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SLEEP TOKEN, HEALTH: Konzertbericht – Zenith, München – 05.12.2023

Vom Anheizer zum Publikumsmagnet in weniger als zwölf Monaten: SLEEP TOKEN sind im modernen Metal mit ihrem eigenwilligen Stilmix sicherlich die Band der Stunde. Zum Tour-Auftakt in München präsentieren die Briten nun vor ausverkauftem Haus ihre neue Bühnenshow.

Die Story schreibt sich eigentlich von alleine: Noch Im Januar eröffneten SLEEP TOKEN an gleicher Stelle für die Modern-Metalcore-Vorreiter ARCHITECTS den Abend, nun stehen sie knapp elf Monate später selbst als Haupt-Act vor vollem Haus. Doch was war passiert, dass die Briten um den anonymen Frontmann Vessel plötzlich fast 6000 Fans ins Münchner Zenith locken? Die Antwort finden wir wie so oft dieser Tage auf Social Media: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort und schon hat selbst eine aufstrebende Band einen viralen TikTok-Hit in der Tasche. Dementsprechend bunt gemischt ist auch das Publikum, das zum Auftakt der restlos ausverkauften „German Headline Rituals“-Tour vor dem Wintereinbruch in die geräumige Werkshalle flüchtet.

Dort lässt man sich nicht einmal von den gesalzenen Merch-Preisen die Vorfreude vermiesen: Zwar vernehmen wir im Vorbeilaufen hier und da ein entgeistertes Stöhnen über die angesetzten 45,-€ pro Shirt, das Portemonnaie scheint heute angesichts der Menschentraube vor dem Verkaufsstand dennoch vielerorts locker zu sitzen. Nicht die günstigste Möglichkeit, sich neu einzukleiden, aber immerhin ein schickes Andenken an ein Event, das bereits im Vorfeld die Spekulationen anheizte: Welche Überraschungen werden SLEEP TOKEN in petto haben? Wirkt sich der Headliner-Status auch auf das bisherige Set-Design aus? Finden diesmal auch kleinere Raritäten den Weg ins Set?


HEALTH

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Allesamt Fragen, auf deren Antworten wir uns gedulden müssen. Denn auf der in dichten Nebel gehüllten Bühne erwarten uns zunächst die amerikanischen Experimental-Rocker HEALTH, deren Mix aus Alternative, Industrial und Electro bzw. Synthwave sowohl den heutigen Rahmen sprengt als auch irgendwie passend erscheint. Ähnlich wie SLEEP TOKEN legt das Trio nämlich großen Wert auf Atmosphäre: Bedrohlich wirkende Synthesizer kriechen nach vorne und werden zunächst von akzentuierten Drum-Patterns ausgeschmückt, bis dann ein stampfender bis treibender Beat den Weg nach vorne deutet.

Zwischen Dunst und blitzendem Scheinwerferlicht lassen sich die Silhouetten der drei Musiker anfangs bestenfalls erahnen, weshalb der helle und sanfte Klargesang Jake Duzsiks geradezu geisterhaft erscheint. Der eigenwillige Stilmix, den HEALTH auf diese Weise zelebrieren, pendelt zwischen rockig („The Message“) und tanzbar („Hateful“), wobei wir uns in den aufrüttelnden Synthwave-Soundscapes gerade im Live-Kontext und in Verbindung mit der rastlosen Lightshow schnell verlieren könnten.

Es dauert etwas, bis das Zenith den Genre-Cocktail HEALTHs zu schätzen lernt

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Aus der Trance reißt uns hingegen immer wieder der nicht ganz runde Soundmix, der immer dann etwas matschig wird, wenn die Gitarre wie in „Crack Metal“ mit satten Riffs das Ruder an sich reißt. Es bleibt glücklicherweise ein kleiner Makel in einem größtenteils kurzweiligen und gut ausdifferenzierten Set, das zwischen PERTURBATOR und PLACEBO teils recht unerwartete Assoziationen weckt. Den mutigen Genre-Cocktail scheinen in der Zwischenzeit auch die Münchner:innen zusehends zu schätzen lernen: Zwar erreicht das Treiben vor der Bühne nie das Energielevel auf den Brettern, wo Bassist John Famigletti hinter dem Sampler unentwegt das Haupthaar fliegen lässt. Mit jedem Stück wird der Applaus im mittlerweile durchaus gut gefüllten Zenith allerdings überschwänglicher, bis man sich im abschließenden „We Are Water“ doch in größerem Stil zum Mitklatschen animieren lässt.

Dass erst zum Ende der gut 40-minütigen Show das Eis endgültig gebrochen scheint, wird dem Auftritt HEALTHs eigentlich nicht gerecht. Als einziger Anheizer darf die Band dennoch mit breiter Brust nach Hause gehen: Immerhin ist die bayerische Landeshauptstadt nun definitiv auf Betriebstemperatur – und hat pünktlich zum bevorstehenden Release des Albums „Rat Wars“ den breitgefächerten Stilmix der Formation für sich entdeckt.

HEALTH Setlist – ca. 40 Min.

1. Victim
2. Men Today
3. Hateful
4. The Message
5. Unloved
6. Crack Metal
7. Strange Days (1999)
8. Stonefist
9. Major Crimes
10. Ashamed
11. DSM-V
12. Feel Nothing
13. We Are Water

Fotogalerie: HEALTH


SLEEP TOKEN

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Dass sich der Headliner anschließend über eine halbe Stunde Zeit lässt, scheint der Vorfreude im Zenith nicht das Geringste anzuhaben. Im Gegenteil, als endlich die Hintergrundmusik verklingt und die Lichter ausgehen, sind wir gleich doppelt froh über unseren Gehörschutz: Wildes, fast schon ekstatisches Kreischen nimmt Frontmann Vessel in Empfang, der für den solo vorgetragenen Einstieg des Openers „Chokehold“ schon jetzt auf die Unterstützung tausender Kehlen zählen kann. Gehören Euphorie und Textsicherheit sicherlich zu den Vorzügen einer komplett ergebenen Fanbasis, findet der Ausdruck dieser Leidenschaft in den Anfangsminuten jedoch hauptsächlich auf den mitgebrachten OLED-Displays statt.

Die Anzahl an gereckten Smartphones dürfte in die Hunderte gehen – ein Phänomen, das bis zum Ende der Show kaum abreißt und den erwarteten Nebeneffekt hat: Wer gerade im Regiestuhl seines persönlichen Konzertmitschnitts Platz nimmt, hat natürlich wenig Energie für anderes übrig. Das lässt die Stimmung in der Halle gerade während mancher Songs etwas apathisch wirken, insbesondere wenn SLEEP TOKEN mit tief gestimmten Gitarren die Metal-Einflüsse ihrer Stücke in den Vordergrund rücken. So muss Bassist III – auch heute in den markanten hochgezogenen Karo-Socken – vor dem Breakdown in „Granite“ mit geradezu energischen Gesten um einen Pit betteln, nachdem das heftige „Vore“ zu Beginn ebenfalls kaum Bewegung im Publikum ausgelöst hatte.

SLEEP TOKEN kämpfen wiederholt mit technischen Problemen

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Ein wenig verstehen können wir den Griff zum Handy ja: Visuell haben sich SLEEP TOKEN abseits der Maskierung einige neue Kniffe einfallen lassen. Schlagzeug und Background-Chor thronen nun zu beiden Seiten auf hohen Podesten und lenken so den Blick auf das beleuchtete Bandlogo im Hintergrund, das im Verlauf der Show in den verschiedensten Farben erstrahlt. Über den Köpfen und bis hinunter zur Rückwand verleihen zahlreiche LED-Röhren dem Bühnenbild darüber hinaus eine traumhafte bis andersweltliche Atmosphäre, mit deren Hilfe die Band im melancholischen „Rain“ sogar stimmungsvoll Regentropfen simuliert. Eine durchaus packende Kulisse, die aber – und das müssen wir fairerweise auch feststellen – im Verlauf der Show wenig Evolution zeigt.

Da SLEEP TOKEN ihrem Konzept getreu die Interaktion mit dem Publikum auf wenige Gesten beschränkt und sonst keinerlei Worte verliert, liegt es also vorwiegend am Songmaterial, die Spannungskurve aufrechtzuerhalten. Dass hierbei das aktuelle Durchbruchsalbum „Take Me Back To Eden“ (2023) im Fokus steht, ist wenig überraschend, zumal Hits wie das wandelbare „The Summoning“ dank härterer Ausbrüche auch live die Daumenschrauben anzuziehen vermögen. Dass gerade hier wie im 80er inspirierten „The Love You Want“ ein ohrenbetäubendes Rauschen die Soundkulisse stört, ist verdammt ärgerlich, wird von den eigenen Anhänger:innen aber sportlich aufgenommen, wie die zahllosen Herzgesten über den Köpfen der Menge belegen.

Zum Tourauftakt können SLEEP TOKEN auf eine hingebungsvolle Anhängerschaft zählen

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Schwerer wiegen da die beiden erzwungenen Pausen aufgrund eben dieser technischen Komplikationen: Jeweils rund fünf Minuten bleiben wir im Dunkeln, was dem ohnehin recht langsamen Set den Schwung nimmt. Aus dieser Position wieder durchzustarten ist gar nicht so einfach, vor allem da Frontmann Vessel im Anschluss für das reflektierte „Atlantic“ erstmal am Keyboard Platz nimmt, nur um dann mit dem nicht minder nachdenklichen „Nazareth“ das Zenith mittels Feuerzeuge und Smartphone-Leuchten erstrahlen zu lassen.

Es ist somit ein wahrer Glücksfall, dass SLEEP TOKEN eine derart hingebungsvolle Anhängerschaft vor sich wissen, die schon mit dem ersten subtilen Intro-Sample eines jeden Stücks in absolute Euphorie verfällt. Dabei wären die Briten auf derlei Vorschusslorbeeren nicht im geringsten angewiesen: Das variable Drumming IIs garniert dieser mit einem geschickt eingewobenen Solo in „The Summoning“, Giatrrist IV steuert neben einem gelegentlichen Solo auch harsche Backing Vocals bei und Kollege III am Bass agiert mit der exakt richtigen Dosis Exzentrik, um seinem anonymen Alter Ego trotzdem einen individuellen Charakter zu verleihen.

SLEEP TOKEN überraschen mit einer Live-Premiere

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Dass Bandkopf Vessels charismatische Singstimme darüber hinaus auch live durch Mark und Bein geht, versteht sich von selbst. So schultert der Frontmann die introspektiven Momente mit Emotion und Feingefühl, kann sich aber in den kraftvollen Momenten auch problemlos gegen die Rhythmussektion behaupten, nur um zwischendrin immer wieder zu einem völlig losgelösten, hypnotisch anmutenden Tänzchen anzusetzen.

Das alles gehört natürlich zum Konzept SLEEP TOKENs, das heute Abend erstmalig als Hauptattraktion im Arena-Format zu begutachten ist. Vielleicht schenkt das Kollektiv den Münchner:innen auch deshalb mit dem achtminütigen „Take Me Back To Eden“ die Live-Premiere des in Fan-Kreisen lange geforderten Stücks, das nun völlig zu Recht den Höhepunkt des Tourauftakts darstellt. Dass die Band im Anschluss für die Zugabe „The Offering“ noch einmal zurückkehrt, war natürlich von vornherein geplant, wäre angesichts der anhaltenden Begeisterungsstürme nach diesem Songdebüt allerdings ohnehin obligatorisch gewesen.

Auch als Headliner werden SLEEP TOKEN dem Social-Media-Hype gerecht

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In jedem Fall ist es aber ein würdiger Schlusspunkt für ein Konzert, das uns aufgrund seiner technischen Komplikationen und des zu display-affinen Publikums nie komplett aus der Realität entführen, doch allen Umständen zum Trotz dennoch dem neuen Status SLEEP TOKENs gerecht werden konnte. In elf Monaten vom Anheizer zum Publikumsmagnet ist schließlich eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht und vorerst zumindest auf ein Happy End zusteuert: Immerhin ist es schön zu sehen, dass die Briten dem Social-Media-Hype deutlich mehr entgegensetzen können als ein paar schicke Kostüme und mysteriöse Masken.

SLEEP TOKEN Setlist – ca. 105 Min.

1. Chokehold
2. Hypnosis
3. Vore
4. Dark Signs
5. Like That
6. Aqua Regia
7. Rain
8. The Summoning
9. Granite
10. The Love You Want
11. Atlantic
12. Nazareth
13. Alkaline
14. Ascensionism
15. Higher
16. Take Me Back To Eden
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17. The Offering

Fotogalerie: SLEEP TOKEN

Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)

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