Bereits über zwölf Alben hinweg arbeitet der Ungar Tamás Kátai mit THY CATAFALQUE an seiner eigenen Version des Avantgarde-Metal: ein Sound, der so kunterbunt und vielfältig an Einflüssen ist, dass der Begriff „aberwitzig“ fast verniedlichend wirkt. Auch das vorliegende Werk, sein bisher rundestes, ist dabei keine Ausnahme. Was kommt da alles zusammen: Black Metal, Prog, osteuropäische Folklore, Rummelmusik, Alternative, elektronische Klänge – und dann noch eine Oboe, Violine, Cello oder dezent Angejazztes. Klingt anstrengend? Ist es nicht. Denn was der Ungar mit zahlreichen Gastmusikern in Szene setzt – allein 26 zusätzliche Personen sind im aktuellen Bootleg aufgeführt – ist großes Entertainment.
Das liegt vor allem an Kátais feinem Gespür für eingängige, supercatchy Songs und prägnante Riffs. Weiter in den Superlativen: An 19 verschiedenen Orten hat der Weltenbummler sein Album geschrieben bzw. von Gastmusikern aufnehmen lassen – darunter Thessaloniki, Madrid, Los Angeles, Bogotá, São Paulo und natürlich in seiner Heimatstadt Makó. Diese kleine Stadt, deren Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert reichen, ist ein Zentrum ungarischer und jüdischer Kultur, wo sich die Geschichte vieler Jahrhunderte spiegelt. Bekannt ist sie für ihren Zwiebelanbau im warmen Klima – und wie die Schichten einer Zwiebel offenbart auch dieses Album eine Vielfalt an kulturellen Einflüssen und Epochen.
Trotz einiger harscher Passagen ist es keine hoffnungslose Platte. „Der Albumtitel bedeutet: ‚Die schönen Träume kommen noch‘. Trotz aller Verzweiflung und Enttäuschung gibt es also immer noch Hoffnung auf eine Zukunft, die wärmere Tage beinhalten könnte, wenn sich die Dunkelheit verflüchtigt hat“, erklärt Mastermind Kátai.
THY CATAFALQUE tanzen durch viele Schubladen gleichzeitig
Bereits der Einstieg mit „Piros Kocsi, Fekete Éj“ (Rotes Kutschrad, Schwarze Nacht) zieht den Hörer in den Bann. Ein verspieltes Gitarrenriff pendelt zwischen Folk und Gothic Metal, erinnert ein wenig an PRIMORDIAL, bevor hochmelodische Frauenchöre einsetzen. Männlicher Klargesang übernimmt (Attila Bakos), auch er kann überzeugen. Der Refrain ist supereingängig, die Produktion klar, fett und wuchtig. Folk-Metal-Hit? Na aber hallo!
Der mehrstimmige Frauengesang zieht sich wie ein roter Faden durchs Album. Kitschig? Fehlanzeige. Das liegt auch daran, dass Kátai die ungarische und slawische Folklore genau kennt. Tief verwurzelt in der Musik der Türken, Slawen und Roma, geprägt von rhythmischen Wechseln, modalen Tonarten und der typischen Pentatonik, spiegeln die Melodien die melancholische Härte des Lebens wider – aber auch die überschäumende Freude, die man auf Festen erlebt. Die Chöre singen kunstvoll und präzise, wie es in der ungarischen und slawischen Folklore tradiert ist – oft mündlich überliefert, von Generation zu Generation weitergegeben, und dabei stets eng mit Tanz und Ritualen verbunden.
Dass Kátai es auch anders kann, beweist er mit dem brachialen „Mindenevö“ (Allesfresser): ein massiver Black-Metal-Track, der einen der besten Breakdown-Momente des Jahres liefert und trotzdem verspielte Keyboards einbaut. Besonders phänomenal ist der Übergang, nach einem sakralen Choral und einem kurzen proggigen Zwischenspiel übernehmen die Gitarren wieder in berserkender Zerstörungswut. Allein dieser Song bietet mehr Ideen, als andere Bands auf einem ganzen Album und bleibt dennoch strukturiert. In dieselbe Richtung geht das pechschwarze „Vasgyár“ (Eisenwerk), wo die Gitarren zwischen Thrash und Melodeath rasen. Beide Songs glänzen durch kraftvolles, tiefes Gekeife von Gastshouter Bálint Bokodi, das perfekt passt.
Doch das Album wird nicht schwächer – im Gegenteil. Mit jedem Song entfalten sich neue Facetten. „Világnak Világa“ kombiniert harschen Black Metal mit einem völlig eingängigen Chorus, verspielten Keyboardpassagen und virtuosen Soli. „Nyárfa, Nyírfa“ hingegen präsentiert sich als hochmelodischer Folkrock mit einer melancholischen Schlagseite und -festhalten!- Saxophonsolo.
Und dann gibt es noch „Vakond“ (Maulwurf), ein fast unverschämt fröhliches Instrumentalstück, das Folk mit wabernden Synthies, arabischen und griechischen Saiteninstrumenten (Oud, Bouzouki) und pfeifenartigen Tönen verbindet und einfach nur Spaß macht. Im Mittelteil des Albums nimmt der Folk eine immer größere Rolle ein, was der Melodik und Catchyness zugute kommt. Stilistisch ist das kaum einzuordnen: THY CATAFALQUE tanzen und schweben durch viele Schubladen – oft gleichzeitig. Gespenstisch gut!
Das siebeneinhalbminütige Epos „Ködkiraly“ beginnt mit atmosphärischen Synths und einer betörenden, melancholischen Frauenstimme. Fast tranceartig entfaltet der Song zunächst eine ruhige, fast feierliche herbstliche Stimmung. „November, November/ Die Dunkelheit des menschlichen Weges/ Unter einem sinkenden Mond/ Atmen rostende Geheimnisse“, singt die Gastsängerin Ivett Dudás, das Cello wird von der Londoner Virtuosin Jo Quail gespielt. Doch auch dieser Song kippt zur Mitte hin, schwere Gitarren sind zu hören, ein Männerchor. „Angst ist ein Zahnschmelz, aber sie tut nicht weh/ Über den Bäumen, unter dem Hügel/ Gehst du umher, König des Nebels, und du wirst mich finden“. Stimmungsvoll kippt die Melancholie in eine düstere, bedrohliche Atmosphäre.
Zwei echte Hits zum Schluss
Aber die größten Hits hat sich Kátai für den Schluss aufgespart. Was bitte ist „A Gyönyörü Álmok Ezután Jönnek“ (Die Wunderschönen Träume Kommen Danach) für ein perfekter Alternative-Metal-Brecher? Eine elf von zehn auf der Ohrwurm-Skala. Der sollte jede Tanzfläche in Metaldiskotheken zwischen Buxtehude und Tüßling – sofern es diese noch gibt – in einen Dampfkessel verwandeln. Im dazugehörigen Musikvideo sehen wir ihn joggen: das passt perfekt. Am Mikro ist, wie bei drei weiteren Songs, Gábor Dudás mit seinem Klargesang in mittlerer Stimmlage zu hören.
Dass sich eine Übersetzung der ungarischen Lyrics durchaus lohnt, zeigt exemplarisch ebenfalls der Titelsong. Zugegeben, für die erste Übertragung musste ich auf KI zugreifen (nein, ich bin des Ungarischen nicht mächtig), um den Text anschließend noch etwas zu verfeinern:
Dieser Brunnen, siehst du, versiegt,
Dieser Wald wird morgen niederfallen.
Die fruchtlose Dummheit wird alles zerstören,
Wo bist du hin, wo sind wir hingegangen?
Es gibt nichts mehr zu suchen, meine Liebe,
Bitteres Wasser gärt im Mund.
Die Welt ist in Dunkelheit gehüllt,
Doch der Morgen wird kommen –
Die Unendlichkeit, das Unmögliche,
Die wunderschönen Träume kommen jetzt.
Komm, komm, komm, Liebe, Glanz!
Komm, komm, komm, Frühlingsschimmer!
Komm, komm, komm, tosende Gewitter!
Was neu ist, was frisch, erblühe im Licht.
Wenn nichts mehr zu suchen bleibt, und
Bitterkeit den Boden ergreift,
Dann gehe ich, ich gehe von hier,
Ich werde gehen, wenn du es willst.
Der Morgen bricht an. Der Morgen kommt,
Die Unendlichkeit, das Unmögliche,
Die wunderschönen Träume kommen jetzt.
Und dann gibt es noch das abschließende „Babylon“ als Bonustrack, das in seiner Melodik an die mittlere Phase von BLIND GUARDIAN erinnert. Es ist – kein Witz! – ein Cover der ungarischen Rockband OMEGA, von denen sich bereits die SCORPIONS ihre „Ein bisschen Frieden“-Schunkelnummer „White Dove“ entlehnt haben. Doch hier übersetzt Kátai die Vorlage in eine eigenständige Nummer zwischen Folk, Speed- und Power Metal.
Wer jetzt denkt, ob der vielen Einflüsse wirke das alles zerstückelt und ergebe keinen Sinn: mitnichten. Kátai ist ein Bandleader, Chorleiter und Orchesterdirigent, der das alles meisterhaft zusammenhält. Ich höre das Album oft im Homeoffice, weil die Melodien eine leicht euphorische Stimmung erzeugen und sich fluffig ins Ohr schmiegen.
Veröffentlichungstermin: 15. November 2024
Spielzeit: 52:41
Line-Up:
Tamás Kátai – guitar, bass, vocals, keyboards, programs
Martina Veronika Horváth – vocals in track 1, 6
Ivett Dudás – vocals in track 8
Helga Kreiter – vocals in track 4, 10
Gábor Dudás – vocals in track 2, 5, 6, 10
Bálint Bokodi – vocals in track 2, 4, 9
Gábor Veres – vocals in track 3, 8
Attila Bakos – vocals in track 1
Zoltán Kónya – vocals in track 3
András Vörös – vocals in track 4
Breno Machado – lead guitar in track 2
Zoltán Vigh – lead guitar in track 3
Krisztián Varga – lead guitar in track 4
Daniele Belli – acoustic guitar in track 2
Miguel Velasquez Matija – fretless bass in track 2, 6
Edu Giró – oud, bouzouki, baglama in track 2,7
Grigoris Mitropoulos – bouzouki, mpaglamas in track 7
Sanja Smileska – violin in track 3
Jo Quail – electric cello in track 8
Issar Shulman – contrabass in track 2
Cal Rustad – French horn in track 2, 8
Manuel Domenech – cor anglais in track 8
Khachatrian Lernik – clarinet in track 2
Gergő Bille – flugelhorn, trumpet in track 7
Joakim Toftgaard – trombone, trumpet in track 7
Fabian Hernandez – saxophone in track 5
Viktória Varga – narration in track 3
Annamari Sánta – narration in track 7. 8
Bandcamp: https://thycatafalqueuk.bandcamp.com/album/xii-a-gy-ny-r-lmok-ezut-n-j-nnek
XII: A Gyönyörű Álmok Ezután Jönnek Tracklist:
01. Piros Kocsi, Fekete Éj (Video bei Youtube)
02. Mindenevö
03. Vasgyár
04. Világnak Világa
05. Nyárfa, Nyírfa
06. Lydiához
07. Vakond
08. Ködkiraly
09. Aláhullás
10. A Gyönyörü Álmok Ezután Jönnek (Video bei Youtube)
11. Babylon (Audio bei Youtube)
Label: Seasons of Mist