THERAPY?: Infernal Love

Es gibt da noch eine andere Seite der Liebe, die einen nicht mit zarten Tränen das Kopfkissen benetzen, sondern frontal gegen Betonmauern rennen läßt. Die Art Liebe, die über Leichen geht. Und genau diese Schattenseite des schönsten aller Gefühle behandelten THERAPY? in einzigartiger Intensität auf "Infernal Love".

Liebe kann etwas Wunderbares sein, sie kann einen schweben lassen, kann alles andere vergessen machen, einen auf Blumen betten und durch Wolken tauchen lassen. Doch versucht man dieses Gefühl in Musik zu packen, kommt fast ausschließlich Schwulst, Kitsch und Schlager dabei raus. Doch da gibt es noch eine andere Seite der Liebe, die dunkle, die einem das Herz bei lebendigem Leibe rausreißt, damit spielt und es bedenkenlos wegwirft. Die einen nicht mit zarten Tränen das Kopfkissen benetzen, sondern frontal gegen Betonmauern rennen läßt. Die Art Liebe, die über Leichen geht. Und genau diese Schattenseite des schönsten aller Gefühle behandelten THERAPY? in einzigartiger Intensität auf Infernal Love. Alle Welt hatte sehnsüchtigst den Troublegum-Nachfolger erwartet und vielerorts war die Enttäuschung groß. Wo waren die netten Poppunk-Hymnen à la Nowhere und Screamager? Stattdessen erklangen von atmosphärischen Zwischenspielen unterbrochene sperrige, düstere Rocksongs – stellvertretend sei der im 5/4-Takt gehaltene, schräge Opener Epilepsy genannt – die nur selten noch daran erinnerten, dass hier die gleiche Band wie bei Troublegum zu hören war – einzige fröhlichere Nummer war Loose. Und so war der Blick leider darauf versperrt, dass in Form von Infernal Love ein absolutes Meisterwerk seiner Entdeckung harrte.

Happy people have no stories singt Andy Cairns in Stories, und geht man danach, muss er ein kreuzunglücklicher Mensch gewesen sein zu der Zeit, denn der Hörer bekommt von ihm eine finstere Geschichte nach der anderen erzählt. Gelegentlich begnügen sich die Jungs wie in Jude The Obscene damit, bitter-süße Melancholie zu verbreiten, doch meistens wühlen sie ganz tief im emotionalen Dreck, lassen Wut, Enttäuschung und Frust freien Lauf wie etwa im programmatisch betitelten, mit einer perfekten Dynamik ausgestatteten Me vs. You. Und genau darin liegt die große Stärke und Einzigartigkeit von Infernal Love: Weitab der Poppunkoberflächlichkeit tauchen THERAPY? ganz tief ein in all die negativen Gefühle, die aus einer Beziehung oder auch dem vergeblichen Werben um die Herz-Dame bzw. den Herz-Buben resultieren können. Zugleich jedoch versinken sie nicht in THE CURE-artiger Lethargie und Selbstmitleid, sondern finden die Kraft, sich all die angestaute Enttäuschung von der Seele zu brüllen, flüstern und knurren. THERAPY? machen ihrem Bandnamen alle Ehre und schöpfen Energie aus der Trauer, nachzuhören bei fett rockenden Krachern wie Misery. Mit Diane findet sich außerdem eine der stärksten Coverversionen auf Infernal Love. Der HÜSKER DÜ-Song wurde als bedrohlich ruhige, lediglich mit Cello-Begleitung ausgestattete Ballade umgesetzt, was geradezu kongenial zum bei näherem Hinhören bitterbösen Text paßt. Wer immer mir erzählen will, dieser Song sei nicht für dieses Album geschrieben worden, hat einiges an Überzeugungsarbeit vor sich.

Aus den Krawallbrüdern der Anfangsjahre und den Melodiemonstern der Troublegum-Zeit waren auf Infernal Love gestandene, erwachsene Musiker geworden, deren Verweigerung gegenüber den Mechanismen der Popwelt – wer weiß, wo THERAPY? heute wären, hätten sie ein weiteres harmloses Poppunkalbum herausgebracht anstelle von Infernal Love? – ich noch heute bewundere. Dass sie seither nicht mehr an die Klasse ihres Meilensteins herangekommen sind, enttäuscht da umso mehr. Doch Infernal Love tröstet darüber hinweg, wie das Album auch über schmerzliche zwischenmenschliche Erfahrungen wunderbar hinweghelfen kann. Angefangen bei Epilepsy über das sehnsüchtige Bowels Of Love bis hin zum psychopathischen Ausraster 30 Seconds ziehen THERAPY? alle Register ihres songwriterischen Könnens und verbinden in einmaliger Höchstleistung Hooklines und Disharmonie zu einem stimmigen Ganzen, welches das Textkonzept in jedem Moment des Albums voll und ganz unterstützt. Infernal Love ist nicht nur eine gewöhnliche CD, sondern auch Therapiehilfe, Lehrstück und Reiseleiter in die Niederungen der menschlichen Seele, ohne dabei den genreüblichen Schwarzkittelsound bemühen zu müssen.

Spielzeit: 48:44

Mercury/Universal

Epilepsy

Stories

Moment Of Clarity

Jude The Obscene

Bowels Of Love

Misery

Bad Mother

Me vs. You

Loose

Diane

30 Seconds

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