Die Freude, die auf dem Artwork von WITNESSES viertem Doom Metal-Album verströmt wird, höhlt die Protagonistin auf dem Artwork eher aus, als dass sie nährend wäre – oder ist das nur ein fieser Trick, eine Art Rorschach-Test? „Joy“ also als Hedonismus, dem eine Leere folgt? Mitnichten, WITNESSES haben ein konzeptionell erhebendes Album geschrieben – das jedoch musikalisch viel Drama birgt. Die Band, bestehend aus Multiinstrumentalist Greg Schwan, der mit wechselnden Sessionmusikern nahezu jedes Jahr ein Album veröffentlicht, findet anno 2024 ihre Nische zwischen Epic Doom, den Riffs der Peaceville Three und einer melancholischen Harmonieverliebtheit. Dieser Wille zur Eigenständigkeit hat Tradition – seit knapp zehn Jahren sind WITNESSES eine Art Wundertüte: Soundtrackartige Alben, Ambient, Goth-Folk, melancholischer Doom Metal, Peaceville Three-Doom, all das passt in den Kontext der Band.
Dabei ist „Joy“, wie die meisten Alben von WITNESSES, kein besonders langes Stück Musik. 35 Minuten reichen WITNESSES, um die Hörer*innen in ein Wechselbad der Gefühle zu tauchen. Greg Schwan ist ein hörbar erfahrener Songwriter, der seine Stücke auf zweistimmige Harmonien und erhabene, bisweilen auch aggressive Riffs aufbaut. Dabei haben die Songs viele verschiedene Stimmungen und spielen verschiedenste Facetten aus. Unterstützt wird Schwan auf „Joy“ von Drummer Angel Hernandez, der ein breites Spektrum bietet und überraschend viel Power in sein Spiel einfließen lässt – bis hin zur überraschend häufig eingesetzten Double Bass.
Melancholische Harmonien, aggressive Riffs und kraftvolles Drumming: WITNESSES erforschen auf „Joy“ die Spannweite des Doom Metal, wie es in den Neunzigern üblich war.
Und doch ist da viel Gefühl in der Musik. Das wird schon nach dem Einstieg in „Joy (Like A River)“ deutlich, wobei WITNESSES zum Aufwärmen noch sechseinhalb Minuten eher klassischen Doom bieten – als würden sie mit dieser Inkarnation erst auf Tuchfühlung gehen wollen. Sensationell ist das folgende „Joy (I See Everything)“, das mit gefühlvollem Piano beginnt, dann aber mit wuchtig-schnellen Drums furios abgelöst wird, um nach einem leisen Teil in einen Gänsehaut erzeugendes, von sehnsüchtigen Harmonien durchtränktes Finale zu münden. Dieses emotionale Wechselbad der Emotionen ist auch in „Joy (Beyond The Sound Of My Voice)“ zu hören, das überaus brachial beginnt und in der zweiten Hälfte rein auf Atmosphäre setzt und mit wundervollem Gesang ausfadet.
Sehr im Vordergrund steht somit Sänger Simon Bibby (THY LISTLESS HEART), der viel Emotion und auch Theatralik in seine Stimme packt. Im Vergleich zu den Sängern Kody Ternes und Anlaik, die auf früheren WITNESSES-Alben zu hören waren, hat er einen deutlich klassischeren Metal-Background. Mit großen Stimmvolumen bringt er WITNESSES in eine Epic Doom-Richtung, lässt viel Leidenschaft und Liebe in die Musik einfließen, und schrammt dabei nicht selten an der Opernhaftigkeit von WHILE HEAVEN WEPT vorbei. Will heißen: Diese beeindruckende, vielschichtige Gesangsperformance liegt an der Pathosobergrenze. Gleichzeitig überzeugt Simon Bibby auch in tieferen Regionen und schafft es, ein schönes Goth-Timbre in die Musik zu integrieren.
Simon Bibbys Stimme führt die Musik von WITNESSES an: „Joy“ bietet großes Drama, aber auch zurückhaltende Momente.
Nach einem kurzen Interlude fahren WITNESSES den Furor zunächst zurück. Mit „Joy (The Endings)“ fokussiert Songwriter Greg Schwan die elegische Seite seiner Band. Weniger Aggression, mehr Melancholie, zweistimmige Leadgitarren zum Niederknien, inklusive toller Soli lassen aufhorchen, und auch leise Momente haben ihren Platz in dem achtminütigen Stück. Überhaupt, wie viel WITNESSES in ihren Songs unterbringen, ohne dass es jemals gehetzt wirkt, ist faszinierend. Auch das abschließende „Joy (Safety In Me)“, das mit einem Kontrast aus Leadgitarren und Grooves beginnt, fährt noch einmal die Intensität hoch. Ein kurzer, beinahe thrashiger Moment bringt ein Maximum an Wut, dann wird Spannung aufgebaut, bis ein letzter Teil, dessen Heaviness an die Uptempo-Momente von „Turn Loose The Swans“ erinnert, und WITNESSES fließen in den letzten großen Refrain, bevor mit der wundervoll weichen Stimme von Gabbi Coenen das – leider zu kurze – atmosphärische Outro die Leidenschaft abkühlt.
„Joy“ ist für alle, die melodiösen, epischen Doom Metal lieben und sich sowohl in der klassischen Ausrichtung, als auch der grimmigen Thematik der Peaceville Three zu Hause fühlen. Kurzum: Wer an PALLBEARER, WARNING, frühe ANATHEMA, SOLITUDE AETURNUS, WHEEL und APOSTLE OF SOLITUDE Gefallen findet, wird sich in „Joy“ sicherlich wiederfinden und seiner Eleganz und Energie erliegen. Allerdings ist „Joy“ gerade deshalb nicht das Album, das man auflegt, wenn der Weltschmerz so sehr drückt, dass es rein melancholisch sein muss. Wer eine Art „Best Of“ des Doom Metals der vergangenen 35 Jahre sucht, wird bei WITNESSES aber mehr als fündig. Dass Greg Schwan und seine Gastmusiker es schaffen, diese Spannweite in eine so kompakte Form zu gießen, zeugt vom kompositorischen und technischen Vermögen der Formation. Dass der Sound nicht nach Studioprojekt, sondern nach Liveband klingt, ist hier nur die Sahne auf der Kirsche. Große Freude, großes Doom-Kino!
Wertung: 5 von 6 Freudentränen
VÖ: 3. Dezember 2024
Spielzeit: 34:31
Line-Up:
Greg Schwan – guitar, bass guitar, keys, lyrics, mixing
Simon Bibby – vocals
Angel Hernandez – drums
Matt Kozar – additional guitar on „Joy (Like A River)“
Arianna Mahsayeh – cello on „Joy (Like A River)“
Gabbi Coenen – vocals on „Joy (Safety In Me)“
Label: These Hands Melt
WITNESSES „Joy“ Tracklist:
1. Joy (Like A River) (Official Audio bei Youtube)
2. Joy (I See Everything) (Official Audio bei Youtube)
3. Joy (Beyond The Sound Of My Voice) (Official Audio bei Youtube)
4. Interlude
5. Joy (The Endings)
6. Joy (Safety In Me)
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