Wer, wenn nicht Sean Ingram, Frontmann der Mathcore-Pioniere COALESCE weiß, dass das Leben nicht immer ein Ponyhof ist, wer dann? „Life Is Violence“ als Titel mutet aber dann doch recht plakativ an. Andererseits: Was weiß ich denn schon? IDLE HEIRS wurden auch nicht aus Jux und Dollerei gegründet. Ingram, der mit COALESCE schon bei sich, seiner Band und dem Publikum so manchen Dämon ausgetrieben hat, war in den vergangenen Jahren auffällig inaktiv. Mit IDLE HEIRS ist da wieder Raum, um sich Luft zu verschaffen, und in dem Sänger scheint sich einiges angestaut zu haben. Kein Wunder, irgendwie läuft’s global gesehen gerade ja nicht so wirklich rund. Und wenn dann persönlich auch noch was im Argen liegt, dann ist das Life vielleicht doch mal violent.
Weil Ingram die 50 mittlerweile auch überschritten hat, ist sein jugendliche Verve auch erstmal weg. Und ehrlich gesagt: Mathcore 50+? Das kann schwierig werden, vor allem nach einer so langen Pause. Immerhin, mit Produzent und Multiinstrumentalist Josh Barber hat Sean Ingram nun einen Sparringspartner in seiner Heimatstadt Kansas City gefunden, der in Sachen Songwriting den Frontmann auf einem neuen Weg begleitet: Es geht in Richtung Post Metal. Und es passt hörbar zwischen den beiden. Dennoch ist „Life Is Violence“ keine kleine Operation. Zusammen mit zahlreichen Gastmusikern nahmen die beiden IDLE HEIRS-Mitglieder das fünfzigminütige Album auf. In Norwegen. Und zwar live.
„Life Is Violence“ ist eine intensive Soundwand. Beeindruckend, berücksichtigt man, dass IDLE HEIRS ihr Debütalbum live eingespielt haben.
Fassen wir zunächst zusammen: Komponist Josh Barber sorgt für den Sound und die Kompositionen, Sean Ingram tobt sich darüber aus. Vorweg: Das funktioniert sehr gut, gerade auch, weil IDLE HEIRS ihren Fokus wirklich auf die Songs legen. Sorgsam ist „Life Is Violence“ ausgearbeitet, bis an die Schwelle der Berechnung. Das macht schon „Loose Tooth“ deutlich, das leise und dunkel beginnt, im zweiten Drittel dann einen enormen Dynamiksprung hinlegt. Der markerschütternde Schrei und die fetten Riffs an dieser Stelle mögen kalkuliert sein, aber Ingram und Barber lassen hier erstmal die Kinnlade nach unten sacken. Das sitzt.
Bei IDLE HEIRS ist das Songwriting also nicht so impulsiv wie bei COALESCE, sondern durchdacht und akribisch ausgearbeitet. Die massiven Riffs im mit Double Bass klimaxenden „Rare Bird“ und „Jaded Mountain“, das neben der simplen Grundidee einige clevere Variationen einbaut, zeichnen den Weg vor. Irgendwo zwischen DEFTONES und THE OCEAN, zwischen JUNIUS und CULT OF LUNA manövrieren sich IDLE HEIRS durch ihre acht Songs. Das funktioniert auch, weil gerade Sean Ingrams Stimme in den letzten Jahren keinen Deut gelitten hat. Im Gegenteil: In seiner Schreistimme ist nicht nur Druck, sondern auch Ausdruck: Verzweiflung, Wut, Beklemmung steckt darin und geht auch beim Publikum an die Nieren. Daneben hat er auch für die neue Band seine Gesangsstimme entdeckt. Die ist zwar nicht so charismatisch wie von einem Chino Moreno, passt aber sehr zu den ruhigeren Stellen auf „Life Is Violence“.
Sean Ingram kann jetzt auch singen – IDLE HEIRS profitieren von seiner Entwicklung und „Life Is Violence“ erhält somit viel Tiefe.
Dass hier viel Potenzial schlummert, wird also schnell deutlich. IDLE HEIRS spielen das selbstbewusst aus, gerade bei den längeren Songs: „Lemonade Stand“ packt in seine sieben Minuten nicht allzu viele unterschiedliche Abschmitte, aber es ist so ausgewogen, so gut arrangiert und so punktgenau gesteigert, dass es sich wie drei Minuten anfühlt. „Dim Shepard“ schafft das erst in der zweiten Hälfte. Der neunminütige Song fühlt sich in den ersten vier Minuten ziellos an, fährt gegen Ende aber alles auf, was IDLE HEIRS zu bieten haben. Auch „Dead Ringers“ mit seinem TOOL-Feeling erstreckt sich auf fast zehn Minuten, hier funktioniert aber das gesamte Stück und setzt die Hörer*innen verschiedene Gemütszustände aus.
Mit „Pillow Talk“ verstecken IDLE HEIRS ihren besten Song zwischen zwei Epen. Das Mainriff, der schleppende Groove, der aufs ärgste verzerrte Bass und die nervösen Synthesizer im Hintergrund bauen ungeahnte Spannung auf, bis der Vierminüter am Ende eine neue Richtung einschlägt und am Ende direkt nach vorne geht. Ein atemberaubendes Stück, das spontaner wirkt als der Rest des Songmaterials und wahrscheinlich auch deshalb der beste Moment des Albums. Das soll nicht heißen, dass „Life Is Violence“ schlecht wäre; im Gegenteil. IDLE HEIRS debütieren mit Selbstbewusstsein, haben eine Menge wirklich guter Songs und Ideen parat und dazwischen einzelne ganz große Momente.
Gerade dann, wenn es spontan wird, brilliert „Life Is Violence“: IDLE HEIRS dürften sich gerne öfter auf ihr Bauchgefühl verlassen.
Mit „Life Is Violence“ ist IDLE HEIRS ein beeindruckender Einstand geglückt. Einerseits weil Sean Ingram beweist, dass er selbst 15 Jahre nach „Ox“ noch genügend Biss hat und sich gleichzeitig weiterentwickeln kann, andererseits, weil Josh Barber als Komponist und Produzent absolut souverän agiert. Dass mit den Gastmusikern aus ihrer Heimatstadt das Album live absolut druckvoll und sauber eingespielt wurde, von Barber voluminös, aber nicht künstlich gemischt wurde, rundet die fünfzig Minuten ab. Das gilt selbst dann, wenn es kleinere Längen gibt, manchmal ein wenig zu viel Kalkül in den Arrangements steckt und das abschließende, leise „Momma“ zwar emotional angelegt ist, es der Ausführung aber an Intensität mangelt. Egal, IDLE HEIRS debütieren standesgemäß und werden vor allem diejenigen Post Metal-Fans abholen, die in der ersten Hälfte der 2010er Jahre mit Leib und Seele dabei waren. Und am Ende steht die Erkenntnis, dass es eben doch in allen Lebensphasen die eigenen Kämpfe gibt, und es von der Geburt bis zum Tod die Reibung braucht. Und vielleicht ist das nicht einmal das Schlechteste.
Wertung: 6 von 8 GFK-Seminare
VÖ: 11. April 2025
Spielzeit: 50:53
Line-Up:
Sean Ingram – Vocals
Josh Barber – Guitars, Keyboards
Chris Gochis – Guitars, Percussions
Brad Trinkl – Guitars, Keyboards, Percussions
Brandon Yangmi – Guitars, Percussions
Ben Turkovic – Drums, Percussions
Produziert von Josh Barber
Label: Relapse Records
IDLE HEIRS „Life Is Violence“ Tracklist:
1. Loose Tooth
2. Rare Bird (Official Video bei Youtube)
3. Jaded Mountain
4. Lemonade Stands
5. Dim Shepard
6. Pillow Talk (Official Video bei Youtube)
7. Dead Ringer (Official Video bei Youtube)
8. Momma (Official Audio bei Youtube)
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