Wenn das Leben eine Carrera-Rennbahn ist, dann waren THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA ein Auto, das plötzlich aus der Spur geriet. Im September 2022 starb David Andersson, Gitarrist und neben Sänger Björn Strid der Hauptsongwriter der Band. Er wurde nur 47 Jahre alt. Offiziell hieß es, psychische Probleme und Alkohol seien die Gründe für seinen Tod. Und auch wenn das vielleicht wie das Klischee eines Rockstars klingt – ‚It’s better to burn out than to fade away‘ –, war Anderssons Geschichte komplexer. Neben seiner Musikerkarriere arbeitete er hauptberuflich als Arzt und war Spezialist für Innere Medizin. Er hatte einen sehr bürgerlichen Beruf.
Der Tod traf ausgerechnet eine Band, die vielleicht wie keine andere für Hedonismus und eine gewisse Leichtigkeit steht. Eine Band, die den unbeschwerten Sound des 80s-AOR mit Flugkapitäns-Mütze und silbern glitzernden Pailletten auf die Bühne brachte. Melodien wie buntes Konfekt, oft begleitet von einem Augenzwinkern – man käme nicht auf die Idee, hier zuerst nach Sucht und Depression zu suchen. Obwohl die Liste der Musiker, die auch in diesem Metier einen frühen Tod fanden, beachtlich ist: Jani Lane von WARRANT oder Steve Clark von DEF LEPPARD, um zwei Beispiele zu nennen.
Die Erben des „Hook-Driven Rock“?
Ich muss an dieser Stelle einen kleinen Exkurs einschieben, um hier einiges richtigzustellen. THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA spielen „AOR Rock“ und kokettieren auch liebevoll mit dem Begriff (Death to false AOR!, so heißt die aktuelle Tour). „Adult Oriented Rock“ also. Nur das ist, ich hatte es an anderer Stelle schon erwähnt, ein ziemlicher Scheißbegriff. Weil er erstens nichts benennt, weil zweitens die wichtigsten Bands des Genres in den 70er und 80er Jahren ebenfalls ein jugendliches Publikum hatten, und weil der Begriff drittens oft abwertend verwendet wurde, um einer Band eine bestimmte Relevanz und Tiefgang abzusprechen.
Um was also geht es hier? Es ist eine Spielart des Rock, die ursprünglich auf Radioairplay zielte, mit einer Überdosis an hymnischen und eingängigen Melodien, aber auch mit ausgefeilten Arrangements und großem musikalischen Können: und einem unabstreitbaren Mitsingfaktor. Ja, es ist in diesem Sinne schon auch gezähmte Musik, aber es hat ihr auch nie geschadet, wenn sie jugendlich ungestüm daher kam, mit einer gewissen Leichtfüßigkeit, mit Singalongs und Attitüde. Bitte erzähle mir keiner, dass BON JOVI oder BRYAN ADAMS in ihren Ursprüngen Daddy Rock waren! Es gab Bravo-Starschnitte, die bevorzugt von weiblichen Fans in ihre Jugendzimmer gehängt wurden.
Aber es gibt ein gemeinsames Moment, und das lässt sich leicht identifizieren, quasi die Faustregel des AOR-Rock: Wenn du den Song nicht mitsingen kannst, dann ist es kein AOR. Alles auf die Hook, alles auf die Melodie! Und deshalb schlage ich hiermit offiziell als Alternative die Genrezeichnung „HDR-Rock“ (Hook-Driven Rock) vor. Ihr dürft mir später danken – oder mir um die Ohren hauen, wie doof das nun wieder ist.
Es gibt einen einfachen Test, um die Qualität eines echten Hook-Driven-Rock-Songs (HDR) zu prüfen:
- Kannst du mit dem Song im Ohr 100-mal die Treppe zum Philadelphia Museum of Art hochrennen wie Rocky Balboa auf dem Weg zum Boxkampf? Check! Wahrscheinlich ein HDR-Song!
- Fühlst du dich großartig, wenn du mit dem Cabrio an der Strandpromenade von Miami (oder Leverkusen) entlangcruist und der Song läuft? Check! Definitiv ein HDR-Song!
- Würdest du im tiefsten Winter bei minus 20 Grad glücklich ein Magnum-Eis essen, während deine Hände langsam blau anlaufen? Check! Das ist ein HDR-Song!
- Du fährst mit deinem BMX und der Boombox zum Sommersee, die Musik voll aufgedreht, während dein Hund hechelnd neben dir läuft und die Leute dir zuwinken? Check! Ganz klar ein HDR-Song!
THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA sind zurück in der Spur
Es geht also bei dieser Art von Musik auch um eine gewisse Leichtigkeit, ein euphorisierendes Moment, um Hedonismus und ein optimistisches Lebensgefühl – und natürlich stellt sich die Frage, ob THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA nach dem schweren Schicksalsschlag daran wieder anknüpfen können und wollen. Das schließt ernste Themen nicht aus (wie etwa die Lebenskrisen-Songs, „No Easy Way Out“ von Robert Tepper, den Strid mit einem Sideprojekt auch gecovert hat – immer mit dem Versprechen, sich am eigenen Schopf wieder aus dem Morast zu ziehen). Trotzdem: Ist der Motor noch intakt? Kann das Orchester noch zum Nachtflug abheben?
Den vakanten Posten an der zweiten Gitarre hat seit 2022 Rasmus Ehrnborn inne, der bisher vor allem als Sessionmusiker in Erscheinung trat, aber auch bei SOILWORK Bass spielt. Und obwohl die Gitarren hier nicht im Vordergrund stehen, sondern gleichberechtigt neben den anderen Instrumenten, braucht es für diesen Sound zwei Gitarren. Die doppelläufigen Harmonien und melodischen Akkordfolgen sind ein prägendes Element, und zusammen mit Sebastian Forslund sorgt Ehrnborn nun für die Riffs und Leads.
Will man über die neue TNFO sprechen, so muss aber dringend ein weiter Akteur hervorgehoben werden: Keyboarder John Lönnmyr, seit 2020 mit an Bord. Noch nie waren die Keys auf einem Album der Band so präsent, noch nie setzten sie derart Akzente: und das ist absolut positiv gemeint.
Lönnmyr ist kein Musiker, der einfach einen Song mit Teppichen zukleistert. Er setzt seine Tasteninstrumente höchst variabel und geschmackvoll ein, zaubert eigene Leadharmonien, oft wechselt sich sein Spiel mit den Gitarren ab, als würde es auf die Akkorde antworten oder diese kommentieren. Und natürlich ist der Sound analog und Vintage, kein Billigschrott: wir reden von einem Musiker, der aus dem Jazzbereich kommt. Und ja, es gibt auch diese typischen Fanfaren, die cineastischen Sounds, die bombastischen Momente. Müssen wir hier betonen, dass einer der bekanntesten Songs des Genres, EUROPEs „The Final Countdown“, von seinen markanten Synth-Fanfaren lebt?
Dann wären da noch die beiden Girls als Teil der Crew, die mit ihren Background-Gesängen für den richtigen Zartschmelz sorgen: Anna Brygard und Åsa Lundman. Sie sorgen dafür, dass die Refrains und Strophen auch ja nicht ihre Wirkung verfehlen. Gemeinsam mit Björn Strids kraftvollem und angenehmem Bariton kommt hier nicht selten ein leichtes 70s-Pomprock-Feeling auf, das aber auch mal in Richtung Soul oder 80s-Wavepop (HEAVEN 17! BRYAN FERRY!) abbiegen kann. Zu subtil soll es ja nun auch nicht zugehen.
Wer jetzt an Bord kommt, wird feststellen, dass die Markenzeichen der letzten sechs Alben alle noch da sind: die euphorischen Uptempo-Songs, die Disco-Grooves und die extrem eingängigen, teils leicht süßlichen Harmonien. Doch wenn nun in manchen Rezensionen zu lesen ist, die Band würde sich wiederholen (auf den beiden vorherigen „Aeromantic“-Alben konnte man schon den Eindruck gewinnen), so trifft das hier eben nicht zu. Es gibt leichte Verschiebungen im Sound, die dominanteren Keyboards habe ich bereits erwähnt. Was jedoch besonders auffällt, ist die enorme Detailverliebtheit in den Arrangements: bis ins letzte Detail ausgereift und voller Ideen, die sich – trotz aller Eingängigkeit – vor allem in den instrumentalen Passagen widerspiegeln.
Die Songs stecken voller liebevoller Details
Natürlich ist auch vorliegendes Werk „Give Us The Moon“ wieder eine komplette 70s/80s-Retronummer. Wir fliegen von Helsingborg ins New York der 80er Jahre, um in SoHo Graffiti an Wände zu sprühen und die neueste Kollektion von Vivienne Westwood zu begutachten. Dann geht’s ins Tokio der 70er, um durch die neonbeleuchteten Straßen von Shibuya zu schlendern, in den ersten Elektronikläden die neuesten Synthesizer zu entdecken und in den Underground-Clubs den Sound von Yellow Magic Orchestra zu erleben. Und schließlich landen wir in Berlin, wo die Mauer das Stadtbild prägt – und wir mit DAVID BOWIE und IGGY POP am Küchentisch sitzen. Klar: Stilistisch winken Acts wie SURVIVOR, KENNY LOGGINS oder die unterbewerteten TOTO verlegen herüber.
Aber wer TNFO darauf reduziert, übersieht, welch bunte Torte sie uns hier auf Rollerblades servieren. Im begeisternden ‚Miracolous‘ gibt es eine absolut fantastische E-Piano-Akkordfolge, über die sich schnittige FOREIGNER-Gitarren legen, während das Schlagzeug von Jonas Källsbäck tight, trocken und tanzbar groovt (überhaupt eine Stärke des Albums: das variable, mit allerlei Percussion und Raffinessen versehene Schlagzeugspiel!). Im Mittelteil wechseln sich melodische Gitarrenharmonien mit einem Keyboardsolo ab, das an den futuristischen 70er-Progrock von ELP erinnert. Der Refrain ist erstklassiges Ohrenfutter und schmiegt sich tief in die Gehörgänge.
‚Paloma‘ ist dagegen ein zuckersüßer, melancholischer Song, der jede 80er-Romanze mit Richard Gere und Julia Roberts hätte untermalen können – ein Song über eine toxische Beziehung zwischen einem Flugkapitän und einer betrogenen Frau. „Du siehst dein Spiegelbild in den Sternen der Nacht, die Angst bleibt, bis du ihn hinter dir lässt – eine falsche Wüstenblume am dunklen Sommerhimmel – Oh-oh-oh – Es gibt eine Zukunft, an die es sich zu glauben lohnt – Oh-oh-oh – Schau nach vorn, Paloma, lass es auf dich wirken“.
Heavy Rock und Psychedelic!
Cosmic Tide kommt als nervöser Psychedelic-Banger daher, das melodische Tingeltangel-Keyboard begleitet einen Bass, der sich über ungerade, leicht stolpernde Rhythmen windet. Auch hier zaubern die Tasten ein Progrock-Gedächtnissolo, während das Schlagzeug vorantreibt und wirbelt, der Song wiederkehrend Wendungen nimmt. Manchmal erinnert mich das Key-Spiel auch leicht an GENESIS in eben jener Phase, als sie noch Prog waren, aber schon in Richtung Pop schielten: Wer hat „That’s All“ noch im Ohr?
‚Melbourne, May I‘ ist ein erstklassiger Hardrocker, der WHITESNAKE Anfang der 80er Jahre hervorragend zu Gesicht gestanden hätte, mit tollen, melodischen Riffs und prägnanten Keyboard-Akkorden. Ganz anders ‚A Paris Point of View‘ , eine reinrassige 70s-Diskonummer mit Studio 54-Flair und einem Synthie-Basslauf, bei dem Giorgio Moroder sicher nichts auszusetzen gehabt hätte. Wir schnippen mit den Fingern, proben den Electric Slide, und alle schauen sich an, wie gekonnt wir in Stilettos tanzen, während das Hemd glänzt und sich Schweißflecken am weißen Jackett bilden.
‚Like The Beating Of A Heart‘ funktioniert ganz ähnlich – eine Diskonummer, die hörbar vor „I Was Made for Lovin’ You“ von KISS den Hut zieht. Doch im Gegensatz zu jenem Song (sorry, KISS-Fans) klingt dieser hier nicht so komplett vollscheiße. Besonders, weil die unsäglichen „Huuuhuuhuuhuuuu“-Chöre, die jede Ü-50-Party in eine nach Bier müffelnde Hölle verwandeln, glücklicherweise fehlen. Stattdessen bringt der Song, wenn auch mit einem Hauch Discofox, eine Prise Latino- und Calypso-Vibes ein, die Schlagzeuger Källsbäck geschickt einstreut. Muss man mögen.
Bittersüße Momente, gescheiterter Eskapismus
Die gewohnt bittersüßen Überhymnen mit catchy, supercatchy Schokostreusel-Melodien dürfen natürlich auch nicht fehlen: mal flott und nach vorn preschend wie im Opener „Stratus“ oder dem folgenden „Shooting Velvet“, die bunter funkeln als die Auslagen im Candyladen. Oder mal getragener im Titeltrack, der mit einem unverschämt einschmeichelnden Prechorus ausgestattet ist und sorgfältig getextet. Strid serviert uns in seinen Texten ja keineswegs banalen Partykram – im Gegenteil. Immer wieder schimmern nachdenkliche und zweifelnde Momente durch, die von der rauen Realität zeugen. Nachts wach liegen, grübelnd, nicht einschlafen können, auf düstere Zeiten zurückblicken – und Veränderung einfordern. Und so heißt es:
Gib uns den Mond, er ist unsere einzige Rettung
Es sollte bald sein, denn die Sonne kommt danach
Gib uns den Mond und die richtige Medikation
Oft geht es ums Reisen, Strid gibt den Beobachter und Flaneur, auch den Suchenden, es geht um Romanzen und süßen Eskapismus, der nicht von Dauer ist, auch Entfremdung ist ein wiederkehrendes Motiv. Wir bewegen uns mit Strid in den Metropolen, den Rollkoffer stets hinter uns herziehend, wir daten die falschen Frauen und Männer, finden Trost in einer flüchtigen Umarmung. „Melbourne, alles, was ich will, ist mich lebendig fühlen,/ Ich bin tausend Meilen geflogen, nur um die Sache geradezurücken/ Die Heilung ist wertvoll, auch wenn sie mich blind macht,/ Und ich komme immer wieder genau rechtzeitig zurück./ Melbourne, darf ich?“ Verlockung und Verheißung, die im nächsten Aufbruch und in der nächsten Suche mündet.
So gibt es auf dem neuen Album von NIGHT FLIGHT ORCHESTRA diesmal von allem mehr: mehr eingängige Refrains und mehr Hooks, mehr Euphorie und Melancholie, mehr Pop und Disko, mehr Detailfreude in den Arrangements. Es gibt hier schlicht mehr zu entdecken als auf vorherigen Alben. Stagnation sieht anders aus – und endlich zünden auch die Refrains wieder, die auf vorherigen Alben manchmal ein bisschen erzwungen klangen. Oft werden die einschmeichelnden Melodien getragen von einem staubtrockenen, hart groovenden Hard-Rock-Groove: auch das findet man so vielleicht nicht bei den Vorbildern. Saßen NESTOR soeben noch auf dem AOR-Thron? Vielleicht müssen sie nun wieder Platz machen.
Veröffentlichungstermin: 31.01.2025
Spielzeit: 58:57
Line-up:
Björn Strid – Vocals
Sharlee D’Angelo – Bass
Jonas Källsbäck – Drums
Sebastian Forslund – Guitar, Percussions
John Lönnmyr – Keys
Rasmus Ehrnborn – Guitar
Anna Brygard – Backing Vocals
Åsa Lundman – Backing Vocals
Label: Napalm Records
Facebook: https://www.facebook.com/thenightflightorchestraofficial
THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA „Give Us The Moon“ Tracklist
1. Final Call (Intro)
2. Stratus
3. Shooting Velvet (Video bei YouTube)
4. Like The Beating Of A Heart
5. Melbourne, May I?
6. Miraculous
7. Paloma (Video bei YouTube)
8. Cosmic Tide
9. Give Us The Moon (Lyrics-Video bei YouTube)
10. A Paris Point Of View
11. Runaways
12. Way To Spend The Night (Video bei YouTube)
13. Stewardess, Empress, Hot Mess (And The Captain Of Pain)