Krieg. Ein schwieriges und vor allem grausames Thema. Ähnlich wie u.a. Misanthropie, Ablehnung religiöser Werte und Kritik an der Gesellschaft eignet sich diese leider unerschöpfliche Thematik hervorragend dafür, sie musikalisch aufzugreifen.
Metalbands, die sich der Aufarbeitung gewidmet haben, gibt es seit bestimmt einem halben Jahrhundert. U.a. Urgesteine wie IRON MAIDEN thematisierten bereits Kriege. Im Black Metal sind es beispielsweise ENDSTILLE. Im Melodeath-/ Vikingmetal à la AMON AMARTH werden auch häufiger Schlachten aus früherer Zeit behandelt. Hier schöpft man aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Material von gestern, heute und auch morgen und übermorgen.
Umso schwieriger wird es, dieses brisante und leider sehr aktuelle Thema erneut aufzuarbeiten, ohne wie ein warmer Aufguss zu klingen. Ein Multiinstrumentalist aus Bayreuth mit dem Pseudonym “Noise” hat es trotzdem gewagt und sich dem Ersten Weltkrieg angenommen. Der Zuspruch aus den Reihen der Musikliebhaber ist immens – Noise holt mehr und immer mehr Fans ab.
KANONENFIEBER bombte sich mithilfe etlicher Liveauftritte, einigen Singles und EPs und bislang einem Album knallhart in die Gehörgänge der geneigten Community. Und nun ist er endlich da. Der zweite Longplayer. „Die Urkatastrophe“ wird die Scheibe heißen und am 20. September 2024 erscheinen.
Das Konzept des Musikprojektes selbst ist höchst interessant. Für all jene, die KANONENFIEBER wider Erwarten noch nicht kennen: Es gibt keine Gesichter zur Musik. Auf allen Covers prangt, gekleidet in den Uniformen der Soldaten des Ersten Weltkrieges, die breit grinsende Fratze eines schneeweißen menschlichen Schädels. Dieser offensichtlich in der Schlacht gefallene Soldat ist indes stets bemüht, auf teilweise sehr radikale Art und Weise den Namen des musikalischen Werkes bildgewaltig und dennoch ein wenig wie im Comic darzustellen, was dem Ganzen einen noch makaberen Eindruck verleiht. Auf der Bühne werden die Gesichter der Musiker verhüllt. Das Bühnenoutfit wird stets durch authentische Militäruniformen der damaligen Zeit untermalt, die ausnahmslos immer getragen und teilweise während der Shows gewechselt werden. Auch bei 30° im Schatten steht man also in dicker Schurwolle auf dem Podium!
Noise selbst ist ein Mysterium. Zitat:
„Der Kopf der Band Kanonenfieber hält sich bewusst anonym, um dem von ihm entwickelten Charakter Noise kein Gesicht zu geben. An dem Leitbild des unbekannten Soldaten orientiert, soll seine Musik für sich selbst sprechen. Im Zuge dessen soll der Figur Noise auch keine eigene Stimme zugeordnet werden, um jegliche Assoziationen zu verhindern. Sofern ein informeller Austausch gewünscht ist, kann dies ausschließlich in schriftlicher Form geschehen. Wir bitten um Verständnis.“
Live performt KANONENFIEBER dank der Gastmusiker als vollwertige Band – im Studio allerdings schließt sich Noise in seinem Kämmerlein ein und gebärt dort seine großartige Kunst.
Mit dem neuen Album „Die Urkatastrophe“ geht man zwar gewohnte musikalische Wege, scheut sich aber auch nicht davor, mal ein wenig zu experimentieren, sodass das Projekt nicht stillsteht, sondern erfrischend neues Material bietet. Zum Konzept des Werkes meint Noise selbst:
„Der Erste Weltkrieg beschleunigte den Weg in die Moderne und gilt als die “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, das von Kriegen, Gewalt und Vertreibungen geprägt war. Etwa 17 Millionen Menschen, Soldaten und Zivilisten, verloren ihr Leben, große Teile Europas wurden zerstört und ungelöste Probleme hinterlassen, die zu weiteren gewaltsamen Konflikten führten. Dieses Album soll die Opfer des Ersten Weltkrieges dem Vergessen entreißen. Mögen ihre Schicksale auch nach über 100 Jahren Mahnung sein für die nachfolgenden Generationen“.
Und hiermit wird auch etwas verdeutlicht, was seitens des Musikers wiederholt ausdrücklich betont wird: Musik, den Ersten Weltkrieg behandelnd, ohne Glorifizierung des Krieges, ohne Gore-Aspekt, historisch so exakt wie möglich und weitestgehend mit Fakten belegbar.
Für Noise gehört es zum „guten Ton“, sich keine Storys aus der Nase zu ziehen, sondern mithilfe originaler Dokumente und Briefe der überlebenden aber auch verstorbenen Soldaten Texte zu verfassen, die einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Es geht nicht um ruhmreiche Siege, nicht um Glanz und Gloria. Man arbeitet in der Musik nicht mit Fakten und Zahlen. Was sind 17.000.000 Tote? Eine Zahl. Aber hinter jedem einzelnen Opfer steht eine Geschichte, ein Leben, geprägt von Liebe und Hass, Freude und Trauer, Familie, Freund und Feind. Und all diese 17.000.000 Opfer endeten auf mitunter grausamste Weise.
Was ich persönlich bemerkenswert finde ist die äußerst saubere Abmischung in „Die Urkatastrophe“. Dadurch, dass die Texte ausschließlich in Deutsch gehalten sind und die Instrumente und Vocals wirklich gut aufeinander abgestimmt sind, ist es möglich, einen Großteil der Texte zu verstehen ohne diese nachlesen zu müssen.
Zu den äußerst gut im Hirn klebenbleibenden Melodien gesellt sich also eine unfassbar cleane Produktion, die mir, Dank tief emotionaler, aggressiver und klanggewaltiger Atmosphäre, mehrmals die Putenpelle über den Körper jagte.
Was hier aus den Lautsprechern knallt, ist für unsere Musikszene komplett neu. Und als Topping werden mehrfach Originaltonaufnahmen von Rednern und Politikern eingespielt, die mich, wie sie so knisternd und knackend erklingen, erschaudern lassen.
Klar, das Album kann man auch nebenher laufen lassen, denn, wie schon angerissen, sind die Rhythmen und Melodien richtig gut gelungen und sorgen teilweise fast schon für Ohrwürmer. KANONENFIEBER tourten nicht umsonst im August dieses Jahres als Support für keinen Geringeren als AMON AMARTH während insgesamt fünf Konzerten durch Italien, Österreich, Deutschland und den Niederlanden. Ein Schelm, wer da Vergleiche anstellen möchte – aber ich persönlich denke, dass auch eingefleischte Schunkel-Wikinger Gefallen an der Musik fanden.
Nebst der erwähnten Eingängigkeit der Musik selbst sind die Komplexität und Ausdrucksstärke der Texte etwas, was mich wirklich voll abgeholt hat.
Das Album wirkt als Ganzes und so gut, dass ich es tatsächlich nicht ernsthaft zerpflücken möchte. Es steigt überragend ein und wird im Verlauf immer mächtiger, um mit gleich zwei absolut grandiosen Finishern abzuschließen und mich, mit offener Luke dastehend, zurückzulassen.
Behandelt wird beispielsweise im Titel „Der Maulwurf“ (vorab bereits als Singleauskopplung veröffentlicht) die Geschichte eines Pioniers, der sich freiwillig als Mineur meldete. Als effektive neue Taktik der Kriegsführung, die die Fronten aufzubrechen sollte, sollten Stollen bis hinter die feindlichen Linien gegraben werden, um dort Sprengladungen platzieren zu können. Spoiler: Es gibt in dem Stück natürlich kein Happy End. Weiter geht es im Album um die Schlachten in Lviv/Lemberg und um Verdun. Beim Titel „Waffenbrüder“ bekommt Noise tatkräftige Unterstützung von Maik Weichert (seines Zeichens Gitarrist bei HEAVEN SHALL BURN), der das kurze aber gelungene Gitarrensolo eingespielt hat.
Veröffentlichungstermin: 20.09.2024
Spielzeit: 50:43
Line-Up
Noise – Vocals, All Instruments
Gunnar – Guitar
Hans – Drums
Kreuzer – Guitar
Sickfried – Guitar
Produziert von Kristian Kohle
Label: Century Media Records / Sony Music
KANONENFIEBER “Die Urkatastrophe” Tracklist
- Grossmachtfantasie
- Menschenmühle
- Sturmtrupp
- Der Maulwurf (Video auf Youtube)
- Lviv zu Lemberg
- Waffenbrüder (feat. Maik Weichert von HEAVEN SHALL BURN)
- Gott mit der Kavallerie
- Panzerhenker
- Ritter der Lüfte
- Verdun
- Ausblutungsschlacht
- Als die Waffen kamen