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THE OCEAN: Holocene

“Holocene” ist THE OCEAN durch und durch, wenngleich ein veränderter Songwriting-Ansatz das Kollektiv in einem neuen Kontext präsentiert. Das verlangt womöglich Zeit zur Annäherung, entlohnt aber mit einer Vielzahl an Details, die es zu entdecken gilt.

Als wir nach dem Trilogie-Abschluss „Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic“ (2020) davon sprachen, dass für THE OCEAN nun alles möglich sei, hatten wir vieles im Kopf, nicht aber eine Fortsetzung der Geschichte. Mit einer Art Addendum nimmt das Post-Metal-Kollektiv mit dem Holozän die jüngste Epoche unseres derzeitigen Zeitalters näher unter die Lupe: „Holocene“ ist aber beileibe kein einfaches Sequel, denn so ganz falsch lagen wir mit unserer Einschätzung nicht.

Tatsächlich bricht die Band um Mastermind Robin Staps ihre etablierten Strukturen ein Stück weit auf, indem eben der Strippenzieher die Fäden erstmals aus der Hand gibt. Anders als in der Vergangenheit ist das Songwriting-Fundament nicht die Gitarre: Die acht Stücke des nunmehr neunten Studioalbums fußen auf den Ideen Peter Voigtmanns, dessen Synth-Landschaften eine ganz eigene Atmosphäre mit sich bringen: „Holocene“ vertont seine zeitgenössischen Themen mit einer gewissen Portion Schwermut und latenter Resignation.

“Holocene” ist THE OCEAN durch und durch, wenngleich in einem neuen Kontext

Nicht dass wir oder die Musiker das Handtuch werfen wollen, aber ein wenig Ohnmacht schwingt immer mit, wenn THE OCEAN den gesellschaftlichen Herausforderungen von heute entgegensehen: Den zusehenden Verlust kritischer Auseinandersetzung und des konstruktiven Diskurses beklagt ein stoischer Loïc Rossetti in „Boreal“ auf fast mantra-artige Weise, während sich Synth-Teppich und Blechbläser im Hintergrund immer weiter auftürmen. Die einsetzende E-Gitarre im Finale schließlich unterstreicht die Botschaft, mit der sich der Sänger direkt an uns Hörer:innen wendet: Wir selbst haben es in der Hand, diese Entwicklung zu durchbrechen.

Ein Beispiel, das unmissverständlich belegt, wie viel der bandeigenen DNA trotz des neuen Ansatzes weiterhin im Schaffen des Sextetts steckt. Bereits im eröffnenden „Preboreal“ finden wir die wichtigsten Trademarks wieder: Das markante Schlagzeugspiel Paul Seidels, die unverkennbaren Gitarren-Arrangements, die klug eingebundenen Blechbläser – das alles ist THE OCEAN durch und durch, wenngleich in einem neuen Kontext. Denn obwohl „Holocene“ durchaus härtere Momente kennt und den massiven Post-Metal-Riffwänden wie im facettenreichen „Parabiosis“ nicht gänzlich abgeschworen hat, müssen wir dennoch erst einen neuen Zugang finden.

“Holocene” verlangt Zeit zur Annäherung, entlohnt die Ausdauer aber mit einer Vielzahl an Details, die es zu entdecken gilt

In der Tat lässt sich die Formation erstaunlich viel Zeit, die transparenten und dabei vielschichtigen Klanglandschaften zu erforschen. Dafür beschwören diese zumeist mit einem einleitenden Synth-Arrangement eine gewisse Grundstimmung herauf, welchen dann – wie beispielsweise im zurückgenommenen „Sea of Reeds“ – mittels Vibraphons, Horn und Trompete Leben eingehaucht wird. Das mag anfangs ungewohnt sein und etwas Zeit zur Annäherung verlangen, belohnt unsere Ausdauer letztendlich aber mit einer Vielzahl an Feinheiten, die es zu entdecken gilt.

Insbesondere deshalb vergessen wir schon bald, dass es eigentlich bis zum rund neunminütigen „Atlantic“ dauert, bis sich „Holocene“ zum ersten Mal in größerem Umfang klassischen Post-Metal-Vokabulars bedient. Fortgeführt wird diese Entwicklung durch die Laut-leise-Dynamik des folgenden „Subboreal“, wo harsche Vocals und Doublebass für ein eruptives Finale sorgen. Das Albumhighlight „Unconformities“ – kurioserweise nicht Teil der regulären Vinyl-Variante – schließlich entwickelt allein durch Karin Parks (ÅRABROT) fesselnde Gesangsleistung einen geradezu hypnotischen Sog, der in der zweiten Hälfte durch furioses Drumming, manische Snythesizer und einen giftigen Loic Rossetti regelrecht explodiert.

THE OCEAN wählen für “Holocene” ein offenes Ende

Dass THE OCEAN mit dem abschließenden „Subatlantic“ unter dem Gesichtspunkt des Klimawandels den Blick gen Zukunft richten, scheint für das Finale durchaus passend, ist doch unsere Geschichte zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht zu Ende erzählt – auch wenn wir als Menschheit unser Bestmöglichstes tun, in Windeseile zur letzten Seite zu blättern. Dort erzählt uns Rossetti jedenfalls von einer „neuen Kolonie“, einem neuen Zuhause, nachdem man das Alte offenbar heruntergewirtschaftet hatte. Doch statt SciFi-Utopie wirken die letzten Töne „Holocenes“ fast schon deprimierend:

“Cities of sand
Under glass
This is our new civilisation
And the sun always shines
Bright“

Als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der neuen Heimat das gleiche Schicksal ereilt. Ein Hauch von Percy B. Shellys Gedicht „Ozymandias“ [Link zu Wikipedia] vielleicht? Ein Fingerzeig, dass unser Hochmut uns letztlich kaum vor der Vergänglichkeit bewahrt? Dafür spricht die Schwermut des kurzen Ambient-Outros, wo Blechinstrumente und Synthesizer den vermeintlichen Triumph aushöhlen. Mit einem offenen Ende wählen THE OCEAN jedenfalls nicht nur konzeptionell die sinnvolle Lösung, sondern bringen sich mit Blick auf die Zukunft abermals in die bestmögliche Position, indem der Formation trotz veränderter Schwerpunktsetzung erneut alle Türen offenstehen.

Veröffentlichungstermin: 19.05.2023

Spielzeit: 52:44

Line-Up

Loïc Rossetti – vocals
Robin Staps – guitar, programming, backing vocals, arranging
David Ramis Åhfeldt – guitar
Peter Voigtmann – synths, percussion, arranging
Mattias Hägerstrand – bass
Paul Seidel – drums, backing vocals, vibraphone

Produziert von Daniel Lidén

Label: Pelagic Records

Homepage: https://www.theoceancollective.com/
Facebook: https://www.facebook.com/theoceancollective

THE OCEAN “Holocene” Tracklist

  1. Preboreal (Visualizer bei YouTube)
  2. Boreal
  3. Sea Of Reeds (Visualizer bei YouTube)
  4. Atlantic
  5. Subboreal
  6. Unconformities
  7. Parabiosis (Video bei YouTube)
  8. Subatlantic (Video bei YouTube)
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