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IGORRR, AMENRA, DER WEG EINER FREIHEIT, HANGMAN’S CHAIR: Konzertbericht – Backstage Werk, München – 26.03.2023

Es ist ein ungewöhnlicher Zusammenschluss, der am Ende doch irgendwie Sinn ergibt: Auf ihrer Headliner-Tour bringen IGORRR nicht nur ihr wunderbar durchgeknallt-kreatives Songmaterial mit, sondern mit AMENRA, DER WEG EINER FREIHEIT und HANGMAN’S CHAIR darüber hinaus ein überaus hochklassiges Vorprogramm.

In vielerlei Hinsicht kann man wohl von einer kuriosen Allianz sprechen, die sich unter dem Banner der „Distortion“-Tour zusammengefunden hat. Unter der Führung des anarchischen Crossover-Projekts IGORRR bieten AMENRA, DER WEG EINER FREIHEIT und HANGMAN’S CHAIR jeden Abend auf neue Einblicke in komplett verschiedene Soundlandschaften. Funktionieren kann ein solch diverses Package wahrscheinlich nur, weil der Headliner selbst von vornherein jegliche Grenzen sprengt. Und das zeigt sich auch am Publikum im Münchner Backstage, das so bunt durchgemischt ist wie selten. Alle haben ihre eigenen Favoriten und Gründe an diesem Sonntagabend hier zu sein, doch gleichzeitig ist man überwiegend auch offen und vor allem gespannt, was der Programmablauf darüber hinaus zu bieten hat.


HANGMAN’S CHAIR

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Den Auftakt jedenfalls gestalten um kurz vor sieben HANGMAN’S CHAIR, die mit ihrem teils entrückten Doom Metal bereits im Herbst letzten Jahres in München zu Gast waren. Groß an den Stellschrauben gedreht haben die Franzosen seitdem jedenfalls nicht: Die Setlist ist bis auf einen Song nahezu identisch, die Lichtshow mit seinen tiefen Blautönen gleichwohl melancholisch und das Stageacting ebenso minimalistisch wie seinerzeit im Vorprogramm von PARADISE LOST. Das muss nicht unbedingt negativ sein – HANGMAN’S CHAIR wissen um ihre Stärken und platzieren Aktivposten Julien Chanut klugerweise in der Mitte der Bühne.

Auf diese Weise kann sich sein Kollege Cédric Toufouti am rechten Rand voll und ganz auf den Gesang konzentrieren, der mit viel Hall angereichert den depressiv-melancholischen Anstrich des Songmaterials hervorhebt. Leider aber ist der Sound im Backstage zu Beginn etwas matschig und das im Innenbereich etwas spärlich verteilte Publikum noch nicht ganz angekommen, weshalb die vier Musiker das Eis zwischen sich und der Zuschauerschaft nur schwer brechen können. Immerhin mehren sich bei Songs wie „Cold & Distant“ oder „Who Wants To Die Old“ die Zahl derjenigen, die sich entspannt mitnickend doch vom bedrückenden Vibe der Band gefangen nehmen lassen.

Mit “Naïve” spielen HANGMAN’S CHAIR zum Ende ihre Stärken aus

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Aus dieser Art Trance herausgerissen werden wir im weiteren Verlauf nur kurzzeitig, als der Bass in „Loner“ für einige Momente unangenehm laut übersteuert. Dafür holen uns HANGMAN’S CHAIR zum Ende des nahezu wortlosen Auftritts mit dem bewährten „Naïve“ schnell wieder ins Boot – schade, dass ansonsten die allgemeine Resonanz im Werk zwar höflich, aber dennoch leicht unterkühlt ausfällt.

HANGMAN’S CHAIR Setlist – ca. 35 Minuten

1. An Ode To Breakdown
2. Cold And Distant
3. Who Wants To Die Old?
4. Loner
5. Sleep Juice
6. Naïve

Fotogalerie: HANGMAN’S CHAIR


DER WEG EINER FREIHEIT

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Eine Viertelstunde später wird es zwar nicht direkt finster im Backstage, aber dafür ganz schön diesig. Zeitweise ist die Bühne sogar in derart dichten Nebel gehüllt, dass wir das Drumkit im Hintergrund nur erahnen können. Atmosphärisch passt der Rahmen jedenfalls, als DER WEG EINER FREIHEIT mit „Morgen“ recht unvermittelt loslegen. Dem ordentlich abgemischten Sound sowie dem präzisen Spiel ist es zu verdanken, dass der Post Black Metal des Quartetts bald die erwarteten Energien freisetzt, auch wenn diese nicht sofort zu beobachten sind: Allzu viel Bewegung herrscht vor der Bühne noch nicht, mit lautem Beifall werden die ausladenden Songs dennoch quittiert.

Frontmann Nikita Kamprad wendet sich zwischendurch immer wieder in seiner ruhigen wie bescheidenen Art ans Publikum, erklärt die Abwesenheit Nico Rauschs und stellt im gleichen Atemzug Ersatz und Live-Debütant Alan an der Gitarre vor. Dass DER WEG EINER FREIHEIT im Gegensatz zu ihren intensiven und potenziell überwältigenden Songs auf Anhieb so nahbar wirken, sorgt für Sympathiepunkte. Wobei die Band ihren Songs durch Breaks und ruhige Passagen auch Raum zur Entfaltung gibt. Der zurückgenommene Auftakt von „Repulsion“ lädt mit seinem zaghaftem Klargesang zum Dahinschwelgen ein, bevor das furiose „Am Rande der Dunkelheit“ zum Ende hin wenigstens etwas Tempo rausnimmt, um die Klangdecke aufzubrechen.

Selbst als Support können DER WEG EINER FREIHEIT auf eine treue Fangemeinde zählen

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Als der Auftritt mit dem packenden „Aufbruch“ nach fünf Songs und rund 40 Minuten auf ein dramatisches Finale zusteuert, hält sich die Bewegungsfreude der Münchner:innen zwar immer noch in Grenzen, angekommen scheint die Botschaft dennoch: Jubel und überschwänglicher Applaus legen nahe, wie sehr manch einer auf die Show der Würzburger hin gefiebert hat. Die Erwartungen der Fans jedenfalls haben DER WEG EINER FREIHEIT offenbar mit Leichtigkeit erfüllt.

DER WEG EINER FREIHEIT Setlist – ca. 40 Minuten

1. Morgen
2. Repulsion
3. Am Rande der Dunkelheit
4. Einkehr
5. Aufbruch

Fotogalerie: DER WEG EINER FREIHEIT


AMENRA

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AMENRA live zu erleben ist eine ganz besondere Erfahrung – das wissen die treuen Anhänger:innen der Band natürlich längst. Alle anderen bekommen das heute Abend am eigenen Leib zu spüren: Schnell wird es still im Werk, als die Belgier die Bretter betreten und zum kathartischen Rundumschlag ausholen. Der Mix aus sludgigen Post-Metal-Riffs, eruptiven Screams und zerbrechlichen, ganz leisen Momenten entfaltet binnen Minuten einen Sog, dem sich die Münchner:innen kaum entziehen können.

Selbst in den ruhigen Parts ist in der gut gefüllten Halle anfangs nur vereinzelt und leise aus den hinteren Ecken das Gemurmel an der Bar zu vernehmen: Die Aufmerksamkeit gilt ganz offenbar dem Quintett um Sänger Colin H. Van Eeckhout, welchen den größten Teil des Abends mit dem Rücken zum Publikum bestreitet. Wenn er sich in den dramatischen Spitzen von Tracks wie „Razoreater“ oder „De Evenmens“ – im Übrigen das einzige Stück des aktuellen Werks „De Doorn“ (2021) – doch mal den Zuschauern zuwendet, wirkt das dafür umso eindringlicher. Als hätten seine nachfolgenden Zeilen besonderes Gewicht.

AMENRAs Bühnenperformance hinterlässt bleibenden Eindruck

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Überhaupt dürfen wir davon ausgehen, dass nichts an dieser ergreifenden Darstellung dem Zufall entspringt: Nicht die dezenten Visuals, die der Performance aber kaum die Show stehlen. Nicht das systematische Ablegen der eigenen Kleidung: Mit jedem Song entledigt sich Van Eeckhout einer weiteren Schicht, bis der Frontmann schließlich mit entblößtem Oberkörper vor uns steht, als würde er mit jedem Stück Musik ein weiteres Merkmal seiner Persönlichkeit preisgeben.

Lange dauert es jedenfalls nicht, bis weite Teile der Anwesenden der Magie AMENRAs verfallen: Zwischen Wall of Sound und Groove wirkt das Backstage Werk während „Am Kreuz“ bisweilen wie in Trance, bevor wir uns in „A Solitary Reign“ von den leichtfüßigen Gitarren davontragen lassen. Dass Sänger Colin dabei tiefrotes Blut von der Stirn läuft – der Ursprung der Kopfwunde möglicherweise das eigene Mikrofon – ist vor diesem Hintergrund so befremdlich wie passend. Und doch ist die Vorstellung des Quintetts nicht jedermanns Sache, wie der zum Ende hin steigende Lautstärkepegel im hinteren Hallenbereich nahelegen lässt und so weiter vorne für etwas Frust sorgt. Nichtsdestotrotz will sich den Auftritt dadurch niemand vermiesen lassen: Entsprechend lange bejubeln die Münchner:innen nach dem abrupten Ende von „Diaken“ die Post-Metal-Veteranen: Eine solch packende Live-Performance sieht man hier nicht alle Tage.

AMENRA Setlist – ca. 55 Minuten

1. Razoreater
2. De Evenmens
3. Plus Près De Toi
4. Am Kreuz
5. A Solitary Reign
6. Diaken

Fotogalerie: AMENRA


IGORRR

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Und doch sind die meisten Besucher:innen heute Abend nicht eigens für die Belgier angereist, sondern den tatsächlichen Haupt-Act: IGORRR lassen uns aber erstmal eine halbe Stunde warten, bevor Mastermind Gautier Serre seinen Platz hinter dem aufwändig gestalteten DJ-Pult einnimmt und die gut gefüllte Halle auf eine rund 70-minütige Party einstimmt. Der Einstieg mit „Paranoid Bulldozer Italiano“ scheint gut gewählt, auch weil das wandelbare Stück die einzelnen Bandmitglieder jeweils in Szene zu setzen weiß, ohne das Energielevel zurückzufahren.

Das Treiben vor der Bühne ist bereits nach wenigen Sekunden verrückt anzusehen; eine Pause gönnt sich der Pit ausschließlich dann, wenn Serre zwischendurch das Tempo reduziert. Ansonsten schütteln motivierte Metalheads zum orientalisch angehauchten „Downgrade Desert“ die Haarpracht, bevor im tanzbaren „Camel Dancefloor“ das Taktgefühl der Münchner:innen anderweitig auf die Probe gestellt wird.

Sängerin Marthe Alexandres Hang zu Melodramatik passt perfekt zu IGORRRs Live-Show

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Ob nun allerdings Death-Growls und Blasts im Vordergrund stehen oder in „Nervous Waltz“ bzw. „Hollow Tree“ eher barocke Klänge und Operngesang, scheint einerlei. Was IGORRR auszeichnet, ist die Mischung, die man heute geradezu euphorisch aufnimmt. Das liegt auch an den hochmotivierten Musiker:innen selbst, die wie Sängerin Marthe Alexandre unablässig über die Bühne fegen. Mit ihrem Hang zu Melodramatik passt der Neuzugang ohnehin ausgezeichnet ins Bandgefüge, wenngleich ihr klarer und kraftvoller Mezzosopran für die wenigen durchgeknallten Passagen nicht immer perfekt geeignet scheint.

Bandkopf Gautier Serre selbst mag derweil zwar nicht in der vordersten Reihe zu finden sein, von seinem erhobenen Podest aus dirigiert er die Menge im Arenabereich dennoch mit Charme und ein wenig Witz: Für die letzten Töne des fantastischen „ieuD“ zückt der DJ beispielsweise kurzerhand eine Blockflöte, während er die Blastbeats von Drummer Sylvain Bouvier immer wieder mit Frank Mullens (ex-SUFFOCATION) klassischer Chop-Geste begleitet. Zumindest, wenn er nicht gerade selbst zur zweiten Gitarre greift, um seinen Kollegen Martyn Clément mit ein paar zusätzlichen Riffs zu unterstützen.

Mit Spielfreude und Kreativität reißen IGORRR das Münchner Publikum mit

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Bei so viel Spielfreude ist es letztendlich unausweichlich, dass sich die Energie im Backstage irgendwann entladen muss: Auf die Wall of Death zum Beginn von „Opus Brain“ folgt der größte Moshpit des Abends, bis Sängerin Marthe im feierlichen „Himalaya Massive Ritual“ noch einmal ihre Klasse unter Beweis stellen darf. Ziehen lassen will die bayerische Landeshauptstadt IGORRR nach dieser belebenden Vorstellung indes noch nicht. Daher trifft es sich ganz gut, dass die Franzosen ohnehin einen kleinen Zugabenblock vorbereitet haben, der uns mit dem beschwingten „Cheval“ erst zum Mitschunkeln animiert, bevor irgendwann mit der Single „Very Noise“ vom aktuellen Werk „Spirituality And Distortion“ (2020) doch das Ende dieses mitreißenden Auftritts erreicht ist.

Warum also ausgerechnet IGORRR an der Spitze dieses kunterbunten Line-ups stehen, erklärt der anschließende Blick durch die Halle. Verschwitzte, aber glückliche Gesichter, die nach der teils aggressiven und nicht immer leichten Kost im Vorprogramm genau diese durchgeknallte Ladung Energie gebraucht haben. Vielleicht liegt auch hier das Geheimnis dieser ungewöhnlichen Allianz versteckt: So verschieden man in der Grundausrichtung sein mag, am Ende ergänzen sich die Kontraste eben doch geradezu perfekt – und dazu gehören AMENRAs Drone-Ausflüge genauso wie Gautier Serres Blockflöte.

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IGORRR Setlist – ca. 70 Minuten

1. Intro / Paranoid Bulldozer Italiano
2. Spaghetti Forever
3. Hollow Tree
4. Nervous Waltz
5. Downgrade Desert
6. Camel Dancefloor
7. ieuD
8. Parpaing
9. Polyphonic Rust
10. Overweight Poesy
11. Viande
12. Opus Brain
13. Himalaya Massive Ritual
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14. Cheval
15. Apopathodiaphulatophobie / Robert
16. Very Noise

Fotogalerie: IGORRR

Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)

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