Oftmals kommt es anders, als man denkt: Die Koffer waren so gut wie gepackt, die Termine schon lange im Urlaubskalender markiert, als CALIBAN plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. AS I LAY DYING-Frontmann Tim Lambesis brachen im Herbst 2024 die Bandmitglieder und der deutschen Metalcore-Institution damit auch die geplanten Live-Shows weg. So einfach aber wollte man nach der Tourabsage nicht kapitulieren: Man arbeite an einem Ersatzprogramm, hieß es seinerzeit, das nun in diesem Frühjahr mit einer ganzen Reihe zusätzlicher Vorzüge lockt.
Nicht nur führen CALIBAN höchstselbst das Billing an, auch ein neues Studioalbum hat die Formation im Gepäck. „Back From Hell“ (2025) lautet konsequenterweise das Motto der Tournee, für die man offenbar mit IN HEARTS WAKE, CABAL und ASSEMBLE THE CHARIOTS ein musikalisch kompromissloses und doch abwechslungsreiches Rahmenprogramm aus der Unterwelt gefischt hat.
ASSEMBLE THE CHARIOTS
Wüssten wir es nicht besser, hätten wir den Opener direkt nach Übersee verortet: Symphonischer Deathcore ist schließlich auch in den USA gerade ziemlich angesagt. In München derweil könnte das Backstage Werk an diesem Dienstagabend zwar noch einige Köpfe mehr fassen, für den Moment aber herrscht zumindest in der Mitte der gestuften Arena schon um Punkt sieben munteres Treiben.
Nicht direkt von der ersten Sekunde an zwar, doch müssen wir den Münchner:innen nach einem langen Arbeitstag auch ein paar Augenblicke zur Akklimatisierung zugestehen. In ihrem Element hingegen sind ASSEMBLE THE CHARIOTS auch ohne weiteres Zutun der Hörerschaft: Gitarrist Kevin Apostol und Kollege Mikael Reinikka am Bass wollen zu keiner Zeit die Füße stillhalten, während der völlig ungezügelte Onni Holmström mal Löcher in den Boden schlägt, mal zum Blastbeat in „Empress“ per Pantomime das vollautomatische Maschinengewehr imitiert.
ASSEMBLE THE CHARIOTS starten den Abend mit einer dynamischen Performance
Dass mit der zweiten Gitarre und den präsenten Symphonic-Spuren gefühlt 40% der Musik als Backing Track mitläuft, fällt angesichts des energischen Auftretens der Finnen gar nicht so sehr auf. Vielmehr machen sich ASSEMBLE THE CHARIOTS den guten Soundmix zunutze, um mit dem stampfenden „Admorean Monolith“ den Hallenboden zu ebnen, der im angeschwärzten „Evermurk“ sodann den ersten Circle Pit des Tages beherbergen darf. Allein die Lichtuntermalung wird dem überraschend dynamischen Auftritt kaum gerecht: Mehr als die Silhouetten der vier Musiker bekommen wir in dieser halben Stunde selten zu sehen.
ASSEMBLE THE CHARIOTS Setlist – ca. 30 Min.
1. Aquilegia In Peril (Intro)
2. Departure
3. Admorean Monolith
4. As Was Seen By Augurers
5. Evermurk
6. Reavers March
7. Keepers Of The Stars
8. Empress
Fotogalerie: ASSEMBLE THE CHARIOTS













CABAL
Nonchalant, aber ehrlich heißt uns Shouter Andreas Bjulver Willkommen, als er uns eine halbe Stunde Workout nahelegt: Schließlich sähen wir so aus, als könnten wir es gut gebrauchen. Schön, dass es in München nicht an Motivation fehlt, wobei CABAL selbst dann Abhilfe schaffen könnten: Auf den Brettern rotieren die Mähnen von Gitarrist Christian Hammer und Kollege Dennis Hursid am Tieftöner quasi ohne Pause, so dass die Münchner:innen von diesem Beispiel nur lernen können.
Kurz darauf springt der Innenruam zu „Still Cursed“ motiviert im Takt, schiebt während der Bridge des stampfenden „Snake Tongues“ eine kleine Rave-Party dazwischen und formiert sich zum unerbittlichen „End Times“ selbstredend zur obligatorischen Wall of Death. Dass CABAL ihren Deathcore roh und simpel halten, hat im Live-Kontext offensichtlich Vorzüge, überträgt sich doch die Energie der tief gestimmten Gitarren und teils tonnenschweren Riffs direkt und ohne Umwege auf die Meute.
Für das heutige Aufwärmprogramm sind CABAL eine ausgezeichnete Wahl
Spinkicks auf den Brettern und Circle Pit davor: Der Drehwurm ist den Anwesenden wohl genauso gewiss wie die blauen Flecken am Folgetag. Ganz sicher sind wir uns zwar nicht, ob wir CABAL aufgrund ihres gleichförmigen Ansatzes nicht bei längerer Spielzeit überdrüssig würden. Für das heutige Aufwärmprogramm aber sind die Dänen auch mit dem kurzfristig eingesprungenen Aushilfsdrummer Frederik K. Hansen in ihren Reihen eine ausgezeichnete Wahl – das bestätigt uns die zweite stattliche Wall of Death im abschließenden „Magna Interitus“
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IN HEARTS WAKE
Den richtigen Auftritt haben IN HEARTS WAKE geübt. Als die Australier mit „Spitting Nails“ loslegen, klafft auf der Bühne zunächst eine unübersehrbare Lücke. Erst als wir dem Lichtkegel einer Taschenlampe bis ins Publikum folgen, finden wir des Rätsels Lösung: Shouter Jake Taylor kommt keineswegs vom Band, sondern hat sich für die ersten Takte direkt unters Volk gemischt. Den Pit bekommt man auf diese Weise natürlich im Handumdrehen auf Betriebstemperatur, sodass wir schon im folgenden „Tyrant“ mit einigen Umdrehungen pro Minute rechnen dürfen.
Der abgezockte Groove von „Hellbringer“ wiederum eignet sich zum Sprung aus der Hocke, bevor die Wall of Death in „Force Of Life“ das Metalcore-Pflichtprogramm vervollständigt. Verschnaufen lassen IN HEARTS WAKE die Münchner:innen dennoch nicht: Das Energielevel hält die Formation konstant hoch, ja hilft sogar noch etwas nach, als für „Gen Doom“ zwei maskierte Tänzer:innen die Bretter stürmen. Während die beiden vorne durch erratische Bewegungen die Intensität der Musik untermalen, verzieht sich die Rhythmusfraktion in die schlecht ausgeleuchtete zweite Reihe.
IN HEARTS WAKE machen sich ihre lange europäische Live-Abstinenz zunutze
Was als aufrüttelndes Gimmick zunächst durchaus Spaß macht, verliert zum Ende hin aber merklich an Faszination, weshalb wir die begleitende Choreografie lieber punktuell als durchgehend gesehen hätten. Wobei gerade ’sehen‘ ohnehin relativ zu betrachten ist, denn wie bei den beiden vorherigen Acts spielt sich der Großteil des Geschehens im Dunkeln ab.
Warum gerade der moderne Metalcore ein solches Faible für schwarze Silhouetten im Blitzgewitter hat, erschließt sich uns auch nach dutzenden Shows nicht – unsere müden Augen jedenfalls schweifen nun deutlich öfter zur Hallenmitte, wo immerhin bis zum Finale „Orphan“ die Stimmung ausgezeichnet ist. Nach IN HEARTS WAKEs langer Abstinenz von europäischen Bühnen kommt das freilich nicht gänzlich aus heiterem Himmel.
IN HEARTS WAKE Setlist – ca. 45 Min.
1. Spitting Nails
2. Tyrant
3. Hellbringer
4. Force Of Life
5. The Flood
6. The Unknown
7. Gen Doom
8. Shoshigami
9. Crisis
10. Worldwide Suicide
11. Orphan
Fotogalerie: IN HEARTS WAKE













CALIBAN
Nachdem die Musiker bisher größtenteils im Dunkeln tappen mussten, enthüllt der Changeover nun eine ganze Flut an Scheinwerfern, die vor und neben dem Drumkit aufgereiht wurden. Aber nicht nur die Lichtuntermalung überzeugt, auch der Klang ist ausgesprochen gut, als CALIBAN unter tosendem Jubel ihr jüngstes Bandkapitel einläuten.
Wie sehr das brandneue Album „Back From Hell“ (2025) im Fokus liegen wird, lässt bereits der Auftakt erahnen, wo „Guilt Trip“ erst mit Circle Pit und dann per Wall of Death die Feuerprobe besteht. Dabei scheint es dem Backstage völlig gleichgültig zu sein, welche Ära die Metalcore-Urgesteine gerade bedienen: Hits wie „Paralyzed“ begleiten die Fans stimmgewaltig und mit einem gesunden Strom an Crowdsurfern, die am Ende der Reise stets auf einen Handschlag des dauergrinsenden Andy Dörner zählen können.
CALIBAN bleiben stets nahbar und sympathisch in der Interaktion
Dass die besten Tage der Band möglicherweise dennoch hinter ihr liegen, stellt der Shouter sodann augenzwinkernd fest, als die ersten Textilien Richtung Bühne segeln. Früher seien es noch Büstenhalter gewesen, merkt Dörner an, während er die nicht ganz so betörende Zipper-Jacke zur Seite räumt. Überhaupt ist der Musiker nicht der typische Frontmann, wie man ihn sonst im Genre vorfindet: Bodenständig und authentisch im Auftreten, ehrlich und sympathisch im Umgang überlässt Andy Dörner das Rampenlicht auch mal den Kollegen.
So schlüpft er wie selbstverständlich in die Rolle des Animateurs, während Gitarrist Dennis Schmidt in „Davy Jones“ den Klargesang übernimmt. Mit Erfolg wohlgemerkt, denn der Pit erreicht hier zuvor nicht gesehene Ausmaße. Dabei bleiben CALIBAN stets nahbar und überraschend aufmerksam: Ein besonders begeisterungsfähiger Fan darf etwa die ersten Zeilen des Klassikers „The Beloved And The Hatred“ anstimmen, nachdem sich selbiger beim VIP-Treffen zuvor das zugehörige Album „The Opposite From Within“ (2004) per Unterschrift veredeln ließ.
Neuzugang Iain Duncan schultert den Klargesang problemlos
Es ist tatsächlich ein Geben und Nehmen, das die Münchner mit literweise Schweiß zurückzahlen und das letztlich auch auf der Bühne seinen Tribut zollt. Bilder wie diese lassen ihn emotional werden, insbesondere nach mehreren Wochen auf Tour, gesteht Fronter Andreas Dörner, nachdem er sich zwei kleine Tränen aus den Augen gewischt hat. Auch weil ihm die Harmonie wichtig sei, solle man also während der nächsten Wall of Death in „virUS“ aufpassen, habe man doch erst vor kurzem im Vereinigten Königreich aufgrund eines Zwischenfalls im Pit die Show unterbrechen müssen.
So weit kommt es in München glücklicherweise nicht, obgleich CALIBAN mit dem mächtigen „Dear Suffering“ alles daransetzen, das Energielevel weiter nach oben zu jagen. Hatte Bassist Iain Duncan hier noch weitgehend Pause, darf er den ruhigen Auftakt des folgenden „Insomnia“ vor einem Lichtermeer im Alleingang intonieren. Den Klargesang der neueren Stücke schultert der Neuzugang problemlos, überlässt aber gerade bei den alten Evergreens das Feld der ursprünglichen Singstimme.
Bei CALIBAN versucht sich nicht nur das Publikum am Crowdsurfen
So auch in der ersten Zugabe „Memorial“, wo Denis Schmidt selbstverständlich auf den Münchner Background-Chor zählen darf. Sportlich veranlagt übt sich jener für das Showfinale nochmal fleißig im Wellenreiten, was selbst CALIBAN nicht in diesem Ausmaß erwartet hätten. „Ich brauche größere Hände.“, kommentiert ein überwältigter Andy Dörner, während er seine Finger zum Herz formt – und schließlich doch noch eine adäquate Antwort weiß: Zum Closer „Nothing Is Forever“ springt der Shouter kurzerhand selbst über die Barriere, um sich auf den Händen der Besucher:innen tragen zu lassen.
Es ist ein angemessen intensives Ende einer energiegeladenen Show, die eigentlich nur einen Wunsch unerfüllt lässt. Angesichts der langen Karriere CALIBANs hätten wir gerne noch ein bis zwei Stücke mehr gehört. Über 25 Jahre lang steht das Quintett immerhin schon auf der Bühne. Eine Stolze Zeit und eine stolze Errungenschaft, selbst nach einem Vierteljahrhundert eine solch treue Anhängerschaft hinter sich zu zählen. Das hätten die Essener in ihren Anfangstagen wohl kaum zu träumen gewagt, doch wissen sie spätestens jetzt genauso gut wie wir, dass oftmals alles anders kommt, als man denkt.
CALIBAN Setlist – ca. 70 Min.
1. Guilt Trip
2. I Was A Happy Kid Once
3. Paralyzed
4. Davy Jones
5. I Will Never Let You Down
6. The Beloved And The Hatred
7. Ich blute für dich
8. VirUS
9. Dear Suffering
10. Insomnia
11. Back From Hell
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12. Memorial
13. Devil’s Night
14. Nothing Is Forever
Fotogalerie: CALIBAN























Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)