TOT: Lieder vom Glück

TOT hauen mit “Lieder vom Glück” ein beeindruckendes und ungewöhnliches gutes altes Deutschpunk-Album raus und damit alles tot.

Unsere “beste aller Welten” hat sich sicherlich schon immer durch allerlei Absurditäten und Grausamkeiten ausgezeichnet, aber dieser Tage begegnen sie uns dann doch nochmal verstärkt, habe ich das Gefühl: Der Führer der freien Welt, ein von Menschen gewählter grenzdebiler Immobilienunternehmer, verhält sich seit Jahren wie ein narzisstisch gekränktes Rotzblag und trifft Entscheidungen, die mindestens 1000 Terroristen freisetzen und einen durch deutsche Waffen und deutsche bzw. europäische Außenpolitik unterstützten Angriffskrieg eines despotischen Regimes gegen eine kleine demokratisch organisierte Enklave ermöglichen. Daneben die Brexit-Posse und die ganzen blutigen und brutalen kleinen und großen Konflikte in der Welt, man kriegt ja gar nicht alles mit, man bekommt mit, was für “uns” wichtig ist, und das ist: Macht- und Grenzsicherung, Sicherung “unseres” Lebensstils, und dazu gehören eben auch Kriege und Umweltzerstörung. Dass nebenbei die Welt droht unterzugehen, weil dieser Lebensstil auf Klimakatastrophe und Ausbeutung beruht, interessiert deutsche und andere Politiker nur solange, wie ihr wirtschaftlicher Erfolg in der Welt damit einher geht, denn die gar nicht zufällig an Krebs erinnernde Legende von der Notwendigkeit unendlichen Wirtschaftswachstums gilt in dieser Welt längst als Wahrheit. In Ecuador kann man zur Zeit beobachten, was passiert, wenn sich die Bevölkerung diesen Wahnsinn nicht mehr gefallen lässt: Sie wird niedergeknüppelt.

Aber bleiben wir bei uns, hier geht’s ja gleich um Deutschpunk: rechtsextremer Terror in Deutschland, absolute Mehrheit für klerikale Rechtsextreme im Nachbarland Polen – und hierzulande die mittlerweile ebenfalls von Neonazis übernommene AfD weiter auf dem Vormarsch, vorwiegend im Osten überwiegend gewählt von Menschen, die von Wahlsiegen dieser Partei nur Schaden haben werden. Man feiert trotzdem dreißig Jahre “Wende” und “Einheit”, egal, Nation ist halt wichtig! Daneben eine Fernsehindustrie, die jeden Menschen mit einigermaßen gutem Geschmack und etwas Hirn längst in die Fänge der Streaming-Multis oder in die Illegalität getrieben hat. Dort kann man sich das Desaster “Freier Westen” dann künstlerisch wertvoll aufbereitet anschauen und davon süchtig werden. (Also, wenn man’s noch schafft: Neulich hab ich einen Artikel gelesen über eine Frau, die jeden Tag nach der Arbeit “Friends” schaut, weil sie für andere Dinge keine Kraft mehr hat und es sich anfühlt, als würde man echte Freunde zu Besuch haben.)

TOT sind deine Freunde

Gute Zeiten für gute Musik also. Wo der Wahnsinn regiert, die Dystopie lebt, das Elend Konjunktur hat, da frohlocken skrupellose Künstlerinnen und Künstler und hauen ein davon inspiriertes Meisterwerk nach dem andern raus. Nicht nur im Dunkelfeld des Untergrund-Metals allerdings, auch im Punk und Hardcore blüht die dieser Welt den ein oder anderen Mittelfinger entgegen streckende Kultur auf.

TOT aus Ostfriesland hauen dieser Tage über das Dortmunder Label “Spastic Fantastic” ihr Debütalbum raus und damit alles tot. Es ist, machen wir’s kurz, ein einziger gellender Aufschrei gegen alles, was stört: Lohnarbeit, Vermieter, psychische Probleme, Krieg, Klimakatastrophe, gute Miene zum bösen Plastik-Spiel usw. Es gibt da eine Gemeinsamkeit, und die kennen TOT: All das kommt aus dieser, unserer Welt, der “besten aller Welten”, so die Propaganda, und TOT wissen auch: Fickt euch, das ist sie verdammt nochmal nicht, das muss nicht sein, das ist ein Scheißdreck, wir wollen was anderes!

Guter alter Deutschpunk

Das Kunststück ist, dass TOT musikalisch auf Surf-Gitarren und guten alten Deutschpunk setzen – hier sind die 80er am Werk, und das nicht zu knapp. Live hab ich sie vor ein paar Monaten noch auf dem Spastic-Fantastic-Fest gesehen, da fand ich’s irgendwie zu eintönig, aber die Platte hat mich direkt. Ob’s an der Weltlage liegt, an der furztrockenen Baller- und Schepper-Produktion, an den Texten, am richtigen Zeitpunkt (hab echt zuviel romantische Musik gehört in letzter Zeit!), an der stimmigen Konzeption? Alles zusammen, klar. Die Platte funktioniert einfach: Es wird nicht durchgehend geballert und gesurft, mal nimmt man das Tempo raus, und es gibt Krautrock zum Rackelhahn (genial!!), schon wird’s trotz aller Stumpfheit nicht langweilig. Referenzen gefällig? RAZZIA ficken die DEAD KENNEDYS, und TON STEINE SCHERBEN gucken zu.

“Lieder vom Glück” als destruktive Ansage an wahnsinnige Zeiten

Der Titel ist auch genial: “Lieder vom Glück”, Mann, da weißt du gleich, was dich erwartet: Glück, das zentrale Narrativ dieser von Gier, Korruption und Depression zerfressenen Gesellschaft, das bürgerliche Glücksversprechen, was könnte passender sein als Titel für ein Album, das genau diese Drecksideologie mal so richtig kaputt kloppen will? Ich liebe Titel mit doppeltem Boden, denn natürlich entsteht bei Menschen, denen Dissidenz nicht ganz fremd ist, durch genau solche Werke dann tatsächlich ein Glücksgefühl, ein Gefühl des Verstandenwerdens; das Perfide an der bürgerlichen Gesellschaft ist, dass sie uns das dann als Identitätsangebot vorsetzt (in der freien Welt kann eben jede alles sein, auch Rebellin!), und es liegt an uns, da nicht blind zuzugreifen, sondern vielleicht mal genauer hinzuschauen: Bleibt es beim rebellischen Gestus oder bilde ich mich fort und versuche evtl. sogar andere von meiner Kritik zu überzeugen?

Freilich, keine Musik machen ist auch keine Lösung, genau wie kein Alkohol, kein Sport, kein Kino, kein… ach, was weiß ich denn, was euch so alles Spaß macht. Vergesst den Spaß nicht, sonst gibt’s Depression, und mit Depression kann man die Weltlage ja gar nicht mehr studieren, die einen mal so depressiv gemacht hat (s.o.)! Und wenn man das nicht getan hat, weiß man auch nicht, was man meint, wenn man den Refrain des Top-Liedes vom Glück beim nächsten TOT-Konzert der Band und der Welt ins Gesicht schreit:

DAS
IST EUER PARADIES!

Spielzeit: 32:57 Min.
Veröffentlichung am 8.11.2019 auf Spastic Fantastic Records
Das Album auf Bandcamp

TOT – “Lieder vom Glück” – Tracklist

1. Zwangfaktor
2. Kündigung
3. Alarm
4. Plastik
5. Mehr
6. Die nächste Sitzung schwänze ich.
7. Paradies
8. Die Natur kann grausam sein, aber auch schön.
9. Psychosomatisch
10. Panikland

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