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NEW MODEL ARMY: Sinfonia

NEW MODEL ARMY haben sich mit dem “Sinfonia Leipzig Orchester” zusamengetan und 21 Songs mit klassischer Orchesterbegleitung live im Berliner Tempodrom aufgenommen. “Sinfonia” ist ein über weite Teile großartiges Album geworden, enttäuscht leider nur zum Ende hin etwas.

Alben mit Sinfonie-Orchestern sind ja immer so eine Sache. Für Musiker ist es sicherlich ein tolles, wenn nicht gar erhabenes Gefühl, die eigenen Werke mit einem gut eingespielten, professionellen Orchester in einem neuen musikalischen Gewand neu zu interpretieren und vielleicht sogar selbst neu zu entdecken. So wird es sicherlich auch NEW MODEL ARMY ergangen sein. Manchmal wirken diese Versuche auch einfach nur nach einem mehr oder weniger glücklichen Versuch, dem eigenen Schaffen ein Gewicht und eine Brillianz zu verleihen, dem diese einfach nicht gerecht werden. Und manchmal nervt das überbordende Gestreiche und Getröte aber auch reichlich – siehe zum Beispiel  METALLICAs Umsetzung von “S&M“.

NEW MODEL ARMY haben sich nun also auch mit einem Orchester zusammengetan – mit dem “Sinfonia Leipzig Orchester” –  und 21 Songs mit klassischer Orchesterbegleitung live im Berliner Tempodrom aufgenommen. Die Klassik-Arrangements stammen von Violinistin Shir-Ran Yinon, sie unterstützt NEW MODEL ARMY live seit 2014 und war unter anderem bei Bands wie HAGGARD oder ELUVEITIE Gastmusikerin. Das Ergebnis des Zusammenwirkens ist also “Sinfonia”. Und was kommt dabei heraus, wenn sich ein einstiges Punk-Urgestein mit seiner Historie und entsprechender Attitüde an Orchesterversionen seiner Geschichte wagt? Um es vornweg zu nehmen: “Sinfonia” ist über weite Teile großartiges Album, mit nur wenigen Hängern, dafür aber einem enttäuschenden Ende.

NEW MODEL ARMY starten gut in “Sinfonia”

Los geht es, wie es sich für eine klassische Aufführung gehört, mit einer Ouvertüre. Sie beginnt ruhig. Höflicher Applaus. Die Streicher und erste Bläser setzen ein. Eine Melodie wird erkennbar: die von “Green and Grey” (auf das ich später nochmals zu sprechen kommen werde), erster Jubel. Die Melodie verzweigt sich in verschiedenen Variationen, getragen und schwer kommt der Auftakt daher, löst sich schließlich auf in einem Windhauch, der inzwischen ganz fein und leicht gewordenen Melodie von “Green and Grey” und macht neugierig auf das, was da nun wohl folgen mag.

“Devil’s Bargain” ist das erste richtige Stück. Der Gesang von Justin Sullivan setzt ein, der Sound ist hervorragend, das Stück für den Anfang gut gewählt. Stark rhythmusbetont durch die Drums, dezent begleitet durch das Orchester lädt es ein, in diese orchestrale Welt einzutauchen. Wie sich über die gesamte Länge des Sinfonie-Albums zeigen wird, sind es auch oft die neueren Stücke, die mit dem Orchester gut funktionieren, die musikalischeren, die musikalisch tieferen. Viel besser als mit “Devi’s Bargain” hätten NEW MODEL ARMY also nicht beginnen können.

“Sinfonia” schlängelt sich mal erfolgreich, mal experimentell durch die Orchester-Stücke

Danach folgt eine bunte Mischung aus dem schier unerschöpflichen Fundus der Briten. “Devil” gewinnt durch die ausgetüftelten und sich steigernden Streicher- und Bläserpassagen. Am Ende hart an der Grenze, wenn das gesamte Orchester zugange ist, aber gut. “Innocence” ist natürlich prädestiniert für eine Orchester-Version, beginnt die Studioversion auf “Impurity” aus dem Jahr 1990 doch bereits mit einem eben solchen. Entsprechend gut ist es auch in der Live-Variante umgesetzt. “Winter” jagt erste Gänsehaut über den Körper. Das eher ruhige aber intensive Lied, der inbrünstige Gesang von Justin Sullivan, das Orchester, das sich hier voll in seiner Dynamik austoben kann – einfach nur wow. Live hätte ich hier sicherlich Tränen in den Augen gehabt.

Weiter mit “March in September”, das mittlerweile auch schon 10 Jahre auf dem Buckel hat, insgesamt aber etwas abfällt, und “1984”, dem ersten richtig alten Nummer, aus dem gleichnamigen Jahr, das mit Orchester ebenfalls nicht richtig zu überzeugen weiß. “Orange Tree Roads” vom 2000er-Album “Eight” wiederum nimmt das Orchester gut an. Die eher ungewöhnliche Nummer “Marry The Sea” ebenfalls, das nahtlos – und passend zum Thema, in “Ocean Rising” übergeht, und bei dem das Orchester wieder mehr in die Vollen gehen kann. “Ballad” von 1986 ist die nächste Nummer, die zum Träumen und Tränen verdrücken einlädt – nicht nur wegen ihrer musikalischen Umsetzung, auch wegen des Inhalts, der auch nach 37 Jahren erschreckend wenig von seiner Aktualität verloren hat.

“Passing Through”, ebenfalls richtig stark, auch in seiner Getragenheit. Immer wieder schimmert das akzentuierte Drumming durch die Nummern, “Guessing” kommt treibender daher, “Too Close To The Sun” wird eingeleitet durch einen schweren Streicherteppich – und es bleibt schwer und bedrohlich. Sehr stark umgesetzt. “Lullaby” bleibt dicht am Original und für mich fast entbehrlich. “Did You Make It Safe” von “Between Dog And Wolf” von 2013 wiederum saugt das Orchester förmlich in sich auf. Mit “Shot 18” von “No Rest For The Wicked” geht es weit zurück in die Vergangenheit, nämlich ins Jahr 1985. Netter Versuch, diese sperrige Nummer in eine Orchesterversion zu bringen, für mich leider nur gescheitert. “Purity” aus dem Jahr 1990 klingt in der orchestralen Umsetzung ebenfalls eher seltsam – das orchestrale, getragene Intro will so gar nicht zur beschwingten Stimmung des Lieds passen. Die Streicher zwischen den Strophen um so mehr – gibt es diese ja bereits in der Originalaufnahme. Am Ende ist das Lied auf rund sieben Minuten aufgeblasen. Braucht man nicht wirklich.

NEW MODEL ARMY beginnen stark mit den Zugaben – und rauschen dann ab

Der Zugabenteil beginnt. “Vagabonds”. Gänsehaut. Beginnt das Original von 1989 doch ebenfalls mit Streichern. Das ist hier hervorragend umgesetzt. Dass das Streicherintro auf fast zweieinhalb Minuten ausgedehnt wurde, stört überhaupt nicht. Volltreffer. Zu Recht gibt es langanhaltenden Jubel und Applaus. Dann “Green And Grey”. Ein Lied des Abschieds, des Verlassenwerdens, der offenen Fragen, der Enttäuschung, im Original großartig musikalisch umgesetzt. In der Version mit Orchester wollten NEW MODEL ARMY aber offensichtlich zu viel. Statt Sehnsucht gibt es Pathos. Keine Frage, voller Gefühl gesungen und vorgetragen, kippt die streicherunterlegte Version spätestens mit dem Refrain zu einer schwülstigen Begräbnisnummer. Sehr schade. Steckt doch so viel mehr in diesem, einem der besten Stücke, NEW MODEL ARMYs. Den Abschluss bildet “Wonderful Way To Go” von “Strange Brotherhood” aus dem Jahr 1998. Das erneut getragene Streicherintro täuscht den ersten Eindruck, nach gut zwei Minuten darf nochmals die angezerrte Gitarre in den Vordergrund treten und zum Ende hin nochmals auf das Gaspedal treten. Aber irgendwie will es nicht mehr so recht zünden, nicht mehr in die Tiefe gehen. Das Orchester bekommt im Mittelteil nochmals Raum, doch die Nummer ist irgendwie duch und das Album endet mit gemischten Gefühlen.

Ob man das ganze Album braucht? Ich weiß es nicht. Vielleicht als DVD, also als Video, mit Bild. Hier gibt es ja bereits einen Vorgeschmack: Innocence (Orchestral Version) (Video bei YouTube). So funktioniert das sicherlich gut. Das Album an sich werde ich mir aber vermutlich nicht allzu oft wieder anhören.

VÖ: 15. September 2023

earMUSIC

Das Doppelalbum erscheint in verschiedenen Versionen, darunter auch eine limitierte earBOOK-Edition mit Doppel-CD, DVD, Blu-ray, 80-seitigem Buch und einer Bonus-CD mit acht Songs des NEW MODEL ARMY-Konzertes in Berliner SO36 17. Juli 2022.

Der Erstauflage liegt eine DVD mit einem Mitschnitt des Konzertes von NEW MODEL ARMY und dem “Sinfonia Leipzig Orchester” am 15. Juli 2022 bei.

NEW MODEL ARMY “Sinfonia” Tracklist

CD1
Overture (LP side A)
Devil’s Bargain (Orchestral Version)
Devil (Orchestral Version)
Innocence (Orchestral Version) (Video bei YouTube)
Winter (Orchestral Version) (LP side B)
March In September (Orchestral Version)
1984 (Orchestral Version)
Orange Tree Roads (Orchestral Version)
Marry the Sea (Orchestral Version) (LP side C)
Ocean Rising (Orchestral Version)

CD 2
Ballad (Orchestral Version)
Passing Through (Orchestral Version)
Guessing (Orchestral Version) (LP side D)
Too Close to the Sun (Orchestral Version)
Lullaby (Orchestral Version)
Did You Make It Safe? (Orchestral Version)
Shot 18 (Orchestral Version) (LP side E)
Purity (Orchestral Version)
Vagabonds (Orchestral Version)
Green and Grey (Orchestral Version) (LP Side F)
Wonderful Way to Go (Orchestral Version)

DVD (Bonus der Erstauflage)
Die 21-Song-starke Live-Show zusammen mit dem Sinfonia Leipzig Orchester, aufgenommen im Tempodrom, Berlin am 15.07.2022

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