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OBITUARY: Dying of Everything

Mit OBITUARY melden sich Veteranen des Death Metal zurück – und haben ihre Groove-Machine gut geölt. Sänger John Tardy grollt und keift über simplen, aber effizienten Nackenbrecher-Riffs, während die dissonanten Soli tief ins Fleisch schneiden. Ja, der Sound ist Oldschool: Leidenschaft und Energie stimmen.

Als ich die ersten Reaktionen zu „Dying of Everything“ las, dem mittlerweile elften Album von OBITUARY, musste ich schmunzeln. Ein häufiger Kritikpunkt, der nun in Rezensionen und Foren zu lesen ist: Die Gitarren seien zu laut abgemischt. Ich verstehe ja, dass die Fans der ersten Stunde nicht mehr die jüngsten sind, manch einer gar mit Rollator zum Konzert fahren muss. Kein Alters-Shaming, da werden die Ohren vielleicht empfindlicher. Aber beschwert sich hier wirklich jemand, dass die Gitarren auf einem Metal-Album ZU LAUT SIND? Ich bitte Euch! Das wäre ein idealer Sketch für Saturday Night Live, der Running Gag: Wir müssen die Gitarren leiser aufnehmen, sonst verschreckt das unsere Fans. And more Cowbell, please!

Deshalb gleich vorneweg: mit dem Sound ist, zumindest für meine Ohren, alles fein. Produziert haben die Herren in den eigenen Redneck-Studios, brutal und urgewaltig kommt der Trademark-Sound aus den Boxen. Und sehr differenziert, denn von John Tardys Stimme bis hin zum gewohnt wuchtigen Schlagzeug-Spiel seines Bruders Donald sind die einzelnen Details gut rauszuhören. Gemischt hat das Album Joe Cincotta, der unter anderem schon für SUFFOCATION und THE BLACK DAHLIA MURDER tätig war. Einer, der weiß, wie man Death Metal ansprechend in Szene setzt.

Death Metal mit der Intensität einer Hardcore-Band

Ein weiterer Kritikpunkt beruht vielleicht auf einem Irrtum. Seit OBITUARY mit ihrem wegweisenden Debüt „Slowly We Rot“ 1989 auf der Bildfläche erschienen, werden sie dem Florida-Death-Metal zugeordnet, gelten sogar als prototypisch hierfür. Doch wo andere Bands sehr schnell ihren Sound variierten, Songstrukturen aufbrachen und sogar in Richtung Jazz abbogen: DEATH und ATHEIST können hier als Beispiel dienen, wählten OBITUARY einen anderen Weg. Ihre Songs sind einfacher gehalten und auch Groove-betonter: Es ist auch die brachiale Gewalt des Punk und Hardcore, die aus ihnen spricht. Virtuosität zeigt sich zum Beispiel in den dissonanten Soli und den kunstvollen Fills, mit denen Drummer Donald Tardy die einfachen Rhythmen aufbricht. Und natürlich in der unglaublichen Tightness, mit der die Band über den Hörer hinweg rollt. Groove, das sei an dieser Stelle hervorgehoben, verlangt Präzision im Zusammenspiel, wie jeder Hobby-Musiker bestätigen kann: Unendlich lang ist die Liste der Bands, die genau daran scheitern.

Auch auf dem neuen Album sind die Songs in ihrer Grundstruktur eher einfach aufgebaut. Strophe und Refrain sind klar erkennbar. Aber bedeutet dies fehlende Abwechslung, wie nun einige Kritiker erneut monieren? Wiederholt sich die Band selbst? Es ist der AC/DC-Effekt: OBITUARY klingen auch im 38. Jahr ihres Bestehens (die Vorgänger-Band EXECUTIONER mit eingerechnet) nach OBITUARY. Sie haben ihren Trademark-Stil gefunden.

Lange Vorrede, kurzer Sinn: Um die Qualität des neuen Albums zu beurteilen, hilft es nichts, den Urschleim aufzuwärmen, mit dem sich die Band seit jeher konfrontiert sieht. Die Frage ist, ob sie mit ihren Mitteln ein gelungenes Album innerhalb der selbst gesteckten Grenzen vorgelegt haben. Und hier lautet die Antwort aus meiner Sicht: Ja. „Dying of Everything“ ist ein würdiges Spätwerk einer Band, deren wichtigste Alben längst Oldie-Status erreicht haben.

Energie und Leidenschaft stimmen

Selbst ich als Anhänger der Band muss es ja zugeben: Was OBITUARY auf ihren vorherigen Alben vorgelegt haben, wirkte nicht immer inspiriert und zuweilen gar wie ein Abgesang auf die eigene Relevanz. Speziell „Xecutioners Return“ aus dem Jahr 2007, das zweite Album nach dem Comeback und einer achtjährigen Pause, erhielt vernichtende Kritiken. Doch die Band hatte sich in mühsamer Kleinarbeit ihren Status zurück erarbeitet. Stolze sechs Jahre sind nun bereits seit ihrem letzten, selbst betitelten Studiowerk vergangen. Dieses wurde mehrheitlich mit Applaus aufgenommen. Anerkennendes Feedback gab es sogar in Genre-fremden Medien wie dem britischen GUARDIAN und der Alternative-Bibel PITCHFORK.

Die neue Wertschätzung resultiert auch daraus, dass die Rolle der Band neu bewertet wird. In einer Miniaturversion haben OBITUARY das durchlaufen, was auch Pioniere wie BLACK SABBATH erfahren haben. Eine Zeit lang schienen sie abgemeldet und als Schatten ihrer selbst, die Hallen waren leerer. Doch dann kam die Frage auf, welche anderen Bands eigentlich in ihre Rolle wachsen können. Gibt es überhaupt welche? Eine „Schäbigkeit, die im Death Metal ständig versprochen und selten erreicht wird“, attestiert zum Beispiel PITCHFORK den wichtigsten Alben von OBITUARY. Und während sich die Pioniere des Heavy Metal plötzlich als Superstars auf den größten Bühnen wiederfanden, weil es zu viele Epigonen und kaum relevanten Ersatz gab, sind auch OBITUARY wieder gefragt, wenn auch auf kleineren Bühnen. Wer räudigen, ursprünglichen Death Metal hören will, so wie er in den Anfängen gedacht war: brutal, niederträchtig und fies, der greife gern zu den Originalen. OBITUARY sind der “Real Deal”.

Das Ganze würde aber nicht funktionieren, wenn nicht die Qualität der Alben stimmen würde. Und das ist hier der Fall. Bereits der Opener „Barely Alive“ faucht einen an wie ein sprungbereiter Puma. Es ist einer dieser Momente, in denen OBITUARY aus dem eigenen Morast steigen und das Tempo deutlich beschleunigen. Das steht ihnen gut, auch deshalb, weil John Tardy mit heißerer und sich überschlagender Stimme seine Silben ebenfalls mit hohem Tempo hervorpreschen kann, ohne an Kraft zu verlieren. Überhaupt diese Stimme: eine Wunderwaffe. Wie Tardy jede einzelne Silbe aus sich herausquetscht, als würde da ein geplagtes Biest aus seiner Mundhöhle steigen: Das ist immer noch nahezu einzigartig. Wo andere Death-Metal-Sänger nur tief grunzen, deckt Tardy eine große Palette an Growls, Screams und bissigen Tönen ab. Wüsste man nicht, dass sich dahinter ein sehr netter Mensch verbirgt, man würde ihn ungern von der Kette lassen. Im Mittelteil des Songs sind deutliche SLAYER-Anklänge zu hören: thrashige Gitarren mit fauchigen Soli, durchaus eine kleine Überraschung.

„The Wrong Time“ vereint dann folgend schon eher gewohnte Markenzeichen: Das Tempo ist bevorzugt im mittleren Tempo gehalten, aber die Riffs mit einer solchen Schwere behaftet, als würde ein Strafgefangener bei der Arbeit im Steinbruch eine eiserne Kugel hinter sich her ziehen. Die Referenzen sind bekannt. Es gibt wohl keine andere Band, die sich so sehr auf die Anfänge von CELTIC FROST bezieht: diese urigen, wuchtigen und knarzigen Gitarren, die tief in der Magengrube wühlen. Aber auch dieser Song ist eine kleine Überraschung. Mit seiner einfachen Struktur, dem geschrieenen Refrain und den enorm groovenden Rhythmen klingt die vorab ausgekoppelte Nummer am ehesten so, als hätten OBITUARY Hardcore und Punk in ihren eigenen Sound übersetzt. Dazu tragen auch die Texte bei: seit jeher reiht Tardy wenige, fast mantraartig wiederkehrende Wörter und Bilder aneinander, die in diesem Fall Assoziationen zu Bürgerkrieg und Genozid wachrufen. „Blutrot, Flüsse fließen/ geflutet mit Toten/ Kriegszeit schürt den Hass/ das Leben endet“. Satanismus war nie das Thema der Band: Die Höllenglut wird hier von Menschenhand entfacht.

OBITUARY bringen ihre Trademarks selbstbewusst auf den Punkt

Erwartungsgemäß weichen auch die verbliebenen acht Songs nur unwesentlich von der einfachen Grundstruktur aus Strophe und Refrain ab und sind eher im mittleren Tempo gehalten. Aber man würde OBITUARY Unrecht tun, würde man sie auf das einfache Gerüst beschränken. Feinheiten finden im Detail statt: etwa, wenn das Tempo immer wieder klug variiert und verschoben wird, wobei Donald Tardy auch mal komplexe Drum-Patterns streut. Der nervöse Double-Bass, oft hektisch gegen den schweren Grundrhythmus groovend, ist seit jeher ein Markenzeichen der Band.

Für die flinken Soli, die auf diesem Album viel Raum erhalten, ist Kenny Andrews verantwortlich: Seit 2012 in der Band, konnte er sich diesmal auch stärker ins Songwriting einbringen, hat unter anderem die Titelnummer „Dying of Everything“ zu verantworten. Auch das ist eine sehr flotte, thrashlastige Nummer. Und es sind genau diese Soli, die immer wieder melodische Akzente setzen, dissonant über dem schweren Lavastrom aus brachial schreitenden Riffs wirbeln. Gern wird übersehen, dass auch die Lead-Gitarre bei den Veteranen eine wichtige Rolle einnimmt. Wie Andrews mitunter das einfache Grundmotiv des Riffs aufnimmt, nur um wenig später nervös loszubrechen und flirrend-dissonante Harmonien zündet: das zeugt von großer Könnerschaft.

Dass auch Bassist Terry Butler ein Altmeister seines Faches ist, der seine simplen, aber effektiven Grooves ähnlich sicher abruft wie Lionel Messi das Passspiel im Mittelfeld, muss an dieser Stelle nicht betont werden. Mit DEATH und MASSACRE spielte er Anfang der 90er einige der wichtigsten Genre-Klassiker ein. Und so sei auf einen weiteren unehelichen Zwilling verwiesen, der im OBITUARY-Kosmos gern übersehen wird. Die Wirksamkeit, mit der hier fette Grooves und schwere Riffs gestaltet werden, steht der Sludge-Bewegung näher als manch einer anderen Death-Metal-Band. Ja, wir sprechen von Bands wie CROWBAR oder CORROSION OF CONFORMITY. Auch hier dröhnen einfache und zähe Riffs aus tiefer gestimmten Gitarren, wobei deren Grundessenz aus dem Blues stammt. Und damit schließt sich ein Kreis, denn welche Band wusste einfache Blues-Riffs besonders effektiv einzusetzen? Richtig, AC/DC.

In einem früheren Interview mit Metal Assault verriet John Tardy einmal, dass er sich gelegentlich über seinen Gitarristen und Songwriter Trevor Peres lustig mache. „Komm schon Alter, du hast so einen einfachen Rhythmus geschrieben”, denke er sich. “Aber wenn es dann losgeht, ist es wie bei AC/DC, die haben so viele Songs, wo der Rhythmus schlicht das Einfachste ist. Ich bin nicht einmal Gitarrist, und sie haben Rhythmen, die ich spielen kann. Es sind nur drei Noten. Aber für uns funktioniert das, mit diesen einfachen Rhythmen zu arbeiten, denn wenn erst einmal alles in Gang kommt und sich zusammenfügt, dann wird es richtig heavy.“ Und heavy ist das Album ohne Frage.

Nein, wirkliche Schwachstellen kann ich hier nicht ausmachen. Stattdessen musiziert eine Band, die ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden hat – und niemandem mehr etwas beweisen muss, schon gar nicht den Kritikern. Sie musiziert mit Leidenschaft und Überzeugung. Seien es wutschnaubende Nummern wie “Weaponize the Hate”, wo OBITUARY zeigen, dass man auch im schnelleren, mittleren Tempo eine gewaltige Brutalität entfalten kann, ohne in Blastbeat-Attacken verfallen zu müssen. Oder das abschließende “Be Warned”: eine pechschwarze, aber dennoch angriffslustige Doom-Orgie mit knarzender Gitarrenwand: Das Album macht Laune, wenn man bereit ist, sich auf straighte und simple Nummern einzulassen. Über allem thront der unmenschliche Gesang. Auch mit 54 Jahren ist John Tardy ein Sänger, an dem sich das ganze Todesmetall-Genre wird messen lassen müssen.

Veröffentlichungstermin: 13.01.2023

Line-Up
John Tardy – Vocals
Trevor Peres – Guitars
Ken Andrews Jr. – Guitars
Terry Butler – Bass
Donald Tardy – Drums

Label: Relapse

Homepage: https://www.obituary.cc/
Facebook: https://www.facebook.com/ObituaryBand/

OBITUARY “Dying Of Everything” Tracklist

Barely Alive
The Wrong Time (Video bei YouTube)
Without a Conscience
War
Dying of Everything
My Will To Live (Lyrics-Video bei YouTube)
By the Dawn
Weaponize the Hate
Torn Apart
Be Warned

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