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JOHNNY CASH: The Man Comes Around

Statt eines Nachrufs

Gestern, Freitag, den 12. September 2003, ist JOHNNY CASH gestorben. Die Welt ist um einen großen Künstler ärmer. Kein anderer Musiker schaffte es in dem Maße wie Johnny Cash, so viele Generationen musikalisch zu vereinen, kein anderer zeigte sich über 50 Jahre hinweg so offen gegenüber den Entwicklungen der Zeit, nur um diese dann doch wieder mit lediglich einer Stimme und einer Gitarre auf ihren Kern zu reduzieren. Seinen künstlerischen Abschluss fand dieser Lebensweg in einem bereits heute Klassikerstatus genießenden Album – „The Man Comes Around“. Die letzte der vier „American Recordings“-Platten entstand wiederum mit SLAYER-Produzent Rick Rubin zusammen und zeichnet das Portrait eines alten Mannes, dessen Stimme man jedes der siebzig gelebten Jahre anhört, der aber zugleich altersweise in simplen, aber nie platten Songs vom Leben und seinen vielen Schattierungen singt. Hier ist nicht mehr der flotte Bluegrass-Stil der ersten Alben zu hören, auch nicht die Rockabillykraft von „Ring of Fire“ (von dem es eine überraschend gelungene Coverversion von den H-BLOCKX gibt), dafür gibt es von jeglichem Ballast befreite Lieder jenseits aller Stilistiken, die auch minimal instrumentiert funktionieren. Akustikgitarre, Gesang, vielleicht noch eine Orgel und ab und zu ein Schlagzeug, mehr braucht es nicht, um „The Man Comes Around“ zum Gänsehautlieferanten Nummer eins zu machen.

So beginnt die Platte mit einem kurzen Bibelzitat aus der Apokalypse, bevor zu erstaunlich lockeren, beschwingten Gitarren Johnny Cashs gezeichnete Stimme vom Weltuntergang singt. Erst nach einigen Durchläufen kann man sich an den Kontrast gewöhnen, doch dann kann sich selbst ein gestandener Atheist nicht der durch die Zeilen schimmernden Hoffnung verschließen. Diese gibt man beim gleich darauffolgenden NINE INCH NAILS-Cover „Hurt“ auf, denn selbst Trent Reznor hat diese Intensität nicht hinbekommen. Beklemmend und hypnotisch wird die Gitarre zu dem selbstzerstörerischen Text gezupft, während den kompletten Song über eine schleichende Steigerung stattfindet, die einen am Ende des Songs mit vibrierenden Nervenenden zurücklässt. Wie zerbrechlich und doch extrem leidensfähig ein Mensch sein kann! Und welche Stimme kann dies besser ausdrücken als die vom siebzigjährigen Johnny Cash, bei der man förmlich die Narben der Zeit auf den Stimmbändern zu hören vermeint? Die Stimmung wird dann in eine andere Richtung gelenkt mit einer Neubearbeitung von „Give My Love to Rose“ und einem Duett mit seiner ebenfalls dieses Jahr verstorbenen Ehefrau June Carter bei „Bridge over Troubled Water“. Dass „I Hung My Head“ mit seinem Mörder-und-Sheriff-Text tatsächlich von STING und nicht von Cash selbst ist, fällt schwer zu glauben, so sehr macht sich der Mann in Schwarz die Mehrdeutigkeit des Titels zu eigen, so sehr passt die Symbolik zum restlichen Werk von Cash. Ebenfalls begeistern kann die DEPECHE MODE-Coverversion von „Personal Jesus“, bei der John Frusciante von den RED HOT CHILI PEPPERS an der Gitarre zu hören ist und die nervigen Triolen einfach in einen stumpfen, alles bannenden Viervierteltakt umwandelt. Dazu ein verräterisch seicht klimperndes Klavier, das im Verlauf des Songs immer mehr aus den Fugen der Harmonie gerät, und fertig ist ein weiterer Höhepunkt. Besonders nennenswert wären dann noch das wiederum mit der Ironie zwischen traurigem Liebeskummertext und flotter, fröhlicher Musik spielende „Tear Stained Letter“, das trotz Cowboy-Klischees nahegehende Grablied „Streets of Laredo“ sowie „I´m So Lonesome I Could Cry“, eine Hank Williams-Coverversion, bei der sich Johnny Cash ein Duett mit einem der wenigen ihm ebenbürtigen Sänger liefert: Nick Cave.

Man könnte noch viel schreiben über Johnny Cashs Leben, sein komplexes Verhältnis zur amerikanischen Gesellschaft und seine Weigerung, sich dem Nashville-Mainstream anzuschließen, ohne in Rebellenpose zu erstarren, das soll jedoch anderen überlassen bleiben, außerdem gibt es mit „The Man in Black“ eine Autobiografie, die weitere Einblicke vermittelt. Doch letztlich ist vor allem ein begnadeter Künstler und Klangzauberer gestorben, dessen handgemachte Musik trotz all ihrer Einfachheit Millionen Menschen unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Geschmacks tief berührt hat. Gerade in den Zeiten der Pseudo-Plastik-Star-Flut werden wir Johnny Cash umso mehr vermissen, auch wenn er uns am Ende von „The Man Comes Around“ verspricht: „We´ll Meet Again“.

Weitere Empfehlung:

– „Live at San Quentin“ – live im Gefängnis aufgenommen und neuerdings in voller Länge mit knapp 20 Songs und etlichen launigen Ansagen erhältlich. Wer einen Überblick über die frühen Jahre von Johnny Cash haben will und zugleich einen Live-Klassiker sein eigen nennen will, kommt um diese Scheibe nicht herum, zumal das Booklet etliche Hintergründe zur Entstehung der Aufnahmen ausleuchtet. Packend und unterhaltsam zugleich!

Spielzeit: 52:05

Erschienen: 2002

Produziert von: Rick Rubin

Label: American Records

Tracklist:
The Man Comes Around
Hurt
Give My Love to Rose
Bridge over Troubled Water
I Hung My Head
First Time I Ever Saw Your Face
Personal Jesus
In My Life
Sam Hall
Danny Boy
Desperado
I´m So Lonesome I Could Cry
Tear Stained Letter
Streets of Laredo
We´ll Meet Again

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