NEW MODEL ARMY ist eine Band, die bei mir seit Jahrzehnten einen festen Platz im Plattenregal zwischen all den Heavy Metal-Alben und auf der persönlichen Playlist hat, viele ihrer Songs, alte wie neue, verbinde ich mit ganz besonderen Erlebnissen. Es war also vielleicht sogar mehr als nur ein glücklicher Zufall, dass wir bei einem der drei „Nights Of A Thousand Voices“-Konzerte in London dabei sein durften. Geplant war nämlich etwas anderes: THE CROWN sollten am 14. April im Camden Underworld spielen – ein guter Grund für einen Kurztrip nach London. Am Flughafen per SMS der Schock: Das Konzert wurde abgesagt.
Gemeinsames Singen, die älteste und einfachste Form der Kunst
Sei’s drum, London ist eine so aufregende Stadt, da findet sich etwas anders. Zum Beispiel die Ankündigung, dass NEW MODEL ARMY ein Akustik-Set in einer Kirche spielen, bei dem das Publikum ganz explizit zum mitsingen aufgefordert ist. Die Ankündigung auf facebook las sich vielversprechend: „Hast auch du schon diese besonderen Momente erlebt, wenn eine Band nur ganz leise spielt und jeder im Publikum die Texte singt? Manchmal sind dies die emotionalsten Erlebnisse – gemeinsam zu singen ist die älteste und einfachste Form der Kunst, etwas Ursprüngliches und Echtes. Genau das wollen wir an zwei Abenden erleben – etwas, das nach unserem Wissen so noch nie von irgendeiner Band versucht wurde.“
Natürlich waren die beiden Konzerte am Freitagabend und am Samstagabend seit langem ausverkauft. Aber es wurde kurzfristig eine Matinee am Sonntagnachmittag organisiert, da die Nachfrage nach Karten so groß war. Tickets gab’s nur noch vor Ort, Online-Bestellungen waren nicht mehr möglich. Also fuhren wir am Freitagabend zur Venue, mit der Hoffnung noch zwei Karten zu bekommen.
Die Round Chapel war seit Monaten ausverkauft
Die Round Chapel ist eine alte Kirche von 1871. Heute wird sie für Konzerte und andere Kulturevents genutzt. Die runde Kirche liegt im Stadtteil Hackney, an einer gut befahrenen Straße mit Pubs, kleinen Läden und einer Off-License – und davor standen schon einige NEW MODEL ARMY-Fans. Eindeutig Briten, denn sie bildeten eine Schlange. Die wurde länger und länger, wobei sich einige extra aus Deutschland angereisten Fans sofort zu erkennen gaben – sie waren zu laut, zu unverschämt und gruppierten sich um den Eingang, statt sich wie alle anderen hinten anzustellen. Ein Roadie sagte uns, dass es noch Karten für Sonntag gäbe, um 19 Uhr öffnet die Venue, dann könne man die Karten kaufen. Juhu! Es kam aber noch besser: Plötzlich stand jemand neben uns, mit einem DIN A 4 Ausdruck: „2 Tickets for Sale“ – er war aus Polen, seine Freunde konnten ihn nicht wie geplant begleiten. Er hatte zwei Karten übrig, wir wollten zwei Karten, er wollte keinen Schwarzmarktpreis. So viel Glück ist schon fast unheimlich. Einiger Wermuttropfen: Die Kamera lag im Hotel, deshalb gibt’s hier nur ein paar Handyfotos.
Ein Kirchenkonzert mit Gesangsbuch
Am Einlass bekam jeder ein Songbook, mit einer Auswahl von 50 NEW MODEL ARMY-Songs quer durch die Diskografie mit insgesamt 14 Alben und Illustrationen von Justin Sullivans ex-Partnerin und NEW MODEL ARMY-Weggefährtin Joolz Denby. In der Mitte des runden Kirchenbaus: eine Bühne, auf der die Instrumente kreisrund aufgebaut waren und rundum Strahler. In der Mitte ein senkrecht nach oben gerichteter Spot, der gut eingesetzt die besondere Atmosphäre unterstützte. Überall in der Kirche: gespannte Vorfreude und positive Schwingungen, es brummte und summte, nicht nur durch die Stimmen der rund 700 Besucher, nein, es lag auch eine fast schon andächtige Atmosphäre in der Luft.
Und dann war’s endlich so weit: die Band marschierte auf die Bühne, allen voran der inzwischen 62-jährige NEW MODEL ARMY-Sänger Justin Sullivan. Eine kurze Begrüßung gebot die britische Höflichkeit, dazu die Erklärung man möge doch bitte einfach mitsingen, denn darum seien wir schließlich alle hier zusammengekommen – und man wisse selbst nicht so genau, was nun passiere. Und los ging’s mit „Ballad of Bodmin Pill“ – eine gute Wahl, den spätestens beim ersten Refrain stimmte tatsächlich jeder ein: „How we dance with the fire ´cause it’s all that we know“. Das erste Mal Gänsehaut. Noch saßen die meisten auf den um die Bühne gruppierten Stühlen und den Bänken auf der runden Empore, doch es war schnell zu spüren, dass das nicht lange so bleiben würde. Es passierte etwas, womit wahrscheinlich nicht einmal die Band gerechnet hatte: Das Experiment, ein Mitsing-Konzert zu machen, gelang schon in den ersten Minuten. Sichtlich beeindruckt und fast ein bisschen gerührt blickten sich die Musiker um, im Publikum flossen tatsächlich hier und da Tränen.
Noch einmal jung sein – und zwar gemeinsam
Alt-Punks mit Spuren eines bewegten Lebens im Gesicht, die Generation um die 40, die sich nochmal in die Klamotten von damals gezwängt hatte, Alternative-Hippie-Frauen und ja, auch einige Langhaarige in Lederjacken, alle hatten hier und jetzt ein etwas, das sie verband: Songs, die ihnen irgendwie etwas bedeuten – und da alle mitsangen und jeder ein Textbuch in Händen hielt, gab es auch keine Hemmungen: Wir sagen alle voller Inbrunst mit. Spätestens beim dritten Song „Autumn“ waren dann alle, wirlich alle, gefangen von der einzigartigen Stimmung, sangen, tanzten und waren einfach glücklich. Da kam der „shananana“-Part gerade recht – und es war auch überhaupt nicht peinlich oder befremdlich, es fühlte sich einfach nur gut an.
Stellenweise war’s dann – nüchtern betrachtet – trotzdem fast ein bisschen bizarr. Lesebrillen wurden gezückt, Sullivan erkundigte sich nach ein paar Songs, ob es auch hell genug sei, um die Texte lesen zu können. Und Textzeilen wie „Never going back to the bad old world“, „We’re not like them, we’re better than them“ – auch gesungen von Menschen, die sich inzwischen offensichtlich ein Leben einrichten konnten, das für sie als Jugendliche wohl nie, niemals denkbar gewesen wäre, waren auch nicht immer so ganz glaubwürdig. Doch, warum eigentlich nicht einfach nochmal ein paar Träume leben, und wenn’s auch nur für zwei Stunden ist.
62 Jahre alt und eine unglaubliche Ausstrahlung: Justin Sullivan
So unterschiedlich NEW MODEL ARMY-Songs wie „Lights Go Out“ (vom 1996er Album „Ghost Of Cain“) und „Winter“ vom gleichnamigen, aktuellen Album auch sind, Justin Sullivans ausdrucksvolle Stimme und seine Präsenz halten sie zusammen – das wurde besonders deutlich, da beide direkt nacheinander kamen. Im Gesangsbuch waren alle Songs alphabetisch geordnet, die alten Stücke brauchte Sullivan gar nicht anzusagen, nach den ersten Tönen setzte ein kollektives Blättern ein und wer nicht wusste, wo man gerade war, sah eben beim Nachbarn nach (auch das hat sehr an früher erinnert).
„Space“ enthält ein Zitat des Astronauten Tom Stafford – und Sullivan hat versprochen, dass er ihm eine Aufnahme des Songs aus der Round Chapel zukommen lassen will – denn auch dieser Part wurde von allen fast wie ein Gebet mitgesprochen.
Nights Of A Thousand Voices: Das waren unvergessliche Momente für NEW MODEL ARMY & die Fans
Nach einer Stunde gab’s eine Pause. Beim Abgang der Band von der Bühne gab es noch einen kleinen, zauberhaften Moment zu erleben, der die Magie des Abends in wenigen Augenblicken zusammenfasste. Die leuchtenden Augen der gesamten Band, die langsam und ganz bewusst von der Bühne ging und die Atmosphäre förmlich in sich aufsog, im Bewusstsein, hier gerade etwas Einmaliges zu erleben – das war ein ganz ganz großartiger Moment.
Die Show wurde also kurz unterbrochen – eine normale Stimme ist halt auch nicht dafür gemacht, stundenlang ohne Unterbrechung zu singen. Zeit, sich an der typisch britischen Bar ein leckeres englisches Bier nachzuholen. Danach fand die Band mit „The Charge“ genau den richtigen Song für den Wiedereinstieg – und sofort war diese Stimmung wieder da, dieses Gemeinschaftsgefühl, die Illusion fast gar ein Teil der Band zu sein. Highlights waren im zweiten Teil „Believe It“, „225“ und die unfassbar schöne und eindringliche Version von „Green And Grey“. Bei „Poison Street“ bebte der alte Holzboden der Kirche so bedenklich, dass Sullivan um Mäßigung bitten musste.
Nach gut zwei Stunden war genug gesungen und in die Vergangenheit gereist, der Merchstand leergekauft und 700 Leute inklusive fünf Musiker waren um einige unvergessliche Momente und Erinnerungen reicher. Ich bin sicher, den Song „I Love The World“ hätten jetzt alle noch voller Überzeugung mitgesungen – doch leider war’s inzwischen 23 Uhr und damit musste leider Schluss ein.
Ein Trostpflaster bleibt: Die drei Konzerte in der Round Chanel waren zwar ein einmaliges Ereignis – die Konzerte wurden aber für eine DVD mitgeschnitten, die hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft erscheint.
NEW MODEL ARMYs Setlist bei der Night Of A Thousand Voices
Ballad of Bodmin Pill
Fate
Autumn
Lights go out
Winter
A liberal education
Ballad
Drag it down
Headlights
Space
Stranger
Die trying
(Pause)
Heroes
The Charge
Believe it
Lovesongs
No greater Love
Eleven years
Better than them
Rivers
Summer moors
Long goodbye
Bad old world
Poison Street
225
Green and Grey