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VICTORIAN HALLS: Charlatan

Wäre ich DJ, würde ich grinsend “Charlatan” auflegen und mir schon mal einen Zettel mit dem Bandnamen bereit legen. Die Leute werden wissen wollen, wer sie da zum Tanzen gebracht hat.

Es ist immer wieder toll, wenn man als Rezensent ein Original in den Händen halten darf. Im Falle von VICTORIAN HALLS´ “Charlatan” wäre alles andere aber auch ein besonders herber Verlust. Die grandiose, sich über vier Booklet-Seiten erstreckende Illustration von Chelsea Greene Lewyta ist ein echter Hingucker. Nach Aussage der Künstlerin dreht sich das Werk um die sieben Totsünden und den Verkauf der eigenen Seele. Wer etwas für Kunst übrig hat, sollte der Homepage der jungen Frau überhaupt mal einen Besuch abstatten. Soviel zur bildenden Kunst.  

Aus den Boxen tönt ein quietschbunter, detailverliebter Mix aus Pop, Electro, Punk- und Alternative-Rock. Der Debüt-Silberling des jungen Quartetts aus Chicago lässt schon alleine aufgrund seines durchgehend hohen Energielevels aufhorchen, vom exzellenten Songwriting ganz zu schweigen. Der Zuhörer wird von den ungeduldigen Protagonisten beherzt zum Tanz aufgefordert, fast schon gedrängt. VICTORIAN HALLS sind da so gnadenlos penetrant wie die Damen und Herren der GEZ. Besonders markant für den Sound der handwerklich versierten Band sind, neben der allgemeinen, über allem thronenden Theatralik, die treibenden Rhythmen, das atmosphärische Tastenspiel von Carlos Luna und die ebenso variable wie schrille Stimme von Sänger Sean Lenart. In der Bridge des mit fetten Electro-Beat-Parts versehenen Openers “Girls Kiss Girls” beweist man diesbezüglich mit der Textpassage “I could move better, oh, if you would drop that beat and had a different voice something that made you weep. I could move better, oh, I take my whiskey neat, I got a different voice, I got to make you weep” durchaus Humor. Man stelle sich mal vor, der Whiskey hätte bei MOTÖRHEAD-Lemmy auch so gewirkt.  

VICTORIAN HALLS haben reichlich Pop-Appeal, sind aber selbst in ihren ruhigsten Momenten noch viel zu exzentrisch, um sich als gesichtslose Hintergrundbeschallung zu eignen. Gut so, davon gibt es eh schon genug. Leider schwingen die Jungs auf  ihren durch die Bank mit guten Ideen und cleveren Arrangements vollgepackten Songs die Discokeule etwas zu oft. Das dachte ich zumindest, bevor “Charlatan” beharrlich meinen CD-Player besetzt und entsprechend viele Bonusmeilen gesammelt hat. Mittlerweile bin ich felsenfest davon überzeugt, dass auf diesem Grower alles genau so sein muss. Zumindest fast alles. Mit “Upper East Side” hat man auch einen Füller im Gepäck, der den Fluss des Gesamtwerks kurzzeitig zum Stocken bringt. Der Song verlässt sich einfach zu sehr auf die Beatschiene und gerät dadurch zu eindimensional, um mit seinen elf dynamisch aufspielenden Freunden mithalten zu können.

Auf dem erstklassig produzierten “Charlatan” ist es VICTORIAN HALLS wirklich vortrefflich gelungen, die einzigartige Power und Euphorie eines Debütalbums mit der künstlerischen Reife einer Band zu kombinieren, die ihren eigenen Sound in den unendlichen Weiten des Musikkosmos gefunden hat. Es hat sich bezahlt gemacht, dass man zuvor bereits drei EPs veröffentlicht und ein paar Jahre Bühnenluft geschnuppert hat. Einen nachhörbaren Beleg für die riesige Entwicklung der Band liefert der direkte Vergleich der supereingängigen Single “A Crush Is A Crush” mit ihrer drei Jahre zuvor auf der “Springsteen”-EP veröffentlichten Urversion “Tsk Tsk (A Crush Is A Crush)”.

Songperlen wie die 80er-Disco-Pop-Hymnen-Verneigung “Black Maria” oder das mit einem coolen Single-Note-Riff versehene “La Di Da” wirken derart rund und mühelos, dass man neidisch werden könnte. Nachdem sich die Band im kompakten “Sugar Champagne” nochmal von ihrer rockigeren Seite zeigt und die letzten Sekunden des ebenso abwechslungsreichen Beat-Stampfers “It All Started In The Hall…” verklungen sind, gelingt VICTORIAN HALLS im finalen Trio, welches sich aus dem alleine von Carlos Lunas´ Tastenklängen, Akustikgitarre und minimaler Percussion getragenen 90-Sekünder “Lucky 16” und den beiden Alternative-Rockhymnen “Dear, This Is Desperate” (groß!) und “Martini Elegance”(ganz groß!!) zusammensetzt, nochmal eine überraschende und sehr gelungene Wendung.
 
Für aufgeschlossene Freunde der Rockmusik ist “Charlatan” eine ideale Platte, um die eigenen Hörgewohnheiten zu erweitern, für Anhänger perfekt gemischter Pop-Electro-Punk- Alternative-Rock-Cocktails eine Pflichtveranstaltung.  

Veröffentlichungstermin: 19.08.2011

Spielzeit: 39:50 Min.

Line-Up:
Sean Lenart – Vocals / Guitar
Carlos Luna – Piano
Mike Tomala – Drums
Jordan Dismuke – Bass

Gäste:
Rihanna Terrell – Additional Vocals (La Di Da; Dear, This Is Desperate)

Produziert von Cameron Webb und Sean Lenart
Label: Victory

Homepage: http://www.victorianhalls.com

Mehr im Netz: http://www.myspace.com/victorianhalls

Tracklist:
1. Girls Kiss Girls
2. Glass Depth Mood
3. Burn Me Up Like A Wax-Kissed Letter
4. A Crush Is A Crush
5. Black Maria
6. Upper East Side
7. La Di Da
8. Super Champagne
9. It All Started In The Hall…
10. Lucky 16
11. Dear, This Is Desperate
12. Martini Elegance

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