GREYHAVEN: Der Denker in der Stille

Diese Jungspunde könnten durchaus die nächsten großen Hoffnungsträger in Sachen Progressive Metal werden. Welch` Freude also, Gitarrist und Keyboarder Ethan Matthews telephonisch ausfragen zu dürfen und mit ihm über versteckte Konzepte, meditative Sequenzen, die Lust am Produzierebn und den Genuß der Stille zu plaudern…

Selten genug, daß einen ein Album auf Anhieb in seinen Bann schlägt und auch nach einem Dutzend und mehr Hördurchgängen nicht mehr losläßt. Noch seltener dann, wenn es sich um die Erstveröffentlichung einer jungen Band handelt. Doch den Amerikanern GREYHAVEN ist gelungen, was nur alle Jubeljahre mal Ohr und Herz des ambitionierten Schreiberlings zum Wallen bringt: ein Meisterwerk, komplett in Eigenregie eingespielt und aufgenommen. Eine hinreißende Melange aus metallischen Riffs und elektronischen Spielereien. Und ich wage zu behaupten: Diese Jungspunde könnten durchaus die nächsten großen Hoffnungsträger in Sachen Progressive Metal werden. Welch` Freude also, Gitarrist und Keyboarder Ethan Matthews telephonisch ausfragen zu dürfen…

Hallo, Ethan! Wie geht´s Dir?

Hallo! Soweit recht gut. Ich muß mich allerdings gerade mit einer Menge Mist herumschlagen und alles mögliche erledigen, um uns auf unsere Liveauftritte vorzubereiten. Das sind so Sachen wie der Sequenzer, den wir uns gerade zugelegt habe und dessen LCD-Anzeige im Eimer ist und all dieser Kram, der vorbereitet sein muß, bevor wir live spielen. Aber ich denke, das läuft inzwischen alles ganz gut…

Zu allem Überfluß hat Euch ja auch noch Nate Howard, Euer Gitarrist, kürzlich verlassen…

Ja, das stimmt. Im Moment funktioniert es noch so, daß ein Schulfreund von uns live für ihn einspringt, der Keyboarder, Drummer und Sänger gleichzeitig, also sehr vielseitig ist. Er wird mit uns spielen und die Sequenzer und Synthesizer übernehmen, so daß ich mich darauf konzentrieren kann, Gitarre zu spielen. Die Gitarre ist ja eigentlich meine Hauptinstrument und live genieße ich es sehr, mich meinem Spiel voll und ganz widmen zu können.

Nun empfinde ich die Musik GREYHAVENs als sehr visuell. Werdet Ihr dem Rechnung tragen und beispielsweise mit Projektoren oder dergleichen arbeiten, um die Wirkung Eurer Songs noch zu intensivieren?

Wir würden das LIEBEND gerne machen. Im Moment haben wir aber genug damit zu tun, finanziell über die Runden zu kommen und überhaupt auftreten zu können. Die ganzen elektronischen Geräte und Instrumente reichen dabei schon. Wir müssen also im Moment noch etwas zurückstecken. Natürlich wäre es wundervoll, bei einer Tour eine Multimedia-Show zu präsentieren, denn ich denke, wir sind weit eher eine Medien-Band als eine einfache Rockband.

Ein so eigenständiger Bandsound wie der Eure entwickelt sich ja nicht von heute auf morgen. Nate und Du haben die Band 1996 gegründet. Wann nahm dieser spezifische Stil Gestalt an?

Als wir begannen, jammten wir einfach nur drauf los und im Grunde haben wir anfangs lediglich Riffs und ein paar musikalische Ideen ausgetauscht. Wir lebten damals beide in Oregon. Wir spielten dann immer häufiger zusammen und schließlich brachte Nate unseren heutigen Drummer Nick Cipriano mit, mit dem er bereits zuvor in einer Band gespielt hatte. Zunächst probten wir ein paar Coversongs, Sachen wie TYPE O` NEGATIVE oder DREAM THEATER und dergleichen, begannen dann aber recht schnell, unseren ersten eigenen Song zu schreiben. Das geschah allerdings noch recht plan- und ziellos und er wurde nie vollendet . Ich habe allerdings damals begonnen, immer mehr Keyboards zu spielen, da wir ja nur zu dritt waren. Der erste richtige Song, den wir dann zusammen schrieben, war `Moria Down`, der auch auf unserem Demo landete. Er ist übrigens auch auf dem Album, heißt mittlerweile jedoch `Mirror My Exes`, war damals allerdings noch ein reines Instrumental. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt hat sich unser spezifischer Sound geformt. Ein wichtiger Faktor, der diesen bestimmte, war sicherlich der, daß wir damals keinen Bassisten hatten und stattdessen Synthesizer einsetzten. Irgendwie war diese starke Präsenz der Synthesizer eine Art Unfall, aber es ist bis heute so geblieben. Wir interessierten uns außerdem nicht nur für Heavy und Progressive Metal, sondern auch für elektronische Musik und New Age, ebenso für Gothic. All das formte schließlich unseren Sound

Die ebenso starke wie stete Präsenz elektronischer Klänge ist sicherlich das augenscheinlichste Merkmal Eurer Musik. Mir scheint dabei, Ihr orientiert Euch in Bezug auf deren klangliche Ausgestaltung weit mehr an TANGERINE DREAM als an den üblichen Verdächtigen aus dem Prog Metal-Umfeld…

Ja, das ist, was die Synthesizer angeht, wahrscheinlich mein größter Einfluß, das hört man vielleicht unseren neueren Stücken noch deutlicher an. Die elektronischen Elemente werden vordergründig etwas zurückgenommen, übernehmen dabei oft gleichzeitig so etwas wie die Rolle der Gitarrenriffs. Sie formen kleine, eingängige Melodien und sich wiederholende Sequenzen, auf denen der Gesang aufbaut.

Genau diese Sequenzen, die sich ja auch schon stellenweise auf Eurem Debüt finden, gefallen mir sehr gut. Und genau das erinnerte mich auch so sehr an alte TANGERINE DREAM-Alben wie `Riccochet` und `Rubycon´. Diese kleinen Themen, die sich langsam, aber stetig und ohne Hast weiterentwickeln…

Ja, und dieser sich langsam entwickelnde Prozeß innerhalb eines Stückes ist es, was uns reizt. Progressive Metal neigt meist zu schnellen musikalischen Wechseln und sehr raschen Themenentwicklungen. Wir versuchen, das ruhiger anzugehen und eine Art meditativen Zustand in der Musik zu erzeugen. Wir bedienen uns schon immer noch typischer Progressive-Elemente wie Breaks und einer Vielzahl unterschiedlicher Teile innerhalb eines Songs, aber wir versuchen auch, musikalische Ideen und Motive ähnlich langsam aufzubauen, wie es TANGERINE DREAM einst gemacht haben: kleine Themen einführen, die dann weiterentwickelt werden, während nach und nach neue Sounds und Instrumente hinzukommen. Wir versuchen also, diesen eher meditativen Ansatz mit Elementen aus dem Heavy Metal zu einem organischen Ganzen zu verbinden.

Ethan

Was Euch auch gelingt. `Greyhaven` klingt weit atmosphärischer und visueller als die durchschnittliche Prog Metal-Veröffentlichung…

Ich denke, das unterscheidet uns wohl von vielen anderen. In der Zukunft wird man uns vielleicht auch nicht mehr im engeren Sinne als eine Progressive Metal-Band verstehen. Zumindest nicht dann, wenn man dabei nur an Namen wie FATES WARNING, DREAM THEATER oder QUEENSRYCHE denkt. Wir werden immer harte Gitarren in unseren Sound integrieren, aber wir bewegen uns sicherlich in eine andere Richtung. Wir versuchen, ein Motiv, ein Thema, eine Idee innerhalb eines Songs weiterzuentwickeln, eine Stimmung zu erzeugen, diese beizubehalten und damit zu arbeiten.

Ein weiteres Merkmal Eurer Musik ist eine generelle Grundstimmung, die ich am ehesten mit dem Begriff Melancholie umschreiben würde…

Die ist besonders präsent, ja. Besonders auf dem aktuellen Album. Ich denke, das hat auch vielen Hörern bislang gefallen und unterscheidet uns sicher auch von anderen, selbst von vielen Progressiv Metal-Bands: Dieses überwältigende Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung. (lacht) Nun, das wird aber nicht immer so sein. Grundsätzlich werden wir wohl immer eher ins Düstere tendieren, sein, aber speziell bei den neueren Songs gibt es auch Passagen, die zugänglicher und verträglicher sind. Man hat uns, glaube ich, bislang oft ein wenig mißverstanden. Manche halten uns für eine recht extreme Band, auch und gerade wegen des Covers. Wir sind sicherlich nicht so ”extrem” und dachten auch bei der Covergestaltung gar nicht daran, daß dieser Eindruck entstehen könnte. Allerdings ist da eine Farbe in unserem Namen, nämlich ”grau (lacht). Das wirkt automatisch etwas düster.

Obgleich Du GREYHAVEN vorhin von einigen Bands abgegrenzt hast, muß ich an dieser Stelle doch noch einen Vergleich zu Felde führen. Diese melancholische Grundstimmung erinnert mich nämlich recht häufig an FATES WARNING, insbesondere zu deren `No Exit` und `Perfect Symmetry`-Zeiten. Kannst Du das nachvollziehen?

Ja, durchaus. Besonders Brian (Brian Francis, der Sänger GREYHAVENS – der Verf.) und ich mögen `No Exit` und `Parallels` sehr. Diese Alben waren ein sehr großer Einfluß für uns, auch was Riffs angeht, aber vor allem in Bezug auf die Stimmung. Auf ihnen herrscht sicherlich ein weit düstereres Grundgefühl vor als auf anderen Progressive Metal-Werken. Weit dunkler als bei QUEENSRYCHE oder DREAM THEATER. In dieser Hinsicht sind FATES WARNING sicherlich im Bereich Progressive Metal unsere größte Inspirationsquelle. Eine weitere ist MARILLION, die natürlich weniger hart klingen, aber in Sachen Akkord-Folge und Harmonien haben sie uns schon sehr geprägt. Und natürlich, wie schon gesagt, TANGERINE DREAM.

Brian erinnert mich durch seine Melodieführung übrigens auch häufig an den jüngeren Ray Alder, insbesondere dann, wenn er Harmony Vocals singt…

Ja, er steht auch sehr auf Harmonien und klingt dabei auch etwas wie Ray Alder. Er singt allerdings nicht so hoch.

Anfangs habt Ihr ja noch komplett ohne Sänger gearbeitet, selbst Euer Demo kam noch völlig ohne Vocals aus. Wann fiel der Entschluß, nun doch einen Vokalisten in die Band aufzunehmen?

Das war ungefähr zu dem Zeitpunkt, als wir beschlossen haben, ein Album aufzunehmen. Das Demo war zwar auf gute Resonanz gestoßen, uns wurde allerdings klar, daß, wenn wir überhaupt den Hauch einer kommerziellen Verwertungs-Chance haben wollen, wir einen Sänger bräuchten. Denn reine Instrumental-Musik ist schlicht und einfach sehr schwer zu verkaufen, insbesondere dann, wenn sie so vielschichtig ist, wie die unsere. Außerdem sind wir allesamt keine Musiker, denen ihr Spiel derart viel bedeutet, daß sie sich nur auf die instrumentalen Aspekte der Musik beschränken möchten. Das ist bis zu einem gewissen Grad interessant, aber wir sind nun mal auch Songwriter und nicht dazu da, einen Wettbewerb in Sachen Spieltechnik auszutragen. Ich begann, ein paar Sachen zu schreiben, die auf einen Sänger ausgerichtet waren. Ich hatte bereits eine Menge Vocal-Lines geschrieben und sandte unser Material dann an Brian. Er machte ein paar und eines ergab das andere. Es funktionierte einfach sehr gut, auch später bei den Aufnahmen. Wir trafen also die Entscheidung, einen festen Sänger in die Band aufzunehmen. Außerdem brauchen wir ja auch live einen Frontmann…

Insgesamt hat der Songwriting-Prozeß, speziell aber die Produktion des Albums recht lange gedauert. Im Grunde war es doch schon im August `98 fertig, nicht wahr?

(lacht) Ja, das stimmt. Es ranken sich eine Menge Gerüchte um diesen Produktionsprozeß. Nun, ich erzähle das jetzt nicht im Detail, aber es passierten ein paar merkwürdige Dinge im Studio. Schließlich haben wir die CD aber, als sie soweit fertig war, an ein paar Plattenfirmen geschickt. Das war, wie Du richtig sagtest, Ende August `98. Es gab neben Angular Records (bei denen GREYHAVEN nun auch unter Vertrag sind – der Verf.) noch ein paar andere interessierte Labels. Aber sie waren allesamt noch nicht mit dem Mix zufrieden, daran sollten wir noch etwas arbeiten. Angular schlugen sogar vor, daß wir das Ganze noch einmal komplett neu aufnehmen sollten! (lacht) Aber das war unmöglich, wir haben schließlich sechs Monate gebraucht, um das Album in unserer Freizeit aufzunehmen und alles fertigzustellen. Wir haben letztlich den Mix und das Mastering kräftig überarbeitet. Und wenn man einmal ernsthaft beginnt, einen Vertrag auszuhandeln, bedeuten die Business-Angelegenheiten immer noch viel Arbeit Selbst nachdem im Prinzip alles soweit bereit ist, muß ein Label noch viel planen. Angular haben eine bestimmten Zeitplan, um all ihre Veröffentlichungen zu koordinieren. In Europa wird aufgrund der Marktlage zum Beispiel nichts im Sommer herausgebracht. Tja, und all diese kleinen Dinge haben dann dazu geführt, daß es fast zwei Jahre bis zur Veröffentlichung gedauert hat. Kaum zu glauben, aber wahr! (lacht)

Besteht nach einer so langen Zeit nicht die Gefahr, daß Ihr Euch mit dem Endprodukt gar nicht mehr identifizieren könnt? Schließlich habt Ihr ja, wie ich Deinen Äußerungen entnehme, bereits reichlich neues Songs geschrieben…

(lacht lauthals) Oh, mein Gott! Da hast Du was gesagt! Tja, es ist schon so. Wir haben ungefähr 120 Minuten neues Material fertig, das wir in den letzten eineinhalb Jahren geschrieben haben. Also: die CD ist für uns als Band irgendwie schon Schnee von gestern. Es ist nicht so, daß mir dieses Album nicht mehr gefiele, aber ich höre es mir schlicht und einfach nicht mehr an. Nur dann, wenn ich irgendwelche Keyboard-Parts und dergleichen transkribieren muß. Natürlich werde ich es auch genießen, ein paar dieser Songs live zu spielen, aber ja, es ist schon irgendwie veraltet. Wir sind gewachsen, haben uns weiter entwickelt, und es ist schon etwas merkwürdig, wenn wir jetzt etwas promoten, das für uns schon längst nicht mehr aktuell ist. Andererseits ist es auch schön, wenn man hört, daß dieses Album gut ankommt, denn es macht einem klar, daß all die Mühe und das frustrierende Warten nicht umsonst gewesen ist, daß all die Arbeit etwas wert war.

Bei all dem Ärger hattet Ihr aber auch einen ganz entscheidenden Vorteil auf Eurer Seite: Nick besitzt ein eigenes Aufnahmestudio hat, in dem ihr arbeiten konntet. Insofern wart Ihr bei der Produktion Eures Debüts nicht in Zeit- und Geldnot, wie andere Bands und konntet in aller Ruhe an den Songs feilen…

Das ist wahr. Wir sind auch irgendwie Produktions-Freaks und arbeiten sehr lange an Arrangements und Overdubs. Unsere Songs entwickeln sich im Studio immer noch weiter. Die Möglichkeit, sich mittlerweile sein eigene Studio einigermaßen preiswert einrichten zu können, ist schon so etwas wir eine kleine Revolution. Inzwischen nutzen das viele Bands, selbst die ganz großen, die sich eigentlich ein professionelles Studio leisten könnten. Doch sie genießen die Freiheit, die einem ein Heim-Studio ermöglicht. Wir hingegen hatten eigentlich aus Kostengründen gar keine andere Wahl. Möglicherweise werden wir aber mit der zweiten CD auch in ein richtiges Studio gehen, um das Grundgerüst der Songs, also die Vorproduktion dort zu erledigen.


Nick

Generell hat man ja bei einem Debüt für das Songwriting alle Zeit der Welt, doch schon beim zweiten Album wird es ernster und alles muß innerhalb eine s gewissen Zeitplanes über die Bühne gehen. Zudem seid Ihr dann keine Unbekannten mehr, denen man sich unvoreingenommen annähert. Habt ihr Angst, daß da ein gewisser Erwartungsdruck entstehen könnte?

Im Moment hängt das sehr davon ab, was als nächstes passiert. Derzeit konzentrieren wir uns nur auf unsere kommenden Liveauftritte. Wir haben aber, wie schon gesagt, bereits eine Menge neues Material und ich denke, wir werden möglicherweise im September beginnen, die ersten Songs aufzunehmen. Bei unserer nächsten CD möchten wir auch ein paar neue Dinge bieten. Die typischen Markenzeichen GREYHAVENs werden immer noch da sein, doch wir haben recht unterschiedliche Songs geschrieben, das Material wird also sehr abwechslungsreich. Es werden sehr lange Sachen dabei sein, auch sehr kurze und sehr eingängige, aber alles wird nach wie vor von unserem typischen atmosphärischen Sound geprägt sein, den wir auch auf unserem jetzigen Album präsentieren. Noch machen wir uns keine Gedanken, wie das alles werden wird. Unser Sorge ist eher, ob wir in der Lage sein werden, uns stets weiterzuentwickeln und all unsere Ideen zu unsere Zufriedenheit umsetzen können. Wir möchten nicht einfach nur immer mal wieder ein weiteres Album aufnehmen, das genauso klingt wie das zuvor. Ich denke, davon hat letztlich weder der Künstler noch die Hörer etwas.

Nun möchte ich gerne ein wenig auf die Texte Eurer Songs eingehen. Es fällt auf, daß sich gerade die Texte, an denen Du beteiligt warst, mit zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzen…

Ja, das ist bei vielen der Fall. Es ist schon merkwürdig: ein anderer Interviewer hat sogar vermutet, `Greyhaven` sei ein Konzeptalbum. Nun: es passierten – wie schon erwähnt – ein paar merkwürdige Dinge während der Aufnahmen, letztlich kam alles mögliche zusammen und bildete doch ein großes gemeinsames Motiv. Ich kann allerdings nur schwer etwas dazu sagen, denn für Brian und mich haben die Dinge unterschiedliche Bedeutungen. Und ich bin generell Anhänger der Philosophie, daß ein Hörer die Texte auf seine eigene Art und für sich persönlich interpretieren und erschließen soll. Denn, um ehrlich zu sein: obwohl einige Texte dem Alltag entnommen sind und auf wirklich Erlebnissen basieren, kann ich Dir bei den meisten Passagen gar nicht genau sagen, was sie bedeuten. Jon Anderson von YES sagte einmal, daß er beim Schreiben oft überhaupt nicht an die Bedeutung der Wörter denkt, sondern nur daran, wie sie ”fließen”. Das trifft wohl auch auf einige Texte von Brian und mir zu. Ich möchte nicht sagen, daß sie bedeutungslos sind, aber es geht letztlich mehr darum, wie Melodie und Worte zusammenpassen als um eine bestimmte Aussage oder die Schilderung bestimmter Ereignisse und Sachverhalte. Aber nun: wir habe uns angewöhnt zu sagen, daß es ein Konzeptalbum ist (lacht). Aber dieses übergreifende Thema verbirgt sich sehr tief in den Songs.

Beim Herumstochern sind mir insbesondere zwei thematische Motive aufgefallen, die immer wiederkehren. Das eine ist die große Selbstlüge…

Ja, ich denke, das Wort „Lüge“ taucht immer wieder auf und spielt eine große Rolle Dabei geht es mir nicht um mich selbst, der sich etwas vormacht, sondern um andere, die sich selbst belügen. Wieviel davon nun aus meinem eigenen Erleben stammt und was davon lediglich meiner Wahrnehmung dessen entnommen ist, was andere denken oder tun, überlasse ich dem Leser beziehungsweise dem Hörer. So klischeehaft und abgedroschen das klingen mag: Ich denke, es ist wichtig, sich selbst zu finden und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Warum sagen viele Menschen nicht, was sie wirklich denken und wollen? Warum verstecken sie so Vieles? Dieses Thema findet sich häufig in meinen Texten, das stimmt…

Oft ist man sich allerdings dessen gar nicht bewußt, daß man sich selbst etwas vormacht und an das Selbstbild, das man anderen vorzugaukeln versucht. Warst Du denn schon immer in der Lage, Dein Handeln und Tun zu reflektieren und Dich Deiner wahren Persönlichkeit zu stellen? Oder hat Dich gar ein Bestimmtes Ereignis irgendwann wachgerüttelt?

Oh, Gott (lacht). Hmmm… nun, ich persönlich bin eher ein Denker. Hmmm.. puh, das ist schwer… ich… wüßte nicht, was ich dazu sagen soll außer ein Essay darüber zu schreiben (lacht). Also, ich denke sehr viel mehr nach, als daß ich handle und rede. Ich kann schwer erklären, warum das so ist, aber es ist einfach so und ich weiß auch nicht genau, warum ich das in den Texten so oft aufgreife. Das ist ein Teil meiner Persönlichkeit, der wohl eher unbewußt ist. Ich betrachte die Welt und das Geschehen um mich sehr kritisch und ich bin sicher, es gibt Parallelen dazu, zu sich selbst ehrlich zu sein und in der Lage zu sein, das, was in der Welt vor sich geht, wirklich wahrzunehmen. Und damit zurechtzukommen. Ich denke, die Strategie der meisten Leute, das zu bewältigen, ist es, sich abzuschotten und abzuschalten, alle geistigen und emotionalen Aspekte auszublenden, die da unangenehm berührt werden. Das mache ich nicht, ich stelle mich dem. Ich setze mich lieber mit Problemen auseinander, als sie zu ignorieren. Denn jedesmal, wenn ich etwas ignoriert habe, traf es mich in der Regel später umso härter. Daraus resultiert vielleicht die moderne Midlife-Crisis, die so viel Leute trifft (lacht): alles ignorieren. Ich versuche, die Quelle eines Konfliktes auszumachen und dorthin vorzustoßen, um da durch zu kommen. Und das versuche ich lieber gleich und sofort, als es vor mir herzuschieben.

Ein zweites Motiv, das immer wieder auftaucht ist die Stille. Ist Stille wichtig für Dich? Ist sie es, die Dir überhaupt den Raum gibt, über Dich selbst nachzudenken und Dich ganz offen Deiner Persönlichkeit mit alle ihren Stärken und Schwächen, Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten zu stellen?

Ja. Ich denke, daß Reden absolut überbewertet wird, insbesondere bei sehr engen Beziehungen. Meine mir wertvollsten Freundschaften sind die, bei denen ich einfach mit jemandem zusammensein kann, ohne viel zu sagen. Da ist dieses tiefe Verständnis und Verstehen, für das man nicht die ganze Zeit reden muß. Ich denke, manche Leute verwechseln eine intime Form der Kommunikation mit dem üblichen Sozialverhalten bei einer Party oder dergleichen, bei der man sich ständig mit anderen unterhalten muß. Das ist wohl auch ein Thema: es ist OK, einfach zu sein, statt ständig zu versuchen etwas Bestimmtes darzustellen. Ich fühle mich überfordert, wenn jemand der Meinung ist, ich müsse mich die ganze Zeit mit ihm unterhalten, denn ich halte das für unnötig. Mancher mag das sicher auch für Desinteresse an seiner Person halten, aber, nun, ich denke, wir alle suchen uns für unser Umfeld Menschen, die uns ähnlich sind.

Die letzte Frage zu den Texten: wenn man sich einen Text durchliest, dessen Protagonist in der Ich-Perspektive spricht, macht man sich unweigerlich ein Bild dieser Person. Du bist erst 21, doch wenn ich mir Deinen Song `Greyhaven` durchlese, sehe ich einen weit älteren Menschen vor mir…

Aha. Hm. Das ist interessant mit diesem Song. `Greyhaven` ist so etwas wie ein kleines Konzeptwerk in sich selbt. Viele Leute sprechen sehr stark auf ihn an, obwohl er musikalisch fast an Minimalismus grenzt. Er sorgt für eine Pause im Album und unterscheidet sich in vieler Hinsicht sehr vom Rest, paßt allerdings perfekt in die Reihe der letzten drei Songs. Es ist ein Versuch, eine Art persönliche Raststätte zu schaffen, einen Platz, an den man sich einfach von allem zurückziehen kann, an dem man komplett mit sich selbst zufrieden ist, zufrieden damit, allein zu sein. Innerhalb dieser wenigen Minuten auf der CD geschieht das. Dieser Song hält irgendwie das Ganze zusammen, all die Themen, mit denen wir uns über das Album hinweg beschäftigt haben. Er öffnet offensichtlich vielen die Augen, wenn man sich die Reaktionen all der Leute speziell auf diesen Song anschaut.

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