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TARJA: In The Raw

TARJA mag man oder eben nicht, so viel mehr Raum bleibt dazwischen eher nicht. Immerhin gilt die Finnin als Sinnbild all dieser zahllosen Operesken Symphonic-Diven. Spätestens seit dem letzten Album „The Shadow Self“ sollte TARJA auch den ewigen Stempel „Ex-NIGHTWISH-Sängerin” los sein. Was man diesem Album bei aller Klasse je nach Geschack ankreiden konnte, ist die zu große, zu breit ausgelegte Produktion. Die Sängerin selbst ist da fast untergegangen und wurde reduziert zu Teil des Ganzen. Keine Ahnung, ob sie das auch so sieht, das neue Album soll deutlich zurück gehen. Weniger aufgeblasene Produktion, mehr TARJA als Persönlichkeit, ausgefeilte Songs im vertrauten Team, und ganz viel Raum halt für TARJA selbst, die in ihren Texten viel von sich Preis gibt. Selbst dem Promo-Paket liegen diese bei, sie scheinen ihr sehr wichtig zu sein. Aber auch die besten Texte brauchen Musik, und die gibt es auf dem passend betitelten „In The Raw“ auch. Kontraste wurden angekündigt, und die gibt es durchaus.

TARJA liefert mit „In The Raw“ durchaus ein Album der Kontraste

Der Opener „Dead Promises“, bereits im Vorfeld als Appetizer veröffentlicht, rockt gleich energisch nach vorn. Eine kuschelige Melodie, der Refrain setzt sich catchy ins Ohr. Hier nun gibt es passende Vocals von Björn „Speed“ Strid (u.a. SOILWORK, THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA) dazu, ein stimmiges Duett. Auch wenn es mit viel „Ahahaa“-Gezirpe natürlich Klischeekitsch gibt, überzieht es TARJA nicht sofort mit Ausflügen in höchste Tonlagen. Auch der Sound klingt gewohnt gut, aber nicht so überladen wie zuletzt. Beim groovigen „Goodbye Stranger“ gibt es ein ebenso stimmiges Duett mit LACUNA COILs Cristina Scabbia. Die Klangfarben der Ladies passen super zusammen. Irgendwann tauschen sie die Gesangslinien, arbeiten gewollt etwas gegeneinander, passt. Da steht sicher die nächste Single an.

„Tears In The Rain“ kommt als Mix aus poppigem Schunkel-Rock und Modern Rock, wohingegen die Anfangsmelodie nach einem kurzen CLAWFINGER-Auftakt überraschend erwarten lässt, nun DAVID BOWIEs „Let´s Dance“ zu hören. Der poppige Refrain setzt sich sofort fest. Wenn der Song zur Mitte hin kurz zum Thunderstorm wird mag man schnunzeln. Ihr oft eigenwilliges Stageacting mag hier recht lustig aussehen. „Railroads“ ist eine typische, balladeske Schunkelnummer, hier kratzen die Melodien und der opereske Refrain sehr an der Kitschgrenze. Letztendlich baut sich der Song immer weiter auf. Echte TARJA-Fans wird es entzücken, Freunde harter Klänge ergreifen besser die Flucht.

„In The Raw“ startet mit knackigen, griffigen Songs durch

Mit dem nächsten Song geht das durchaus energisch startende Album gnadenlos in die Vollbremsung. „You And I“ geht noch weiter zurück, zeigt sich als sehr ruhige, nachdenkliche Pianoballade mit Streichereinlagen. Bilder von dramatischen Szenen im Showdown eines noch nicht gedrehten Disney-Films machen sich breit. Aber auch die Erkenntnis, dass hier sehr viel späte, theatrale ABBA drin stecken. Wo andere jetzt spätestens einen Earcatcher setzen würden, fordert uns TARJA noch mehr. „The Golden Chamber“ erzählt in drei Teilen seine Geschichte, die ebenfalls Soundtrack-Charakter hat. Ruhig und episch baut sich das Epos auf, Elfenhafter Singsang lässt an eine Fantasygeschichte denken, der zur Mitte kurz aufkommende finnische Gesang lässt dezent keltische Linien erkennen. Es lohnt sich, die ruhigen Songs gezielt anzuhören. Aber hier in der Mitte plaziert bremsen sie das Album komplett aus. Das folgende „Spirits Of The Sea“ schiebt zwar wieder eine knurrige E-Gitarre ein, zeigt sich aber als sehr dunkler, depressiver Song. Vielleicht als düsterster Song, den TARJA bisher gemacht hat.

TARJA fordert uns mit vielen ruhigen Songs zum Zuhören auf

Als dann auch „Silent Masquerade“ mit ruhigen Pianoklängen und Spoken Words anfängt, ist dann fast ganz die Luft raus. Aber nein, ein wenig schiebt der Song und zeigt sich als sich aufbauendes Duett mit Tommy Karevik (KAMELOT, SEVENTH WONDER). Beide Stimmen passen harmonisch zusammen, der Song baut sich auf zu einem schmissigen Groove-Rocker, um sich zum Schluss doch nochmal anzukuscheln. Wer bis zu „Serene“ gekommen ist, der bekommt einen schunkeligen Symphonic-Song, der aber recht sperrig rüber kommt. „Shadow Play“ packt als Abschluss nochmal alle Klischees zusammen, für die TARJA steht und letztendlich ein ganzes Genre.

Es gibt die üblichen TARJA-Klischees, aber auch weitaus mehr

Dann landet man wieder bei „Railroads“, diesmal unter dem Kopfhörer, und verfolgt die vielschichtigen Stimm- und Gesangslinien. Ob sie dies live so umsetzen kann? Auch und gerade die Songs, die auf den ersten Blick das Album ausbremsen, zeigen hier eine ganz andere Größe. Den Arrangements zuzuhören, zu erkunden, welche Wege man geht, um den persönlichen Vocals ein stimmiges Fundament zu geben, auf dem TARJA ihre Stimme auslebt – da steckt weitaus mehr drin, als erste oberflächliche Durchgänge im Autoradio vermuten lassen. Vom Promostick ist bis auf die ersten drei Gute Laune-Bringer schnell alles rausgeflogen. Nun also sitzt man unter dem Kopfhörer und lauscht konzentriert „You And I“ und ist sich bewusst, dass „In The Raw“ kein Album für mal eben nebenher Hören ist. Klar gibt es die üblichen TARJA-Klischees, aber eben auch weitaus mehr.

Ein echtes Goldstück, dass erst etwas Feinarbeit bzw. Hinhören braucht, um zu glänzen

Der Albumtitel „In The Raw“ sowie die Farbgebung des Frontcovers beziehen sich auf das Element Gold und seinen Rohzustand. TARJA erklärt dies so: „Wir halten Gold für etwas Glänzendes und Perfektes, für Luxus und etwas Kultiviertes – aber in seinem natürlichen Zustand ist Gold ein rohes Element.“ Dies sei auf die Musik ihres neuen Albums übertragbar: Feine und geschliffene Elemente treffen auf einen rohen Kern. Das trifft es sehr gut! Passend zum edlen musikalischen Gesamtwerk kommt auch die wirklich geschmackvolle Aufmachung des als Erstauflage erscheinenden Digi-Pack. Natürlich durchzieht die Farbe Gold das Layout. Es gibt geschmackvolle Bilder, und noch mehr davon im hübschen Booklet, das auch die Texte enthält. Das Ganze finden wir in einem Pappschuber, dem mehrere Karten inneliegen. Die man aber nicht durcheinander bringen darf, sonst stimmt das Gesamtbild nicht. Bei den ersten Durchläufen von „In The Raw“ hab ich immer gedacht, man hätte doch die knackigen Songs in die erste Hälfte packen sollen und den langsamen Kram nach hinten. Aber dann stimmt das alles nicht mehr, wie bei den Karten. Dreht man sie dann um tragen sie den Namen TARJA, so wie das ganze Album, dass genau so stimmig ist.

Wer bei TARJA an Kitsch-Metal denkt, der sollte hier richtig hinhören. Ein sehr starkes Album mit faszinierenden Songs, denen man erst etwas Aufmerksamkeit gönnen muss. Mögen die ersten Songs jeden Fan bedienen, so fordert TARJA dann reichlich Aufmerksamkeit. Und die verdient dieses Album. Wer hingegen mit TARJA bisher nichts anfangen konnte, nun ja, der liest das hier eh nicht mehr.

Veröffentlichung: 30.08.2019

Spielzeit: 57:26 Min.

Lineup:
Tarja Turunen – Vocals, Piano
Björn Strid – Vocals (1)
Cristina Scabbia – Vocals (2)
Tommy Karevik – Vocals (8)
Alex Scholpp – Guitar, Bass, Keyboards, Vocals, Drum Programming
Tim Palmer – Guitars, Spoken Words, Keyboards, Percussion
Tim Schreiner – Drums
Julian Barrett – Guitar, Drums Programming, Recording Engeneer
Kevin Chown – Bass
Doug Wimbish – Bass
Peter Barrett – Bass
Carlinhos Brown – Percussion
Thiago Pugas – Percussion
Anders Wollbeck – Keyboards, Programming
Christian Kretschmar – Keyboards
Johnny Andrews – Keyboards
Erik Nyholm – Keyboards
Bart Hendrickson – Keyboards, Programming, Ambient Music, Orchestral/Chor-Arrangements
James Dooley – Keyboards, Programming, Ambient Music, Orchestral/Chor-Arrangements

Produziert von Tarja und MIC

Label: earMUSIC / Edel

Homepage: http://tarjaturunen.com

Mehr im Web: https://de-de.facebook.com/tarjaofficial

Die Tracklist von „In The Raw“:

1. Dead Promises (mit Björn „Speed“ Strid) (Lyric-Video der Single-Version bei YouTube)
2. Goodbye Stranger (mit Cristina Scabbia)
3. Tears In Rain (Video bei YouTube)
4. Railroads (Video bei YouTube)
5. You And I
6. The Golden Chamber: Awaken / Loputon Yö / Alchemy
7. Spirits Of The Sea
8. Silent Masquerade (mit Tommy Karevik)
9. Serene
10. Shadow Play

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