Zunächst eine Entschuldigung. Ich weiß, das neue Album von BLOOD INCANTATION ist schon einige Wochen auf dem Markt. Und dass es wahrscheinlich Klassikerstatus hat, vielleicht das Album des Jahres ist, das konntet Ihr schon woanders nachlesen. Mein Fehler: kurze Arbeitslosigkeit, neuer Job, solche Sachen. Ich war auf einem Raumschiff der Deutschen Bahn unterwegs und bin aufgrund einer Signalstörung in die falsche Galaxie abgebogen. Ihr wisst, solche Sachen können passieren.
Aber übergehen können wir dieses Album nicht. Dafür ist es zu funkelnd, zu mächtig – und ja, ein im Death Metal selten gebrauchtes Wort – zu schön. Vielleicht gibt es da draußen den einen oder anderen Jediritter, einen Zuspätgekommenen, der noch nichts von der Existenz dieses Albums mitbekommen hat. Hey, verlorener Astronaut, ich schreibe diese Rezension nur für dich. Flieg dein Raumschiff in die Schrottpresse, setz dich ans lodernde Feuer – und lausche. Öffne deine Ohren ganz weit.
BLOOD INCANTATION suchen den Glanz des Hansa-Studios
Zunächst zu den nüchternen Fakten. Absolute Elsewhere ist das mittlerweile vierte Studioalbum von BLOOD INCANTATION. Es besteht aus zwei Songs, „The Stargate“ und „The Message“, jeder über 20 Minuten lang, unterteilt in drei Teile. Die Band betont allerdings, dass diese Songs als ein geschlossenes Ganzes zu verstehen sind, als Einheit und musikalische Reise, als Yin und Yang. Die Unterteilung erfolgte nur, um sie für Hörer zu optimieren. Ihr wisst: Geld wirft ein Song bei Spotify und Co. ab, wenn er für mindestens 30 Sekunden gestreamt wird. Überlange Songs können sich da als finanzieller Selbstmord erweisen.
Schon die Wahl des Studios zeigt, dass die Band Großes im Sinn hatte. Einen ganzen Monat lang war sie in den legendären Hansa-Studios in Berlin zu Gast – nicht irgendein Studio, sondern eines mit Geschichte und Charakter. DAVID BOWIE, BRIAN ENO, NICK CAVE und DEPECHE MODE haben hier Klassiker aufgenommen, ebenso Krautrock-Bands. Das Equipment ist analog und vintage, das Mischpult riesig und massiv. Hier, zwischen Holzwänden und alten Röhrenverstärkern, Mikrofonen aus den 70ern und Wänden voller Graffiti, öffnet der Vierer sein Sternentor.
Der Aufwand hat sich gelohnt, denn die Produktion von Arthur Rizk ist meisterhaft. Die Blastbeats klingen tatsächlich brutal und druckvoll, nicht nach Nähmaschine wie so oft. Die sphärischen Klänge greifen Raum, die einzelnen Instrumente sind differenziert und klar in Szene gesetzt. Eine ähnlich gut ausbalancierte Produktion findet man sonst oft nur im Jazz-Bereich.
Kurzer Exkurs: Todesstern im Weihrauch
Dass der Sound von BLOOD INCANTATION auch vintage ist, lässt sich nicht leugnen. Sie öffnen Gräber und Gruften, in denen schon andere gewildert haben. Die majestätischen Riffs, disharmonischen Soli und brachialen Rhythmen entnehmen sie dem Death Metal der 90er Jahre, von Bands wie MORBID ANGEL und PESTILENCE. Hier finden sie das Düstere und Abgründige, die Aggressivität und das exzessive Rasen.
Die anderen Zutaten für ihren musikalischen Aberwitz wurden sogar noch früher etabliert, im mystischen Geist der 70er Jahre. Sie nehmen die sphärischen Momente von Ambient, Prog und Krautrock, das Zerfließende und Pulsierende, das Raum greift und sich in weichen Farben auflöst. Die Konturen verschwinden, der Raum atmet. Es gibt durchaus ein mythisches Moment in der Musik von BLOOD INCANTATION, Weihrauch und Myrrhe.
Der besondere Twist des Vierers aus Denver besteht darin, dass er diese mystischen Momente nicht isoliert nebeneinanderstellt, sondern sie in die gnadenlose Logik des Death Metal überführt. Wo die Wahrnehmung zu verschwimmen beginnt und die Konturen zerfließen, entstehen nicht nur Ekstase und Rausch – dort lauert auch der Abgrund. Die Frage „Was ist der Mensch und wo ist sein Platz?“ ist nicht nur im metaphysischen, sondern auch im wissenschaftlichen Sinne bedrohlich. Denn unweigerlich wird der Mensch mit der Endlichkeit seines Daseins und den Grenzen seines Wissens konfrontiert.
Diese Erkenntnis führte dazu, dass sich seit Mitte der 90er Jahre eine eigene Traditionslinie innerhalb des Death Metal herausbildete. Wo sich die frühen Vertreter noch stark auf satanische Images stützten, damit auch auf den Aberglauben des Mittelalters, wendeten sich die neuen Bands nun dem Teleskop zu. Sie thematisieren den Kosmos, Evolutions- und Erkenntnistheorie und treten nicht mit Streitaxt, sondern mit Kittel in die Knochenberge. Sie sind keine Jünger Satans, sondern Zeugen Albert Einsteins. Denn der Kosmos erscheint für Atheisten ebenso bedrohlich wie der Tod – mit seinen schwarzen Löchern, seiner chaotischen Unvorhersehbarkeit und seiner unerforschten Tiefe.
Seid ihr noch da? Es ist wichtig, zu betonen, dass hier keine gegensätzlichen, sondern vielmehr ergänzende Elemente zusammenkommen. Der technologische Ansatz spiegelt sich in den komplexen, präzise durchdachten Strukturen des Prog wider. Bei BLOOD INCANTATION hat man eher das Gefühl, dass jeder Song einer detaillierten Partitur folgt, statt dass hier einfach wild gejammt wird. Sie treten als würdige Erben und Weggefährten von Bands wie NOCTURNUS, PESTILENCE (besonders auf Spheres), OBSCURA, DEMILICH und GORGUTS auf – Pioniere des Cosmic Death Metal, die das Feld vor ihnen ausgelotet haben.
Unüberhörbare Erzähl- und Abenteuerlust
BLOOD INCANTATION wenden diesen Ansatz jedoch nicht ins Fatalistische. Sie sind Abenteurer – das hört man nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in ihren Texten. In ihren Klängen steckt eine spürbare Neugier, die Lust auf unerforschte Regionen, das Streben, Neues zu entdecken. Es ist auch die Freude am Erzählen, dieses futuristische Science-Fiction-Element, das dem Genre seit jeher innewohnt. Und das alles wird mit einem Selbstbewusstsein präsentiert, das fast greifbar ist.
Nein, an mangelndem Vertrauen in ihre Fähigkeiten leidet die Band keineswegs. Sänger und Gitarrist Paul Riedl betont im Interview mit Deaf Forever: „Absolute Elsewhere ist ein Album, von dem wir glauben, dass es die Zeit überdauern und auch in 30 Jahren noch relevant sein wird.“ Manche mögen das als überheblich empfinden, vielleicht sogar ein wenig „Babo“-haft. Doch letztlich sind es leidenschaftliche Nerds mit einer unverkennbaren Liebe für Musik und alles Obskure – die Elon Musks des Death Metal, nur um einiges sympathischer und korrekter.
Wie nähert man sich diesem Album?
Wie nähert man sich diesem Album? Der Opener startet mit einem fiependen Synthesizer, bevor jazzige, ungerade Takte einsetzen. Dann übernimmt progressiver Death Metal mit dissonanten Leads – es fühlt sich an, als würde ein Raumschiff von der Startrampe abheben. Plötzlich: Blastbeats. Die Reise beginnt, aber wir bleiben noch auf der Oberfläche. Die Musik beschreibt sich kaum mit Worten.
Der Text selbst entführt in eine düstere, bedrohliche Welt voller Gefahren, in der das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit widerhallt. Ein nächtliches Szenario, das genauso gut auf einem fremden Planeten wie auf der Erde spielen könnte. Oder ist uns die Erde selbst fremd?
Eine Kammer, widerhallend vom Staub,
der durch Lichtstrahlen schwebt.
Schatten werfen sich auf die Steine,
Tempeltüren offenbaren die Nacht.
Eine gewaltige Kraft steigt unter dem Gewicht der Sterne,
erstickende Dichte im Schacht der Gravitation.
Ihr merkt es sofort: Hier passiert unglaublich viel gleichzeitig. Nach etwa drei Minuten taucht ein wunderschöner Moment auf, der stark an den Prog-Rock der 70er erinnert – sphärisch, sanft und umhüllend. Ein Synthesizer-Solo setzt ein, dessen Melodie bald von der Gitarre übernommen wird. In diesem Abschnitt zeigt sich die Band von ihrer melodieverliebten Seite, gönnt dem Hörer eine Atempause. Das Raumschiff schwebt ruhig durch kosmisch erleuchtete Weiten, das Schlagzeug groovt dezent. Doch diese Ruhe währt nicht lange. Der Death Metal kehrt zurück, und nach sechs Minuten folgt ein Riff, das so gut ist, als hätte Chuck Schuldiner es selbst geschrieben. Blastbeats setzen ein, begleitet von bedrohlichem Growlen – und das Ringen mit der metaphysischen Leere:
Alles Leben ist Leiden,
Das sich im Nichts sonnt.
Alles Leben ist vergänglich,
Was bleibt, ist das Bewusstsein.
Absolut Elsewhere hat einen kompositorischen Faden
Dass all dies nicht auseinanderdriftet oder gar supernovaartig explodiert – die Vielfalt an Takten, Rhythmen, Stimmungen und Einflüssen – hat vielleicht einen einfachen Grund: Die beiden Songs besitzen einen klaren erzählerischen Faden. Ein kompositorischer Kompass, der die vielen Elemente zu einer stimmigen Einheit verbindet. Nichts wirkt chaotisch oder überladen. Alles ist präzise durchdacht, die Übergänge sitzen genau an den richtigen Stellen. Musikalische Spiegelungen und Kontraste fügen sich nahtlos ineinander, ohne den Hörer je orientierungslos zurückzulassen. Hier drin steckt viel Detailarbeit – oder, pathetischer gesagt: viel Hingabe und Liebe.
Denn BLOOD INCANTATION sind ja wirklich auch Fans. Stolz erzählen sie, wie es ihnen gelang, musikalische Vorbilder ins Studio zu holen. So etwa Thorsten Quaeschning, der nach Edgar Froeses Tod das Werk der deutschen Ambient-Pioniere TANGERINE DREAM weiterführt. Auf dem zweiten Teil von ‚Stargate‘ steuert er quirlige und wabernde Synth-Sequenzen bei, geheimnisvoll untermalt von hallenden Sprach-Samples aus fernen Räumen. Das Spiel mit Nähe und Weite beherrschen BLOOD INCANTATION meisterhaft. Echoräume und widerhallende Klänge umkreisen den Hörer, dringen tief in den Magen und entfernen sich wieder.
Niklas Malmqvist von den Retro-Rockern HÄLLAS bringt mit Mellotron, Orgel und Keyboards die Klänge der 70er direkt ins Hier und Jetzt. Das zeigt, wie tief die Death Metaller in den musikalischen Geist dieser Ära eintauchen – sei es in der Komposition, im kreativen Umgang mit Sound oder im Mut, das Schräge und Ungewöhnliche zu verweben. Doch sie machen daraus keinen starren Bauplan, sondern nutzen diese Einflüsse als Spielwiese für neue Experimente. Sie bauen sphärischen Klargesang in ihre Songs, auch mal ruhige, fast hippieske Momente, kontrastieren Brutalität mit Schönheit.
Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?
Und die Natur des Bewusstseins?
Das Geheimnis ist gelüftet worden
Durch den Tanz der Natur, den leisen Gesang der Vögel
Vor Lebenszeiten tauchten die ersten Fragen auf
Nach dem Anstoß des Gedankens
Wenn ich hier überall bin
Was ist das Alles da draußen?
Und mit einem Mal war die Leere geboren
Die Dynamik der Songs folgt keinem starren Muster
Es scheint, als gehe es der Band in den komplexen Momenten weniger um Virtuosität als um das Erzeugen von Stimmungen und Atmosphären. Mal lassen sie die Gitarren schwer und quäkend wie ein Raumschiff in der Hochdruckzone ächzen, dann wieder schwellen die Melodien strudelhaft an oder ebben ab – mit der Wucht eines Orkans oder sanft schwebend, als hätten sie die Schwerkraft überwunden. Sie tauchen in ungewöhnliche Harmonien ein und zitieren gleichzeitig bekannte Muster: Deutliche Anklänge an DEATH und andere Extreme-Ikonen, aber auch an legendäre Prog-Rock-Bands wie ELOY, PINK FLOYD oder POPOL VUH.
Die Dynamik der Songs – die Abfolge von lauten und leisen Momenten, harmonischen und disharmonischen, aber auch von cineastischen, metaphysischen und kulturübergreifenden Elementen (wie arabischen Skalen und Gongs) – bleibt dabei oft unvorhersehbar, weil sich ihre Logik aus dem Makrokosmos der beiden Songs ergibt und ihre einzelnen Teile entsprechend vorausschauend komponiert sind. Nein, das ist nicht zu verkopft, das ist klug strukturiert – so wie auch ein Regisseur die einzelnen Fäden seiner Geschichte gut anordnen muss, wenn er mit mehreren Erzählsträngen und Zeitebenen arbeitet. Das ist Death Metal in selten gehörter Perfektion.
Veröffentlichungstermin: 04.10.2024
Spielzeit: 43:43
BLOOD INCANTATION Lineup:
Paul Riedl – Guitars, Vocals
Isaac Faulk – Drums
Morris Kolontyrsky – Guitars
Jeff Barrett – Fretless Bass
Label: Century Media Records
BLOOD INCANTATION “Absolute Elsewhere” Tracklist
1. The Stargate (20:20) (Video bei YouTube)
2. The Message (23:23)