmittelbare Resonanz nicht gar so überschwänglich ausfällt wie bei all den unverwüstlichen Klassikern zuvor, scheint man in der bayerischen Landeshauptstadt doch offen für alle Phasen der Bandgeschichte. Das jedenfalls legen die anschließenden Sprechchöre nahe, welche zudem von einem steten Aufkommen an Crowdsurfern unterstützt werden.
Nahezu ununterbrochen segeln Anhänger:innen der Band nach vorne, wobei natürlich die Security im Graben während des mit Akustikgitarre eingeleiteten „Guardians Of Earth“ ein wenig mehr zu tun hat als beim Oldschool-Brecher „Escape To The Void“. Hier konzentriert sich die Action vielmehr auf den Pit im Zentrum, welchen die Riffs Andreas Kissers in „Dead Embryonic Cells“ und „Inner Self“ später noch weiter anheizen sollen.
SEPULTURA setzen zum Abschluss auf ihren wohl größten Hit
Für ihr großes Jubiläum haben sich SEPULTURA neben einer breitgefächerten Songauswahl allerdings noch ein weiteres Geschenk einfallen lassen, wie der Gitarrist erläutert. Nach langer Zeit habe man mit „Kaiowas“ den „Tribal Jam“ zurückgebracht: Während Kisser die Akustikgitarre zupft, gesellen sich nach und nach Freunde aus dem Band-Umfeld zum Headliner, um die eigens aufgestellten Trommeln zu bedienen. Nicht jedes Gesicht kommt uns bekannt vor, aber JINJER-Drummer Vlad können wir dennoch eindeutig im Gemenge ausmachen.
Stilistisch etwas nachdenklicher wird es im eindringlichen „Agony Of Defeat“, bevor SEPULTURA zum Ende hin wieder einen Gang höherschalten. „Troops Of Doom“ nimmt uns nochmals mit zu den Anfangstagen, bevor sich das Gespann mit dem energischen „Arise“ zum ersten Mal aus München verabschiedet. Dass es das wohl noch nicht gewesen sein kann, ist im Zenith ein offenes Geheimnis. Was noch fehlt, liefert der Zugabenblock, welchen Drummer Greyson Nekrutman durch ein blitzsauberes Solo einleitet: Das euphorisch gefeierte „Ratamahatta“ ist dabei nur Vorgeplänkel für den wahrscheinlich größten Hit der Bandgeschichte. „Roots Bloody Roots“ beschließt den Auftritt in ähnlich großer Weise, wie er begonnen hat.
SEPULTURA sorgen für einen Abschied, von dem man noch lange zehren kann
Es ist zugleich der einzige logische Schlusspunkt für die lange wie bewegte Karriere SEPULTURAs, die heute Abend zumindest für die Münchner Anhängerschaft einen Abschluss findet, von dem man noch lange zehren kann. „Warum gerade jetzt aufhören, wo doch noch so viel Leben in den Knochen steckt?“, möchte ein Teil von uns fragen. Doch die Entscheidung über das Weshalb steht uns ohnehin nicht zu. Dafür aber bleiben die Erinnerungen, die in unserem speziellen Fall sogar noch einen ganz besonderen Wert haben: Dort im Münchner Zenith, wo es 2006 für uns mit SEPULTURA angefangen hat, endet nun auch die gemeinsame Geschichte. Dort, wo gerade noch das blühende Leben herrschte, sagen nun auch wir zum Abschied Servus – diesmal aber tatsächlich leise und mit etwas Wehmut in der Stimme.
SEPULTURA Setlist – ca. 105 Min.
1. Refuse / Resist
2. Territory
3. Slave New World
4. Phantom Self
5. Attitude
6. Means To An End
7. Kairos
8. Corrupted
9. Guardians Of Earth
10. Choke
11. False
12. Escape To The Void
13. Kaiowas (Tribal Jam)
14. Dead Embryonic Cells
15. Agony Of Defeat
16. Orgasmatron
17. Troops Of Doom
18. Inner Self
19. Arise
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20. Ratamahatta
21. Roots Bloody Roots
Fotogalerie: SEPULTURA
Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)