Wie fühlt sich es an, wenn man sein Leben aufschreibt? Sowas macht man ja nicht jeden Tag.
Peavy: Durch die Arbeit an dem Buch habe ich etwas wichtiges gelernt: Ich bin wirklich unfassbar dankbar. Mir wurde bewusst, was ich Menschen auf der ganzen Welt verdanke. Es gibt eine Verbindung zu ihnen über die Musik, das ist eine ganz merkwürdige Sache. Man schreibt Songs für sich alleine irgendwo, in seinem stillen Kämmerlein und erreicht damit so unfassbar viele Leute, die Gedanken und Gefühle mit einem teilen. Und die einen über so lange Zeit immer wieder bestätigen, indem sie immer wieder Platten kaufen und zu den Konzerten kommen. Das ist der tollste Job, den man haben kann. Wobei Job die falsche Bezeichnung ist, es ist viel mehr als ein Job.
Es war gar nicht geplant, dass ich eine Biografie schreibe. Da muss ich jetzt ein wenig ausholen: Während der Lockdowns in der Corona-Pandemie konnten wir ja nicht mehr live spielen. Es passierte nicht viel. Dehalb kam die Idee auf, dass ich ein paar Anekdoten aus der Bandgeschichte aufschreibe, damit wir irgendwas für Social Media haben, so kleine Schmankerl. Ich habe losgelegt und mal ein bisschen frei Schnauze aufgeschrieben, was mir gerade einfiel. Ich gab es einigen Leuten aus meinem Umfeld zu lesen, ihnen gefiel es und so entstand der Plan, mehr draus machen. Es war zu viel und zu gut, um es auf Social Media zu verballern. SPV/Steamhammer-Labelchef Olli Hahn, hat vorgeschlagen, ein Buch draus zu machen. Und dann sind wir da nochmal ganz anders rangegangen.
Und die Arbeit ging erst richtig los?
Den größten Teil hatte ich schon fertig. Ich hatte mich schon dran gewöhnt, Erinnerungen aufzuschreiben. Schwieriger war, alles in die richtige Reihenfolge zu kriegen. Dazu musste ich viele Sachen nachrecherchieren. Nicht dass ich falsche Daten reinschreibe oder sonstigen Quatsch verbreite! Zum Glück kam Timon Menge dazu, denn wir haben erkannt, dass da auch noch ein professioneller Journalist mitarbeiten sollte. Seine Erfahrung war wahnsinnig hilfreich, er hat zum Beispiel auch eine Biografie über die TOTEN HOSEN geschrieben. Er hat einige Interviews mit mir gemacht, um zu ergänzen, was in meinen Aufschrieben für eine fortlaufende Geschichte fehlte. Er hat ein paar Fehler verbessert, aber er hat jetzt nicht alles komplett neu geschrieben. Das ist schon so mein Schreibstil – durch den Filter eines Profis. Ich habe ja überhaupt keine Erfahrung in sowas.
Du hattest eben gesagt, dass du einiges nochmal recherchiert hast. Hast du ein Archiv? Oder wie bist du an die Infos aus der Vergangenheit gekommen?
Ja, ich habe ein Archiv, aber das ist sehr unordentlich. Ordnung ist nicht meine Stärke. Es war echt viel Arbeit, erstmal eine Struktur anzulegen, um die richtigen Sachen zu finden. Zum Beispiel, wann welcher Song veröffentlicht wurde oder wann wir auf welchem Festival gespielt haben. Das sind viele Details, da wollte ich dann auch nicht irgendwelchen Mist rauslassen. Manche Sachen hat man ja auch anders in Erinnerung, als sie dann tatsächlich waren. Ich habe deshalb viel mit anderen Leuten gesprochen. Es geht schließlich um 40 Jahre, das ist eine verdammt lange Zeit.
Du gehst offen mit dem Thema Depressionen um und schilderst, wie es dir ging und welche Konsequenzen es gab. War das eine bewusste Entscheidung, um Öffentlichkeit zu schaffen?
Erstmal war es mir wichtig, dass das alles verständlich ist. Ich kann das nicht unter den Tisch fallen lassen, weil man sonst einige Entwicklungen nicht verstehen würde. Hatte die Freude an der Musik verloren, die Freude an der Band, den Drive, den Willen, weiter daran zu arbeiten. Ich muss erklären, woran das lag. Denn es hatte nichts damit zu tun, dass mich Musik an sich nicht mehr interessiert oder dass ich meine Band doof fand. Wer schonmal durch eine Depression gegangen ist, weiß, dass einem einfach alles egal wird. Dass man einfach nicht mehr richtig funktionieren kann. Das ist eben auch ein Teil meiner Persönlichkeitsstruktur, der immer wieder rausbrechen kann und sich zu einer längeren Episode entwickeln kann, wenn ich nicht reagiere. Ich weiß normalerweise, was ich machen muss, um mich aus diesem Loch wieder rauszuholen.
Wenn du so zurückblickst auf das Leben, gibt es Situationen, in denen du Dinge gerne anders gemacht hättest?
Was wäre denn passiert, hätte ich mich da anders entschieden – diesen Gedanken kennt wahrscheinlich jeder. Aber im Endeffekt, ist es schon vorbei, man kann nichts rückgängig machen. Im Englischen sagt man dazu Don’t cry over spilled milk. Auch meine Fehlentscheidungen und meine Fehler haben mich zu dem gemacht und zu dem gebracht, was ich heute bin. Und ich bin ja nicht unglücklich. Insofern ist das alles gut für mich! Man muss zu seinen Fehlern stehen und sie annehmen, man kann nicht gut weiterleben, wenn man ständig mit sich hadert.
Du schreibst auch offen über Querelen innerhalb der Band, Besetzungswechsel und Streitereien.
Ich wollte nie schmutzige Wäsche waschen. Aber Musik ist auch ein Business und hat auch Schattenseiten. Und dass die da auch mal geschildert werden, fand ich durchaus spannend. Und an mancher Stelle musste ich einfach auch paar Tatsachen auf den Tisch legen, damit man versteht, warum Besetzungen zerbrochen sind. Das kann man im Nachhinein nicht schön reden. Es wäre ja albern, wenn ich jetzt sagen würde, ich hätte mich von den Jungs getrennt, weil sie so tolle Typen waren.
Zu den positiven Momenten: Der Auftritt beim Dynamo Open Air 1997 war offenbar ein spezieller Moment für dich. RAGE sind mit Orchester aufgetreten. Wenn ich mich recht an den Auftritt erinnere, habt ihr euer Set zweimal gespielt, weil das Publikum nicht aufhörte, nach Zugaben zu verlangen.
Ja, das stimmt. Die Leute wollten uns nicht gehen lassen. Das war toll, ich war komplett überwältigt. Vor allem, weil ich leicht bekifft auf die Bühne gegangen bin und total fertig war (lacht). Aber dann ging vom Publikum eine unglaubliche Energie aus, das hat mich aufgeputscht. Dieser Moment hat sich eingebrannt in meine Seele. Die Erinnerung daran gibt mir auch heute noch richtig Kraft. Ich bin einfach total dankbar, dass ich sowas erleben durfte und auch immer noch erleben darf.
Ihr habt Metal mit einem Orchester auf die Bühne gebracht, das war damals noch recht ungewöhnlich.
Für die Heavy-Metal-Szene waren wir Pioniere oder zumindest die erste Band, die mit einer so großen Produktion aufgetreten ist. Es lag damals in der Luft, auch die Gothic Metal-Szene, die sich entwickelte, arbeitete mit klassischen Instrumenten. WALTARI aus Finnland arbeiteten auch mit einem Orchester, hatten aber einen ganz anderen musikalischen Ansatz. In den Folgejahren haben sehr viele Bands die Idee aufgegriffen. Allen voran METALLICA, die das Thema erst so richtig groß gemacht haben. Es war eine Zeit des musikalischen Umbruchs, in der Grenzen eingerissen wurden. Das fand und finde ich gut, Metal vereint inzwischen so vieles.
Du bist mit klassischer Musik aufgewachsen, auch das kann man nachlesen. Was ist für dich der Unterschied zwischen Heavy Metal und klassischer Musik?
Es gibt keinen großen Unterschied. Klassische Musik ist Heavy Metal mit anderen Instrumenten. Oder umgekehrt. Eine Band wie DREAM THEATER macht sowas, das ist irgendwie Zwölftonmusik, vergleichbar mit Stücken von Arnold Schönberg oder solchen Komponisten. Im Grunde sind Metal und Klassik eng verwandt: Beides ist sehr kraftvolle Musik, die viel mit Harmonien und Polyrhythmik arbeitet, weit mehr als Popmusik oder elektronische Musik.
Ich bin über einen Satz gestolpert, du schreibst über die öffentliche Wahrnehmung von Metal: „Am erstaunlichsten finde ich jedoch, dass diese Musikrichtung auch 50 Jahre später noch weitestgehend im Verborgenen stattfindet, im sogenannten Underground“. Ich finde, das hat sich in den letzten Jahren schon sehr verändert – vielleicht auch durch die Berichterstattung über das Wacken Open Air auf allen Kanälen.
Es ist natürlich nicht mehr ganz so krass, wie in den 80er-Jahren. Ich erinnere mich an ein Plakat der Polizei, auf dem die bösen Metaller in Handschellen verhaftet wurden. Damals war alles ein bisschen rebellischer. Klar, heute findet der Metal schon, wie soll ich sagen, mehr Gehör und hat einen besseren Ruf. Aber es ist trotzdem kein Mainstream, auch wenn es ein paar sehr große Bands gibt.
Ihr habt mit 2001 den Song „Straight To Hell“ zum Kinofilm „Der Schuh des Manitu“ von Michael Bully Herbig beigesteuert. Du schreibst, dass das eure Welt auf den Kopf gestellt hat.
Dabei war das Zufall. Bulli Herbig hat den Song in seinem Film verwendet. Der Film ging so durch die Decke, dass dann natürlich dieser Track auch zu einem ikonischen Song wurde, den halt unfassbar viele Leute kennen. Sobald das Riff irgendwo erklingt, werden die meisten Leute sofort anfangen zu zucken. Ich denke aber, dass wahrscheinlich 90 Prozent gar nicht wissen, von wem der Song ist. Dennoch sind wir damit ein bisschen in das kollektive Mainstream-Gedächtnis der Nation eingedrungen. Stefan Raab hat das dann weiter unterstützt, ist selber auch ein Fan der Band, mag selber auch Metal total gerne. Finanziell und kommerziell war das übrigens gar keine entscheidende Sache für die Band. Aber es es ist eine gewisse Anerkennung, über die ich mich freue.
Das Buch beinhaltet auch eine sehr ausführliche Diskographie, zu einzelnen Tracks hast du Linernotes geschrieben. Wie hast du diese Songs ausgesucht?
Ganz spontan! Eigentlich wollte ich noch ein paar mehr machen, dazu reichte dann aber die Zeit nicht mehr. Deswegen hörte das dann einfach irgendwo auch auf. Sonst hätte ich natürlich auch noch ein paar aktuellere Songs beschrieben, vielleicht kann ich das mal nachholen. Zur Auswahl: Es sind Songs, die bei vielen Fans beliebt sind. Ich wollte dazu ein bisschen Hintergrundinfos liefern: Wie sind die Stücke entstanden? Wovon handeln die eigentlich genau? Meine Texte halte ich für relativ verständlich, aber manche Sachen sind schon ein bisschen philosophisch. Da hilft es, wenn man den Hintergrund kennt.
Auch die Danksagungen wollte ich nicht nur so hinrotzen, das sollte auch möglichst vollständig und interessant zu lesen sein. Sehr wichtig war mir auch der Nachruf für den Jochen Schröder. Er ist ja der Gründer der Band und war eine sehr wichtige Person in meinem Leben. Er ist auch der Erste, der nicht mehr unter uns ist. Er hat unbedingt einen Platz in dem Buch verdient. Es gab auch eine sehr schöne Reaktion seiner Schwester darauf, die zu unserem Jubiläums-Konzert gekommen ist – wir haben in dem Raum, in dem vor 40 Jahren alles begann, zum ersten Mal miteinander gesprochen, das war sehr bewegend.
Gibt es für dich eigentlich ein Thema, das sich durch alle 28 RAGE-Alben zieht? Es gibt das Maskottchen „Soundchaser“, Lovecraft spielt eine Rolle, aber ist da noch mehr?
Ja, ein wichtiges Thema für mich ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir sterblich sind, dass das Leben nicht selbstverständlich ist.
Spielt da auch deine Faszination für Knochen eine Rolle? In deiner Biografie schreibst du zum Beispiel: „Ich sitze gern in meiner Knochenwerkstatt und bastle an Präparaten herum.“
Auf jeden Fall. Die Arbeit mit Präparaten ist für mich eine große Inspiration und bringt mich auch immer wieder dazu, über solche Themen nachzudenken.
Von der Vergangenheit und dem Verfall zur Gegenwart. Mit Jean Baumann hast du einen sehr, sehr jungen Mitmusiker, 30 Jahre jünger. Wie ist da die Zusammenarbeit?
Jean hat einen anderen Zugang zur Musik. Das ist sehr inspirierend für mich, während ich ihn auch inspirieren kann, mit meiner Erfahrung. Wir beide sprechen musikalisch eine sehr ähnliche Sprache und verstehen uns wunderbar. Nicht nur auf der Bühne haben wir Spaß, sondern auch beim Songschreiben. Wir sind da wirklich unfassbar kreativ und produktiv, wir haben schon wieder das nächste Album oder zumindest zwölf neue Songs in der Pipeline.