Als NAHTRUNAR mit ihrem vergangenen Album „Wolfsstunde“ in das Leben des Verfassers brachen, war sofort eine Verbindung da. Es war schnell klar, dass NAHTRUNAR weit mehr als nur eine weitere Pagan-Black Metal-Band sind, die sich eher auf die atmosphärische, denn die bestialische Seite des Genres schlägt. Die Tiefe der Musik zieht in den Bann, ganz wie bei den Großen der Szene, die längst in der Anderswelt weilen. Die dichte Atmosphäre des österreichischen Projekts, sie gipfelt nun mit ihrem fünften Album „Hrima“, das sich als Doppelalbum über fast 90 Minuten Spielzeit erstreckt. Ein gewagtes Unterfangen? Durchaus.
Die anonyme Formation – noch ein Soloprojekt, oder mittlerweile doch ein Duo? – spielt nur auf fünf der Tracks Black Metal, und kommt damit doch auf knapp 50 Minuten Spielzeit. Dazwischen stehen atmosphärische, instrumentale Interludes und als Addendum präsentieren NAHTRUNAR ihr Konzept aus einem anderen Blickwinkel an der Schwelle aus Neofolk und Ambient. So viel zu den harten Fakten, und ja, NAHTRUNAR müssen sich die Frage gefallen lassen, ob „Hrima“ überambitioniert oder aufgeblasen ist. Sicherlich gibt es diejenigen, denen die fünf Black Metal-Songs reichen und die Zwischenstücke skippen, und diejenigen, die keine Geduld für die Ambient-Seite der Musik haben. Und, wer weiß, würde das Album nach „Gestirn“ schließen, ohne die abschließenden sechs Ambient-Stücke, würde vielleicht gar nichts so sehr fehlen. Oder etwa doch?
Überambitioniert und aufgeblasen? NAHTRUNAR setzten für „Hrima“ auf atmosphärischen Black Metal, Neofolk und Ambient im Breitwand-Format und erschaffen Großes.
„Hrima“ in seiner Gänze, ist wie eine epische Dichtung, wie ein Film, der am Ende ein anderes Gefühl verströmt, als zu Beginn. Eine Reise eben, durch die Nacht, durch eine andere Zeit. NAHTRUNAR bauen ihre Kompositionen langsam auf, die Atmosphäre packt aber sofort zu. „Seelenheim“ beginnt mit schaurigen Violinen, die über eine Akustikgitarre gelegt werden, bevor schließlich Tremoloriffs mit langsamem Drumming übernehmen. Schnell und wirklich grimmig wird es erst nach zwei Minuten, doch trotz der grimmigen Musik und der boshaften Vocals strahlt „Seelenheim“ eine innere Ruhe und Balance aus, die NAHTRUNAR durch das ganze Album tragen. Das Finale mit Thor Harris, beziehungsweise SWANS-Glockenspiel, ist der ekstatisch Gipfel des Stücks.
Wer auf diese Art ein Album beginnt, geht das Wagnis ein, das Niveau im Anschluss nicht halten zu können. NAHTRUNAR setzen also nicht noch einen drauf, sondern überlassen in „Einem Fürsten“ boshafte Riffs der zweiten Welle und Blast Beats das Feld. Eine Steigerung ist auch hier auszumachen, die Gitarren werden zunehmend komplexer und Keyboards erweitern mit dem Flair der Neunziger die Musik. „Einem Fürsten“ macht deutlich, wem NAHTRUNAR nahestehen: Die Mystik von NAGELFAR zu „Hünengrab im Herbst“ und LUNAR AURORA zu „Ars Moriendi“ und „Mond“ sind in der Musik der Österreicher sehr präsent. „Die Milch meiner Dichtung“, das ein wenig zur Epik des Openers zurückfindet, aber trotzdem wütet, trinkt aus derselben Quelle, vor allem wenn in der Mitte des Stücks hingebungsvolle Riffs in einem melancholischen, kurzen Moment zusammenbrechen und schließlich von tiefer Dunkelheit erfasst werden. Der Song zerfasert in der Folge ein wenig, NAHTRUNAR schaffen es aber dennoch, die einzelnen Teile zusammenzuhalten und nach zehn Minuten eine gute Conclusio zu erreichen.
„Hrima“ erzeugt Sehnsucht: NAHTRUNAR spielen Musik für diejenigen, denen es nach dem Alleinsein dürstet.
Das Hölderlin-Zitat aus „Hyperion“ im Booklet mag kryptisch wirken, NAHTRUNAR erzeugen aber nicht erst auf „Hrima“ diese Sehnsucht nach dem Alleinsein, dem All-Eins-Sein. Dabei geht die Musik weit über das Gefühl der Naturverbundenheit hinaus. NAHTRUNAR sind abstrakter, was vielleicht auch an dem überbordenden Konzept liegt. Und doch sind die Interludes zwischen den Black Metal-Stücken dafür da, eine Erdung zu schaffen. „Theiwo (Donner)“ und „Uhtwo (Morgendämmerung)“ kreieren das Gefühl von feuchter Erde unter den Füßen und kalten Bergflüssen auf den Unterarmen, dabei nutzen sie lediglich simple Mittel. Diese Schönheit lässt sich auch in den Harmonien der Riffs finden. Das Black Metal-Stück „Bildnis der Blutsonne“ kommt recht pur daher, und übernimmt diese Schönheit in den Genrekontext.
„Hrima“ findet seine Klimax in „Gestirn“ und geht denselben Weg wie der Opener „Seelenheim“. Der Kreis schließt sich, und NAHTRUNAR selbst schreiben im Beileger, dass darauf nur Stille folgen kann. Ob die Band selbst mit diesem Song nun endet, sei dahingestellt, tatsächlich ist „Gestirn“ ein rauschhaftes, extrem schönes Stück Black Metal, das eine Menge Hingabe unter der schroffen Fassade bietet und fast nebenbei sehr vielschichtig ist. Verschiedene Leadgitarren mit unterschiedlichen Sounds wechseln sich ab und erzeugen eine Mehrdimensionalität, die den Weg hinaus aus dem Hauptteil von „Hrima“ findet.
Mit „Gestirn“ finden nicht nur das fünfte Album „Hrima“, sondern NAHTRUNAR generell ihre Sternstunde. Nicht nur deshalb ist das Album essenziell für Black Metal-Hörer*innen.
Ab dort startet die alternative Perspektive auf das Konzept des Albums. „Aiws (Zeit)“ ist noch mit E-Gitarren und akzentuierten Drums arrangiert, dann entwickelt sich die Musik mehr in Richtung Neofolk und schließlich Ambient, mit der abschließenden, von Klagegesängen begleiteten „Hrima“-Trilogie lässt das Album sanft ausfließen. Und das ist gerade am Ende sehr berührend. Wen es in dieses Werk mit Haut und Haaren gezogen hat, wird auch diesem höchst atmosphärischen Abschluss verfallen. NAHTRUNAR schreiben ihre Liner Notes so, dass „Hrima“ den Abschied des Projektes darstellen könnte. Ein schauerliches Ende für das Album ist es in jedem Fall.
Der Sound von „Hrima“ ist ausgewogen: Die Gitarren haben genügend Raum, sodass sich verschiedene Sounds abwechseln können, die Vocals sind gut eingewoben und die Drums punkten mit wuchtigen Toms und einem natürlichen Klang. Der Einsatz von Synthesizern und Keyboards ist fast immer subtil und nur dann etwas offensiver, wenn es im Song Sinn ergibt. Lieber nehmen NAHTRUNAR Akustikgitarren und Violinen ins musikalische Bild auf. Verglichen mit früheren Alben wie „Mysterium Tremendum“ ist „Hrima“ ein deutlich größeres und weniger rohes Soundbild gelungen, die ursprüngliche Aura der Band ist nach wie vor intakt. NAHTRUNAR sind ein Mysterium für sich, fliegen beinahe absichtlich unter dem Radar der zeitgenössischen Black Metal-Szene und führen spätestens mit dem unwahrscheinlich gut durchdachten und arrangierten „Hrima“ das Erbe der ganz großen deutschsprachigen Bands der Neunziger fort. Kurz: „Hrima“ ist essenziell.
Wertung: 13 von 15 Wege zum Gipfel
VÖ: 29. August 2024
Spielzeit: 86:17
Label: Altare
NAHTRUNAR „Hrima“ Tracklist:
1. Seelenheim
2. Lauhmuni (Blitz)
3. Einem Fürsten
4. Theiwo (Donner)
5. Garunjo (Flut)
6. Die Milch meiner Dichtung
7. Uhtwo (Morgendämmerung)
8. Bildnis der Blutsonne
9. Gestirn
10. Aiws (Zeit)
11. Sauths (Opfer)
12. Hiluth (Schweigen)
13. Hrima I
14. Hrima II
15. Hrima III