NEUROSIS: Stubenhocker mit finsterer Musik und sonnigem Gemüt

NEUROSIS-Gitarrist Scott Kelly berichtet von Schreiorgien beim Songwriting, von Sonnen, die niemals untergehen, und von den schönsten Momenten der Bandgeschichte…

NEUROSIS – das ist eine dieser Bands, die fernab aller ausgetretenen Pfade neues musikalisches Terrain erkundet. Auch ihr neues Album „A Sun That Never Sets“ dringt in bislang unerforschte Tiefen der Seelenlandschaft vor, wühlt im Dreck verdrängter Erinnerungen und schwelgt zugleich in emotionalen Höhenflügen. Dabei ist die Band aber auch verläßlich wie ein Fels in der Brandung heranschwappender Trends, denn bei aller Experimentierfreude der Herren aus der Bay Area klingt jede ihrer Platten eindeutig nach NEUROSIS und nach niemand anderem. Doch bevor ich noch den Hammerfall-Oscar für die blumigste Intervieweinleitung verliehen bekomme, soll Gitarrist und Stimmbandakrobat Scott Kelly selbst zu Wort kommen…

Hi, Scott… zu Beginn würde ich gerne von Dir wissen, wo Du bei eurem aktuellen Album „A Sun That Never Sets“ die Hauptunterschiede und den größten Fortschritt gegenüber den Vorgängerplatten siehst.

Ich glaube, wir singen auf der neuen Scheibe besser als früher. Ich denke außerdem, daß auf der neuen gewissermaßen mehr Raum zum Atmen ist. Wir haben gelernt, daß die Kunst, etwas wegzulassen, manchmal genauso wichtig sein kann wie die Kunst, etwas hinzuzufügen zu einem Song. Und das beherzigen wir mittlerweile.

Mein Eindruck im Vergleich zu schon älteren Alben wie Through Silver In Blood und Enemy Of The Sun war der, daß ihr die Geschwindigkeit noch weiter gedrosselt habt auf Kosten der heftigen Percussionteile. Wäre das ein Beispiel für das bewußte Weglassen bestimmter Parts?

Zum Teil schon. Bei den Aufnahmen waren wir diesmal aber auch nicht allzu inspiriert, als es an die Percussionsachen ging. Also beschlossen wir, es nicht zu verzwingen. Wenn´s nicht sein soll, soll´s halt nicht sein. Was das Tempo angeht, so würde ich sagen, daß wir schon seit jeher von Platte zu Platte langsamer geworden sind. Das ist einfach ein Teil unserer Entwicklung, wir wollen nun nicht absichtlich langsamer werden, es ergibt sich nur eben aus der Art, wie wir spielen. So richtig schnell waren wir ja eh auch anfangs nicht. Wir scheren uns darum aber nicht, wir spielen unsere Musik einfach so, wie es sich natürlich anfühlt; und so, wie Du es auf „A Sun That Never Sets“ hörst, fühlt es sich im Moment genau richtig an für uns.

Das schleppende Grundtempo verleiht eurer Musik ja auch diese Intensität…

Da stimme ich Dir zu. Genau das war unsere Erfahrung beim Jammen: Je mehr wir das Tempo runterschraubten, desto mehr hat die Atmosphäre gestimmt. Wir merkten, daß so einfach mehr Emotionen freigesetzt werden können.

Weggelassen habt ihr diesmal auch die tiefen Growls eures Bassers Dave Edwardson… meintest Du das mit wir singen besser, hehe?

Nein, es war seine eigene Entscheidung, nicht zu singen auf dem Album. Als es daran ging, die Gesangsparts für „A Sun That Never Sets“ auszuarbeiten, hatte er den Eindruck, daß das Material keine geeigneten Stellen hat, an denen sein Gesang passen würde. Seine Growls hätten sich an jeder Stelle irgendwie gekünstelt angehört, so daß wir übereinkamen, sie diesmal wegzulassen. Auf dem nächsten Album wird er aber wahrscheinlich wieder singen, nur auf dem aktuellen schien es eben nirgends reinzupassen.

Wie entsteht für gewöhnlich ein NEUROSIS-Song?

Viele Jamsessions, viele Gespräche… wir verbringen sehr viel Zeit damit, über die Tracks zu reden und jeweils den anderen zu verbildlichen, wohin der Song gehen soll.

Wie hat man sich das denn genau vorzustellen?

Stell Dir einen sehr kleinen und sehr heißen Proberaum vor, in den all unsere Verstärker und Instrumente reingezwängt sind, und stell Dir uns darin vor inmitten von Bierflaschen und Pot-Qualm, wie wir uns gegenseitig anschreien, haha!

Soll ich mir sehr viel Geschrei vorstellen?

Haha, nein, nein, weißt Du, wir spielen nun seit 16 Jahren zusammen in einer Band. Wir können uns schon mal anschreien, das gehört dazu. Aber nach einer so langen Zeit weißt Du, wie´s der andere meint. Und ansonsten gehen wir verdammt freundschaftlich miteinander um, gerade weil wir zusammen durch alle Höhen und Tiefen gegangen sind. War also nur Spaß, das mit dem Schreien… Aber manchmal muß man schon ein bißchen brüllen… (lacht)

Wie versucht ihr, die Spontanität von Jamsessions ins Studio zu retten?

Indem wir unsere Songs nicht bis zum Erbrechen üben und sinnlos jedes noch so kleine Detail ausarbeiten, sondern Raum für spontane Einfälle lassen. Wir versuchen, daß so die Songs gewissermaßen frisch für uns bleiben. Wir üben auch recht selten unsere älteren Tracks, sondern schauen lieber nach vorne. Es macht keinen Sinn, die eigenen Songs totzuspielen.

Verrate mir doch mal ein bißchen was über die Texte auf dem neuen Album…

Sie beschäftigen sich wie immer bei uns mit dem Erforschen von Fragen, die sich jeder Mensch im Universum stellt, und mit Gedanken über das eigene Innenleben und Erfahrungen, die man so macht…

Und woher bezieht ihr dazu eure Inspirationen?

Aus dem Leben… aus allem!

Was bedeutet die Sonne für NEUROSIS als Symbol? Sie taucht ja sehr oft in Texten, Songtiteln und im Artwork auf…

Sie steht einfach für Gott gewissermaßen, für etwas, das ständig bei uns ist, etwas, das das Licht bringt. Ein einfaches, aber kräftiges Symbol, finde ich.

Für Dich ist sie also ein positives Symbol?

Nicht unbedingt, ich weigere mich, Dinge nur als positiv oder negativ zu sehen, es gibt immer beides. Die Sonne ist wärmespendend und zugleich aus vernichtendem Feuer…

Diese Zweischneidigkeit bezieht sich demzufolge auch auf den Titel des Albums?

Nun, im Titelsong dreht es sich textlich um das Blut, das durch jeden von uns fließt, um die Verbindung zwischen deinem Blut und deinem Geist und wie sich das auf deine Persönlichkeit auswirkt. Im Song wäre also die nie untergehende Sonne das Blut und mit ihm all das Wissen und so, das von einem zum anderen weitergegeben wird.

Aha. Ähm, Themawechsel: Zu eurer letzten Scheibe Times Of Grace gab es von eurem Nebenprojekt Tribes of Neurot mit Grace ein Begleitalbum. Ist etwas ähnliches auch für „A Sun That Never Sets“ geplant?

Nein. Es war zwar eine großartige Sache, sowas für Times Of Grace aufzunehmen, für die aktuelle Platte ist aber nichts in der Richtung geplant. Vielleicht irgendwann mal wieder… Für „A Sun That Never Sets“ ist dafür eine DVD in Planung, die sehr bald rauskommen wird.

Was können wir von der DVD erwarten?

Es werden eine Reihe von Grafiken sein, die die Songs optisch ergänzen sollen.

Also was ähnliches wie die Videoprojektionen auf euren Konzerten?

Ja, so in die Richtung, aber nicht genau die gleichen. Die Grafiken sind auch durchsetzt mit anderen Sachen… wir haben das Teil erst zu 50 Prozent fertig, mal schauen…

Wie war das eigentlich genau mit dem Grace-Album? Ich konnte es leider nie in die Finger bekommen… stimmt es, daß man es zeitgleich mit dem Times Of Grace-Album anhören soll und daß beide exakt zusammenpassen?

Ja, das stimmt.

Und wie klingt das?

Cool natürlich! (lacht) Ich liebe es, es ist sicherlich eine der besten Sachen, die wir je gemacht haben.

Eine Konstante bei NEUROSIS ist der Gastauftritt von Amber Asylums Frontfrau Kris Force, die auch zum neuen Album wieder Geigen- und Bratschenstimmen beigesteuert hat. Hattet ihr euch nie überlegt, sie gleich fest in die Band aufzunehmen, wo sie doch sowieso auf jedem Album zu hören ist?

Das wäre schon klasse, aber sie hat nunmal ihre eigene Band. Und so, wie wir´s jetzt halten, paßt es ja auch. Wir arbeiten sehr viel mit ihr, aber sie muß sich nicht um all den Bandbullshit kümmern. (lacht) Sie zieht ihr eigenes Ding durch, arbeitet trotzdem viel mit uns und muß dazu nicht unbedingt fest zur Band gehören.

Was hältst Du denn von ihrer Band Amber Asylum?

Ich verehre sie! Eine meiner absoluten Lieblingsbands!

Wer dafür nicht mehr als NEUROSIS-Mitglied im Inlay aufgeführt wird, ist euer Visual Arts-Mann Pete Inc. …

…Weil er uns verlassen hat. Für ihn wurden einige andere Projekte wichtiger. Wir sind aber nach wie vor eng befreundet mit ihm. Momentan kümmern wir uns selbst um die visuelle Komponente und arbeiten mit anderen Leuten zusammen.

Wir werden also auf der nächsten NEUROSIS-Tour die Videoanimationen nicht vermissen müssen?

Nein.

Werden wir euch im Zuge von „A Sun That Never Sets“ hier in Europa live zu sehen bekommen?

Auf alle Fälle. Bestätigt ist zwar noch nichts, aber wir haben es fest vor.

Welches war für dich euer bislang bestes Konzert in der Geschichte von NEUROSIS?

Oh je, ich weiß nicht. Es gab da einige tolle Shows. Der erste Gig, den wir in Belfast spielten, war ziemlich unglaublich und intensiv. Anfangs wußten die Leute nicht, was sie von uns zu erwarten hatten, es lag viel Spannung in der Luft. Die politische Situation war da gerade sehr schlimm, die Tage über hatte es schon viel Gewalt gegeben. Doch als wir spielten, schlug die Atmosphäre um und es wurde eine absolut intensive Show. Das ist sicherlich ein Gig, der mir unheimlich viel bedeutet.

Was liegt dir persönlich besser: live zu spielen oder im Studio zu arbeiten?

Beides hat einen gleich hohen Stellenwert bei mir. Wenn ich mich jedoch entscheiden müßte, so würde ich lieber ein Album aufnehmen. Ich reise nämlich nicht allzu gerne. Außerdem gefällt es mir, im Studio die Dinge mehr unter Kontrolle zu haben und ausführlich an den Songs arbeiten zu können. Das liegt mir am meisten. Live aufzutreten mag ich natürlich auch total, nur wenn ich vor der Entscheidung stünde, würde meine Wahl auf´s Studio fallen.

Auf eurer Website befindet sich ein Aufruf an interessierte Künstler aller Gattungen, mit NEUROSIS zusammenzuarbeiten. Haben sich da schon interessante Leute gefunden?

Oh ja, da kamen schon sehr viele Reaktionen. Im Moment haben wir noch nichts festgemacht, aber wir sind mit einigen Leuten im Gespräch. Da wird sich sicher einiges Interessantes ergeben in naher Zukunft, denke ich.

Was denn zum Beispiel?

Die DVD-Geschichte etwa, oder Bücher… es kommt ganz auf die Ideen der Künstler an. Wir wollen da einfach eine Art Basis zum künstlerischen Austausch sein.

Seht ihr das Internet als eine Gelegenheit an, über eure Website mehr Leute für eure Musik zu interessieren, oder schadet es vielmehr in Gestalt von Napster und Co. der Musik?

Wir empfinden das Internet sowohl als Gelegenheit wie auch als Gefahr. Hauptsächlich eröffnet es uns aber neue Wege der Kommunikation. So können wir unsere Musik mehr Menschen zugänglich machen. Schließlich haben wir keinen Major hinter uns, so daß sowieso jeder auf uns aufmerksam würde. In Sachen Kommunikation ist es jedenfalls eine große Hilfe. Wenn jedoch einer unerlaubt Geld mit der Musik – also dem Blut, dem Schweiß und den Tränen – anderer Leute macht, ist er nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Dieb.

Würdest Du Kommunikation als Hauptzweck eurer Musik bzw. Musik allgemein bezeichnen?

Absolut. Das ist das, was wir erreichen wollen.

Denkst du, daß sich hinter all der neuen Technologie auch die Bedrohung verbirgt, daß die Leute entmenschlicht werden und daß die Seele und die Gefühle eines Menschen – all das, was sich nicht in die Logik eines Computers zwängen läßt – immer unwichtiger werden?

Da steckt schon ein Körnchen Wahrheit drin, aber ich denke, die Menschen haben es selbst in der Hand, menschlich zu bleiben, indem sie die neue Technologie lediglich als Hilfsmittel betrachten und sich nicht selbst instrumentalisieren lassen.

Laß uns mal auf eure alten Alben zu sprechen kommen. Kommentiere doch bitte kurz jede der folgenden Platten:

Pain Of Mind:

Nun, unser erstes Teil. Damit ging alles los. Das war wahrscheinlich der stolzeste Moment in unserem Leben, als wir plötzlich eine eigene Platte draußen hatten.

Souls At Zero:

Darauf haben wir erstmals unseren heutigen Weg eingeschlagen.

Enemy Of The Sun:

Enemy Of The Sun war in vielerlei Hinsicht ein großer Schritt nach vorne… und auch ein großer Schritt weg von gängigen Vorstellungen von Musik.

Through Silver In Blood:

So finster, wie man es gerade noch ertragen kann.

Times Of Grace:

Das war gewissermaßen unser erstes schönes, melodisches Album…

Also, schön wäre mir jetzt nicht gerade als erstes Attribut eingefallen!

Oh, doch, wir nennen diese Art von Musik schön! (lacht)

Wer schon einmal den fast halbstündigen, nur auf Percussions und manipulierten Samples basierenden Abschlußtrack auf Enemy Of The Sun, Cleanse, gehört hat, wird meine nächste Frage verstehen: Scott, sei ehrlich… wie oft hast du dir den zweiten Teil des Stücks komplett anhören können?

Einmal… als wir die Percussions aufnahmen, haha! Ach so, du meinst den allerletzten Loop!

Ja, den, wo minutenlang nur das Wort insane wiederholt und manipuliert wird…

Den hab´ ich sicher schon so an die zehn Mal durchgehört! Mir gefällt dabei, wie sich das Teil trotz der Monotonie immer ein bißchen ändert!

Und wo kommt das Gesprächsfetzensample am Anfang des Enemy Of The Sun-Albums her?

Das ist aus einem Film namens The Sheltering Sky.

Nun kommt ihr aus der Bay Area, einer Gegend, die schon immer für besondere Acts gut war. Übt die Bay Area mit ihren vielen Städten aber auch als Ort Einfluß aus auf euch? Würdet ihr anders klingen, wenn ihr meinetwegen vom Land kämt?

Oh ja, definitiv. Jeder reflektiert seine Umwelt. Und die Szene hier ist sehr gut, sie war eigentlich schon immer gut. Es sind immer viele verschiedene kreative Dinge am Laufen. Ich hab´ mich allerdings in den letzten Jahren ein wenig zum Stubenhocker entwickelt, so daß ich ein wenig den Überblick verloren hab´, was so alles momentan los ist.

O.k., das soll´s von meiner Seite gewesen sein. Willst du noch abschließend was hinzufügen?

Nur, daß wir schon heiß darauf sind, in Deutschland zu spielen und unsere Fans bei euch zu sehen!

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